Tichys Einblick
Ehemaliger NATO-Radiochef in Afghanistan

„Jeder Cent, der nach Afghanistan fließt, ist ein verlorener Cent“ – Nicolas Scheidtweiler im Interview

Für die Bundeswehr war Scheidtweiler im Krisengebiet - im Interview zeigt er die strukturellen Ursachen des Afghanistan-Desasters auf. Es geht um falsche finanzielle Anreize und weltfremde Themensetzung. Er prophezeit: "Die Chinesen werden es uns vormachen."

Heute als PR-Berater tätig, war Nicolas Scheidtweiler 2006 und 2007 als Bundeswehrsoldat in Afghanistan im Einsatz und leitete dort u.a. einen Radiosender für die NATO. Im Interview mit TE reflektiert er seine Zeit in Afghanistan, erzählt seine Erfahrungen mit der Bevölkerung und bilanziert das westliche Engagement an Ort und Stelle.

Tichys Einblick: Herr Scheidtweiler, Sie waren in Afghanistan als Soldat der Truppe für Operative Information im Einsatz und haben dort u.a. den NATO-eigenen Radiosender geleitet. Wie darf der Leser sich das vorstellen? Was war ihre Mission dort?

Nicolas Scheidtweiler: Unsere Abteilung, die Combined Joint Psychological Operations Task Force, war verantwortlich dafür, die operativen Jahres- und Kampagnenpläne der ISAF in kommunikative Botschaften für die unterschiedlichen Zielgruppen im Einsatzland, also die Afghanen unterschiedlicher Regionen, unterschiedlicher Stämme und Sprachen, herunterzubrechen.

Ich war in zwei Einsätzen Chefredakteur des Radiosenders mit rund 30 afghanischen Redakteurinnen und Redakteuren.
Die Dachmarke unserer Medien hieß Sada-e-Azadi, Stimme der Freiheit. Unsere dreisprachige Zeitung hatte zu meiner Zeit eine Auflage von 300.000 Exemplaren, wir hatten damals schon Internet, TV-Spots und wir hatten Radiosender, die in verschiedenen Regionen Afghanistans aufgebaut werden sollten. Es war allerdings nur schwer möglich, die in der Breite wenig alphabetisierte Bevölkerung mit den Inhalten und den Botschaften zu erreichen. Die Bevölkerung war informationstechnisch ausgeschlossen von dem, was wir in Kabul, in Masar-e Scharif und anderen Orten produzieren konnten.

Meine Aufgabe war es u.a. Radiosender und -standorte zu finden, die wir dann im Süden und Osten einsetzen konnten, um unsere Themen zu verbreiten. Es ging um Sachbotschaften; je nach Kampagne oder auch je nach Jahreszeit um Themen wie Frauenrechte, Mädchenrechte, Kinderrechte, Vertrauen in die Demokratie, Abgabe von Waffen, darum Drogenanbau zu verhindern und vieles mehr.

Nun haben Sie ja auch viel mit Menschen aus der Region zusammengearbeitet, den aktuell viel diskutierten Ortskräften. Was war Ihr Eindruck?

In der Vorbereitung der Bundeswehr und NATO hieß es, das wären alles Superprofis. Als ich dann das erste Mal vor Ort war, habe ich festgestellt, dass es tatsächlich nicht so einfach ist, mit den Ortskräften zu arbeiten. Es ist einfach so, dass bei vielen eine hohe Emotionalität herrscht. Hierarchien sind ganz anders ausgeprägt als bei uns. Das waren alles herzliche, nette Menschen, für die ich auch alle emotional empfunden habe. Ich habe sie gemocht, war aber auch distanziert. Ich wusste, dass wir nur eine befristete Zeit zusammenarbeiten würden. Meine persönliche Verantwortung beschränkte sich daher auf die professionelle Erfüllung des Auftrages. Andere Kameraden haben persönlichere Beziehungen aufgebaut, private Emails und Adressen in Deutschland mit den Afghanen getauscht. Das hätte ich zum Eigenschutz niemals gemacht.

Man muss sich das mal vor Augen halten: da waren – zu meiner Zeit 2006 – rund 700 staatliche und nichtstaatliche Organisationen vor Ort. Das war unglaublich, ein Kuddelmuddel. Goldgräberstimmung.

Es gab Leute, die der NATO der ISAF etwas verkaufen wollten, es ging um viel Geld – etwa ein deutsch-afghanischer Gründer, der mit einer Organisation Kommunikationsdienstleistungen für die NATO durchführen sollte. Der hat tatsächlich auch gute Netzwerke aufgebaut. In all das ist viel Geld reingeflossen, das aber eben nicht die gesamte Bevölkerung erreicht hat.

Und beim zweiten Einsatz hat sich Ihr Blickwinkel dann ein bisschen geändert?

Der Stresslevel war deutlich höher. Im ersten Einsatz waren wir noch ein bisschen die Freunde, die NATO-Partner, sind mit offenen Autos herumgefahren, haben an Kinder Schokolade und Wasser verteilt – wir hatten häufige Interaktionen mit der Bevölkerung.

Im zweiten Einsatz, 2007 sind wir dann gepanzert durch die Gegend gefahren. Wir hatten durchgehend Helme auf, ich als Offizier hatte nicht nur eine Pistole, sondern auch die Langwaffe, das Gewehr, bei mir. Die Gefährdungslage hatte sich verändert. Und dadurch hat sich auch die redaktionelle Arbeit verändert. Das ist jetzt meine persönliche Meinung, sehr subjektiv: Man ist defensiver geworden in der Entsendung der Redakteure nach draußen.

In einem Welt-Artikel haben Sie geschrieben, dass afghanische Mitarbeiter mehr als 800 Prozent des Durchschnittseinkommens in Afghanistan verdient haben. Das ist ja schon eine beachtliche Summe…

Für mich als Staatswissenschaftler, der kurz vorher seine Diplomarbeit über Migration verfasst hatte, war das damals sehr interessant: Ich habe erfahren, dass ein afghanischer Polizist um die 30 Dollar im Monat bekommt, wenn er an einem Sicherheitsposten steht. Ein Kloputzer bei der NATO hat viel mehr verdient. Meine Redakteure waren für das, was sie getan haben, im regionalen Vergleich deutlich überbezahlt.

Wenn man etwa 700 Organisationen vor Ort hat und jede Organisation von NATO, über UN bis zu christlichen Kleinstorganisationen im Schnitt ca.10-20 lokale Hilfskräfte anstellt, ist das natürlich eine Menge Geld. Es ist eine große Chance, für diejenigen, die sich als qualifiziert darstellen konnten. Aber dadurch wurden natürlich die Qualifizierten aus den lokalen Strukturen herausgebrochen. Natürlich haben die dann lieber bei einer GO oder NGO gejobbt, selbst als Kloputzer, anstatt als Sicherheitskraft oder als Verwaltungsmitarbeiter in einem afghanischen Ministerium zu arbeiten.

Wie war denn Ihr Eindruck im Allgemeinen von der afghanischen Bevölkerung? Wie groß war das Interesse an Ihrer Arbeit und an den von Ihnen beschriebenen Themen von Demokratie bis Frauenrechten? 

Ein Beispiel: Ich hatte einen fantastischen Redakteur, der in der DDR ausgebildet worden war. Der hat also schon ein ganz anderes Wertekorsett mitgebracht. Genauso wie ein zweiter Redakteur, auch in der DDR ausgebildet, der brillantes Deutsch sprach. Einmal kam er abends herein und sagte: „Hallo Herr Scheidtweiler, darf ich mir bei Ihnen ein Bier holen?“ Ich sagte: „Kein Problem, ich kann Ihnen auch gerne zwei Bier geben. Und wo trinken Sie das? Das dürfen Sie doch gar nicht.“ „Ja, heimlich auf meiner Veranda“. Dann sagte ich: „Dann lassen Sie sich bloß nicht erwischen“ – insbesondere an den letzten denke ich mit Wehmut zurück. Solche Ausnahmen könnten wir in unserer Gesellschaft sofort integrieren.

Die gab es. Aber – um jetzt nochmal auf den Punkt zu kommen – die Masse war es eben nicht. Die Masse war sehr religiös, hatte fundamentalistische Vorstellungen von Gesellschaft und Freiheitsrechten. Nehmen Sie die Veranstaltung, als ich von meinen Redakteuren verabschiedet wurde: Da haben meine Redakteure für mich gekocht – es waren aber keine Frauen da, die hatten abends kein Recht dabei zu sein.

Und das ist aber immer noch Kabul: Wir haben ein großes Stadt-Land-Gefälle. Das, was wir heute an Bildern sehen, auch in Kabul, ist eben nicht das, was in der breiten Gesellschaft des Landes passiert.

Und vielleicht noch eimal zu unserer inhaltlichen Arbeit: Wir haben nicht einfach gesagt „Hallo, wir sind die Westler und Burkas sind doof“, sondern wir haben „liberalere“ Mullahs zu Gesprächsrunden eingeladen, haben mit denen eine Diskussion auf Dari und Paschtu geführt und die haben dann Thesen, die uns wichtig waren, angesprochen. Beispielsweise: „Eine Frau soll bei der Feldarbeit auch die Burka ablegen dürfen“. Das waren die Schritte, die wir gegangen sind.

Das darf man nicht vergessen: Das war sehr, sehr kleinschrittig – und das war Kabul. Und jetzt schauen wir mal nach Nuristan, nach Kalagosh, nach Ghazni, nach Kandahar und dann wissen wir ganz genau, wie weit diese Menschen in dem Land von dem entfernt sind, wo sie nach unserem Denken eigentlich nach 20 Jahren sein sollten. Und in den so gepriesenen 60er und 70er Jahren war das nicht anders. Es gab Kabul mit seinen westlichen Besuchern – und das Land.

Also würden Sie sagen, dass das westliche Bild von Afghanistan oberflächlich war? Dass es auf dem Land eine ganz andere Geschichte gab – und die Menschen dort nicht so ticken, wie wir es gerne hätten? 

Ja, bei weitem nicht.

Ich war aber z.B. auch im Pandschir-Tal, habe den Friedhof der russischen Panzer gesehen. Ich habe mit den Menschen gesprochen vor Ort. Dieses Pandschir-Tal würde ich nach meiner Erfahrung, als verhältnismäßig liberal bezeichnen, die kämpfen ja nun tatsächlich auch gegen die Taliban, genau wie zuvor gegen die Russen, die Zentralregierung und auch früher schon gegen Islamisten. Es gab natürlich Bevölkerungsgruppen oder Stämme, die ein bisschen liberaler waren, aber natürlich auch noch weit entfernt von dem waren, war wir etwa unter Gleichberechtigung verstehen.

Wie groß war denn die ideelle Motivation der Ortskräfte? Oder ging es vielen hauptsächlich um die Bezahlung? 

Das trifft definitiv nicht auf alle zu. Ich mache auch den Afghanen keinen Vorwurf, wenn sie sich aus finanziellen Gründen für einen solchen Job entschieden haben. Es ist eine Situation, in der man alles tut, um seine Familie, seinen Clan durchzubringen. Deshalb kamen oft solche Fragen an uns: „Ich habe hier einen Cousin oder einen Verwandten, der könnte doch auch den Job machen, der ist ein super ausgebildeter Redakteur.“ Ich erhebe da keine Vorwürfe an den einzelnen Menschen.

Ich erheben einen Vorwurf an die internationalen Organisationen, die dadurch die Märkte kaputt gemacht haben. Die westliche Gemeinschaft hat den staatlichen afghanischen Organisationen dieses Knowhow entzogen.

Die Hoffnungen des Westen haben sich nicht erfüllt – war das damals schon sichtbar? 

Ja, das war schon der erste Eindruck. Vielleicht bin ich realistisch, vielleicht pessimistisch, ich kann es nicht genau sagen. Aber ich habe, nachdem ich 2006 die Strukturen früh kennengelernt habe, den Eindruck gehabt, dass die Lücke zu groß war – sowohl was Wirtschaft als auch, was Demokratie- und Freiheitsempfinden angeht.

Ich habe gleich, als ich 2006 aus dem ersten Einsatz zurückkam, gesagt: „Jeder Cent, der nach Afghanistan fließt, ist ein verlorener Cent.“ Und da war der Einsatz keine fünf Jahre alt. Das hätte man wissen können.

Die Bundeswehr und vor allem die Amerikaner sind ja aber nun ursprünglich nur nach Afghanistan gegangen, um die Taliban zu bekämpfen, bzw. Al-Qaida. Hatte man damit zumindest Erfolg? 

Bei meinen Redakteuren ganz klar, die lehnten die Taliban ab. Aber auf dem Land bin ich skeptisch.

Als ich mit Amerikanern im Osten unterwegs war, sind wir dort beschossen worden. Da haben wir regelmäßig Raketeneinschläge erlebt. Das war eine andere Situation. Wie gesagt: Kabul ist eine Insel gewesen. Im Pandschir-Tal war es sehr sicher, da wurde auch gesagt: „Wir sorgen für eure Sicherheit“. Da konnten wir quasi frei herumlaufen und konnten uns umschauen ohne Splitterschutzweste.

In anderen Regionen hatte ich das Gefühl, da wurden diese Leute regelrecht von der Bevölkerung gedeckt. Auch die Stimmung in den sogenannten Forward Operating Bases war viel angespannter. Wenn die Locals zur Arbeit oder ins Krankenhaus kamen, wurden sie viel genauer gefilzt, als es mein Eindruck in Kabul war.

Was sagen Sie als Medienkenner und PR-Experte, zu den chaotischen Bildern des Truppenabzugs jetzt? Das ist auch ein Propagandasieg für das neue Taliban-Regime …

Die waren schon 2006/2007 gut, richtig gut. Mit Counter-Propaganda umzugehen war auch eines der größten Themen bei uns. Was die Taliban heute mit den modernen Kommunikationsmitteln machen, darin sind die schon gut.

Ich sage es mal ganz offen: Wenn da Fridays-for-Future-Kinder in Kabul sitzen, dann interessiert das dort keinen. Da treffen die Taliban eher den Nerv der Gesellschaft und ihrer Zeit.

Man könnte sagen, wir haben versucht Themen wie Frauenrechte, Menschenrechte, Demokratie zu verkaufen, aber es ist manchmal so, dass der Markt nicht zum Produkt passt. Und deshalb trifft die Propaganda der Taliban dort auf fruchtbaren Boden.

Diese ganzen, bei uns wichtigen Themen wie Fridays For Future, LGBTQ, usw. spielen dort keine Rolle. Man kann den Propagandakrieg nur verlieren, wenn man auf die falschen Themen setzt.

Erst hätte man, wie in unserer Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Mägen füllen müssen, dann entsteht eine Mittelschicht und Bewegungen, die demokratische und freiheitliche Forderungen für die Individuen aufstellen können. Dass der Westen in Afghanistan direkt First-World-Problems bearbeiten wollte, konnte nicht funktionieren. Die Chinesen werden es uns vormachen.

Fridays for Future in Kabul? 

Die Sache mit FFF hat mich überrascht, da denkt man: Wo kommen die denn her? Der Witz ist ja, in Kabul gibt es eine Mülltrennung mit zwei Arten von Müll: Brennt oder brennt nicht. Und dann kommen die da an, mit irgendwelchen CO2-Themen …

Man muss sich das einfach mal klarmachen: viele inhaltliche Ziele waren weltfremd. Mit den aktuellen Themen von den NGOs kann man kommunikativ nur verlieren.

War das dramatische Ende jetzt insofern also zu erwarten? 

Ja. Es war klar, dass es so endet. Das überrascht mich keinen Millimeter.

Vielen Dank für das Interview!

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