Tichys Einblick
TE-Interview

Flucht aus Syrien – „Er wollte meinen Onkel vor unseren Augen umbringen“

Marah A. ist im Alter von 12 Jahren mit ihrem Vater, zwei Schwestern und einem Bruder aus Syrien geflüchtet. Seit neun Jahren lebt sie in Deutschland, hat Abitur gemacht und studiert im vierten Semester Bio- und Chemie-Ingenieurwesen in Hamburg. Gegenüber TE erzählt sie über ihre Flucht – und den Alltag ihrer Verwandten in Syrien.

Damaskus, Syrien, 12. Oktober 2015

picture alliance / dpa | Valery Sharifulin

Tichys Einblick: Wieso hat sich Deine Familie entschieden, aus Eurer Heimat zu flüchten?

Marah A.: Es wurde einfach immer schlimmer. Der Islamische Staat ist in unsere Stadt, Deir ez-Zor, eingedrungen und hat Im- sowie Exporte verboten. Entsprechend hatten wir weder Zugang zu Essen noch zu Wasser. Und dann wurde unser Haus von einer Rakete getroffen. Das Obergeschoss war zerstört. Auch die Autohäuser meines Vaters wurden durch Raketen zerstört. Er konnte also kein Geld mehr verdienen und wir hatten kein Zuhause mehr. Wir wollten nur noch fliehen.

Wie hat Eure Flucht gestartet?

Zunächst mussten wir zu Fuß durch Ar-Raqqa gehen. Und von dort aus sind wir mit verschiedenen Verkehrsmitteln nach Damaskus gefahren.

Wieso nicht mit dem Auto?

Es ist nicht gestattet, Regionsgrenzen mit dem Auto zu überfahren. Maximal innerhalb eines Regierungsgebietes ist das möglich. Die einzelnen Gebiete in Syrien sind von verschiedenen Gruppen besetzt: Damaskus steht unter Al-Assads Führung, Ar-Raqqa ist unter IS-Führung und Deir ez-Zor wird zum Teil von Al-Assad und zum anderen Teil vom IS geführt.

Wie war es, durch islamistisches Terrain zu gehen?

Wir sind höchstens zwei Kilometer weit gekommen, bis wir bei dem nächsten Kontrollpunkt unsere Ausweise und Dokumente vorzeigen und allerlei Fragen zur Absicht unserer Reise und unserer Herkunft beantworten mussten. Wir Frauen mussten uns in komplett schwarzen Burkas verhüllen und unsere Augen mit einem Schleier verdecken. Die Männer mussten bodenlange, weiße Kleider tragen.

Wieso stellen die Islamisten diese Kleidungsvorschriften?

Sie beziehen sich auf die Worte des Korans. Aber das ist totaler Unsinn. Nichts davon steht im Koran. Aber die Islamisten interpretieren den Koran so, wie es ihnen passt, um ihre Taten zu rechtfertigen.

Wie muss man sich diese Islamisten vorstellen?

Islamisten sind böse Menschen, die es toll finden, mit Waffen herumzulaufen, Menschen einzuschüchtern und Unschuldige umzubringen. Einer der Islamisten in Ar-Raqqa wollte meinen Onkel vor unseren Augen umbringen.

Einfach so?

Meine Oma hat ihre Augen für einen Moment nicht verhüllt und ein Islamist stoppte uns deswegen. Mein Onkel hat dann gesagt, der Islamist solle ihm zeigen, an welcher konkreten Stelle im Koran steht, dass Frauen vollständig in Schwarz verhüllt sein müssten und nicht einmal ihre Augen zeigen dürften. Daraufhin hat der Islamist meinem Onkel ein Messer an den Hals gehalten. Er hat ihn zum Glück nicht getötet. Aber die Sache war damit noch nicht erledigt: Der Islamist ist zu dem folgenden Kontrollpunkt gefahren und hat dort auf uns gewartet.

Und dann?

Er und seine Kollegen haben unsere Taschen durchsucht, alles zu Boden geworfen und die Spielzeuge meiner Geschwister kaputtgetreten. Mein Onkel musste für alle Frauen und Kinder neue Burkas kaufen, weil die Islamisten die Burkas, die wir bis dato getragen haben, nicht mochten. Außerdem haben sie den Personalausweis meines Onkels für mehrere Tage konfisziert. Also mussten wir in Ar-Raqqa bleiben, denn ohne Ausweis wären wir nicht weit gekommen.

Mehrere Tage unter Islamisten also?

Genau. Es war schrecklich. Einige Momente dieser Tage werde ich nie wieder vergessen können. Einmal bin ich mit meiner Mutter einkaufen gegangen, als ein Pick-Up die Straße entlanggefahren ist. Auf der Ladefläche des Autos stand ein Islamist, der einen abgetrennten Kopf an den Haaren in die Höhe gehalten hat.

Wieso machen die Islamisten all das?

Ich glaube, sie wollen Angst schüren, damit die Menschen sich nicht wehren und ihnen unterlegen bleiben. Und es geht ihnen um Geld: Sie wollen sich an dem riesigen Erdölvorkommen in Syrien bereichern. Jedenfalls besetzen sie vor allem jene syrischen Gebiete, in denen es Erdöl gibt. Aber teilen wollen sie das Geld nicht. Es ist ihnen egal, ob die Menschen im Land verhungern und verdursten. Ich kann mir vorstellen, dass es ihnen sogar Freude bereitet, anderen Menschen beim Leiden zuzusehen.

Wie ging es weiter, nachdem Ihr in Damaskus angekommen seid?

Wir sind bis nach Beirut im Libanon mit einem Bus gefahren. Dann hat uns ein Schiff in die Türkei gebracht. Von dort wollten wir eigentlich direkt weiter nach Griechenland. Aber wir mussten umplanen: Ein Schlauchboot, das vor uns abgefahren ist, ist gekentert und alle Personen an Bord sind ertrunken. Die Grenzüberwachung wurde nach diesem Unglück verstärkt. Deswegen sind wir zunächst nach Istanbul gegangen, um von dort mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Lesbos (Mytilini) gebracht zu werden. Anschließend sind wir mit Bussen und Bahnen durch Mazedonien und Serbien nach Ungarn gefahren. In Ungarn wurden wir festgenommen, mussten unsere Fingerabdrücke hinterlassen und unsere Papiere vorzeigen. Nach einigen Stunden ohne Zugang zu Essen und Trinken wurden wir wieder freigelassen und setzten unsere Reise fort: Wir gingen nach Österreich und fuhren von dort mit dem Zug nach Stuttgart, später nach Berlin und zu guter Letzt in ein Flüchtlingsheim nach dem anderen in und um Hamburg.

Wie lange wart Ihr unterwegs?

Die Flucht dauerte mindestens zwei Monate. Dann dauerte es vier Monate, bis wir im Flüchtlingslager in Hamburg-Harburg angekommen sind, in dem wir dann für ungefähr neun Monate lebten. Danach sind wir in ein kleines Haus in der Nähe von Hamburg gezogen.

Wie war es in den Flüchtlingslagern?

Sehr langweilig, laut und dreckig. Aber alles war besser, als im Krieg zu leben.

Was hast Du gegen die Langeweile gemacht?

Meine Schwestern und ich haben uns Deutsch beigebracht. Wir konnten damals leider an keinem offiziellen Deutschkurs teilnehmen, aber wir wollten in die Schule gehen und wussten, dass wir dafür Deutsch sprechen müssen.

Das scheint gut geklappt zu haben. Du sprichst fließend deutsch.

Ja, Deutsch ist mittlerweile wie meine zweite Muttersprache. Mit meinen Geschwistern spreche ich mittlerweile nur noch Deutsch. Am besten haben wir Deutsch allerdings gelernt, als wir in die Schule, ein Gymnasium in der Nähe von Hamburg, gegangen sind.

Hast Du noch Familie in Syrien?

Meine engsten Angehörigen sind in Deutschland: Meine Mutter und meine anderen Geschwister sind vor vier Jahren über den Familiennachzug nach Deutschland gekommen. Aber viele meiner Onkel und deren Familien sind noch in Syrien. Es geht ihnen nicht gut, einige sind tot.

Was erzählen sie denn?

Vor ein paar Monaten ist eine Rakete sehr nah an dem Haus meines Onkels eingeschlagen. Er hat einen Splitter ins Auge bekommen und wird nun wahrscheinlich nie mehr auf dem Auge sehen können. Sein Auge hat sich mittlerweile stark entzündet. Er muss eigentlich ständig operiert werden, aber es gibt zu wenige Ärzte. Und es wäre zu teuer. Generell ist alles in Syrien unfassbar teuer geworden. Das Essen, das Trinken und die Medikamente gehen aus: Selbst diejenigen, die überhaupt noch einen Job haben, können sich nur Reis, Brot und Nudeln leisten. Das monatliche Gehalt meiner Verwandten reicht maximal für zwei Wochen. Den Rest des Monats versuchen sie sich mit Gemüse aus dem Garten über Wasser zu halten.

Aber es gibt doch Hilfspakete von internationalen Hilfsorganisationen?

Na ja. Die reichen normalerweise bloß für ein paar Tage. Aber Menschen ohne Job leben teilweise einen ganzen Monat davon. Und die meisten Hilfspakete gibt Al-Assad sowieso nicht an die Bevölkerung ab, sondern behält sie für seine Anhänger – also für die Menschen, die ihn als Gott sehen. Oder Al-Assad verkauft die Hilfspakete für enorm hohe Preise, die sich viele Menschen in Syrien nicht leisten können. Al-Assad und seine Anhänger leben entsprechend in Saus und Braus, während die anderen Menschen in Syrien den Geschmack von Obst und Gemüse schon längst vergessen haben.

Wie häufig telefonierst Du mit Deinen Verwandten?

Das ist unterschiedlich. Die Regierung schaltet immer häufiger den Strom aus. Darum hat meine Familie jeden Tag nur für ein paar Stunden Strom. Manchmal telefonieren wir dann. Aber Al-Assad lässt die Telefone abhören. Entsprechend müssen meine Verwandten aufpassen, was sie uns am Telefon sagen.

Wollen Deine Verwandten flüchten?

Wollen ja. Aber sie können es nicht. Die Grenzkontrollen sind strenger geworden und die Kontrolleure verlangen viel mehr Geld als früher. So viel Schmiergeld hat meine Familie nicht.

Wünschst Du Dir, dass alle Syrer nach Europa kommen könnten?

Nein, das wäre nicht die Lösung. So viele Kapazitäten hat Europa nicht und auch nicht so viel Geld. Der Krieg muss endlich aufhören, damit die unzähligen, unschuldigen Menschen nicht mehr leiden und sterben müssen. Aber dafür ist die Situation viel zu kompliziert geworden.

(Zum Abschluss des Gesprächs zeigt Marah A. mir ein Video von Soldaten aus Al-Assads Armee, die Männer in ein Massengrab werfen und dann erschießen, einen nach dem anderen.)

Warum tust Du Dir solche Videos an?

Ich hoffe, einen Onkel von mir zu finden. Er ist vor 13 Jahren verschwunden, nachdem er abgelehnt hat, der syrischen Armee zu dienen.

Wieso hat er abgelehnt?

Meinem Onkel war klar, dass er als Soldat Menschen umbringen müsste. Er ist religiös und achtet die Worte aus dem Koran: „Wer einen Menschen tötet, hat die ganze Menschheit getötet.“ Darum kam es für ihn nicht in Frage, für Al-Assad – oder egal für wen – andere Menschen zu töten. Ein paar Tage, nachdem er abgelehnt hat, ist er auf dem Rückweg von seiner Arbeit verschwunden. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Es lässt mich nicht los, dass ich nicht weiß, was mit ihm geschehen ist, ob er in ein Gefängnis gebracht und gefoltert oder direkt getötet wurde. Oder ob er vielleicht doch noch lebt – was sehr unwahrscheinlich ist.

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