Tichys Einblick: Die Bundesregierung hat die Renten für 2022 trotz sehr angespannter Haushaltslage stark erhöht – um 6,12 Prozent im Westen und 5,35 Prozent im Osten. Was bedeutet das für die Stabilität des Rentensystems?
Joachim Ragnitz: Mich hat es in der Tat überrascht, dass die Anpassung so hoch ausgefallen ist. Vor einigen Monaten hieß es noch, es würden wahrscheinlich um die vier Prozent sein. Aber die konkrete Erhöhung richtet sich nach der Rentenanpassungsformel, die sich wiederum auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes stützt. 2020 waren die Bruttolöhne wegen des Kurzarbeitergeldes nur schwach gestiegen, im Jahr darauf vergleichsweise stark. Im Jahr 2021 gab es keine Rentenerhöhung. Daraus ergibt sich zwangsläufig diese starke Erhöhung für 2022/23. An dieser Logik konnte die Bundesregierung nicht vorbei.
Sie hätte in die Rentenformel eingreifen können.
Aber das hätte einen politischen Aufschrei gegeben. Mit den Rentnern als wichtige Wählergruppe will es sich keine Regierung verscherzen.
Was bedeutet das nun für ein Rentensystem, das ja auch schon ohne Rentenerhöhung immer stärker in Schieflage gerät, weil demnächst
die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen?
Das bedeutet, dass auch alle Rentensteigerungen in den nächsten Jahren von diesem gestiegenen Niveau ausgehen. Eine Senkung des Rentenniveaus ist derzeit ausgeschlossen. Der grundsätzliche Fehler war die Aussetzung des sogenannten Nachhaltigkeitsfaktors, der in den 1990er Jahren eingeführt worden war, um die zukünftigen Renten an die demografische Entwicklung anzupassen. Er wurde von der rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder abgeschafft, dann wieder eingeführt. Unter Angela Merkel wurde er 2018 wieder ausgesetzt, und das soll nach den Plänen der Ampelkoalition dauerhaft so bleiben. Nichts anderes ist ja das Versprechen, das Rentenniveau auf mindestens 48 Prozent der Löhne zu fixieren. Mit dem Blick auf die Entwicklung nach 2030 wäre es dringend nötig, ihn jetzt wieder einzusetzen.
Und warum geschieht das Ihrer Meinung nach nicht?
Die Mehrheiten bei Wahlen liegen nun einmal bei den Rentnern und den rentennahen Jahrgängen. Die will niemand verärgern.
Die SPD und Kanzler Scholz beharren darauf, die Renten seien auch nach dem Wechsel der geburtenstarken Jahrgänge auf die Empfängerseite gesichert – weshalb auch in Zukunft weder der Rentenbeitrag steigen noch das Rentenniveau sinken müsse.
Aber so, wie die Rente derzeit gestrickt ist, kann sie langfristig nicht finanziert werden. Das weiß auch Olaf Scholz. Es ergibt sich nun mal aus der Demografie, dass jede neue Alterskohorte nur zwei Drittel der Rentnergeneration ausmacht. Spätestens wenn die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 2030 und 2040 in Rente gehen, ist das gegenwärtige Rentenniveau von 48 Prozent nicht mehr zu halten. Der Beitragssatz kann aber auch nicht weit über das aktuelle Niveau angehoben werden, weil das den Faktor Arbeit noch weiter verteuern würde. Und es ist auch nicht möglich, den Steuerzuschuss zur Rente, der ja jetzt schon fast 80 Milliarden Euro im Jahr beträgt, immer weiter zu steigern. Wir haben einmal durchgerechnet, dass bei unverändertem Rentenniveau und konstantem Beitragssatz 60 Prozent des Bundeshaushalts im Jahr 2050 für den Rentenzuschuss aufgewendet werden müsste. Das ist unvorstellbar. Alternativ müsste die Umsatzsteuer bis 2050 auf 30 Prozent angehoben werden.
Die Ampelkoalition schlägt die sogenannte Aktienrente vor: Zwei Prozent des bisherigen Rentenbeitrags sollen in einen staatlichen Aktienfonds fließen, aus dem Rentner dann später eine Ausschüttung bekommen. Diese Aktienrente sollte eigentlich mit einem Grundstock von zehn Milliarden Euro 2022 starten, die jetzt allerdings wegen Finanzierungsschwierigkeiten nicht im Bundeshaushalt stehen. Aber falls die Aktienrente später kommt: Könnte sie die Krise des gesetzlichen Rentensystems dann wenigstens mildern?
Nicht wirklich. Die viel zu geringe Ausstattung mit zehn Milliarden bedeutet, dass später jedem Rentner pro Monat etwa ein Euro aus diesem Fonds ausgezahlt werden könnte. Ein solcher Fonds könnte nur auf sehr lange Sicht und mit einem deutlich höheren Kapitalstock mehr als nur einen symbolischen Beitrag zur Rente leisten. Nach Berechnungen des Ifo-Instituts wäre bis 2070 ein Kapitalstock von 700 Milliarden Euro nötig, damit bei einer durchschnittlichen Verzinsung von jährlich fünf Prozent jedem Rentner monatlich wenigstens 100 Euro ausgezahlt werden können. Kurzfristig – also um die Schieflage des Rentensystems ab 2030 abzufangen – bringt eine Aktienrente überhaupt nichts.
Wäre eine Aktienrente dann wenigstens eine gute Idee für die Jahrzehnte danach?
Meiner Meinung nach sollte die Regierung die Finger ganz von der Aktienrente lassen. Denn sie würde ausschließlich die jetzt Aktiven belasten, die die Beiträge zur gesetzlichen Rente und dann auch noch die Einzahlungen in den Fonds aufbringen müssten. Einen solchen Fonds hätte man vielleicht vor 20 Jahren auflegen können – mit ausreichend vielen Einzahlern aus den geburtenstarken Jahrgängen. Jetzt sieht es so aus, als würde der Start der Aktienrente erst einmal verschoben. Aber: Wenn sie erst später beginnt, dann wird es noch schwieriger, das Kapital für einen staatlichen Fonds anzusparen.
Das Modell sieht allerdings vor, dass der Beitrag zur gesetzlichen Rente um die Prozentpunkte sinken soll, die in den Aktienfonds fließen.
Aber das würde bedeuten, dass der Zuschuss zur Rente aus Steuermitteln entsprechend steigen müsste. Die Steuerzahler und die Rentenbeitragszahler sind nun einmal weitgehend identisch.
So oder so würden die jüngeren Jahrgänge noch stärker belastet. In Norwegen gibt es tatsächlich einen staatlichen Fonds für die Alterssicherung. Dorthin fließen allerdings die Einnahmen aus der Gasförderung. Diese Möglichkeit hat Deutschland nun einmal nicht.
Welche Möglichkeiten bleiben also, um den Kollaps des Rentensystems in Zukunft noch zu verhindern?
Es bleibt keine andere Möglichkeit, als die Belastung zwischen der jüngeren, aktiv im Berufsleben stehenden Generation und den Rentnerjahrgängen einigermaßen gerecht aufzuteilen. Für die Jüngeren bedeutet das etwas höhere Beiträge, für die künftigen Rentner ein niedrigeres Rentenniveau. Den Jüngeren bleibt nichts anderes übrig, als privat mehr als bisher vorzusorgen und dafür auf Konsum zu verzichten. Das größere Problem ergibt sich für diejenigen im Alter um 55: Sie können bis zum Renteneintritt nicht mehr viel an eigener Vorsorge aufbauen.