Was Heiko Teggatz aus dem Innenleben des Bundesinnenministeriums (BMI), zu dem auch die Bundespolizei als nachgeordnete Behörde gewissermaßen gehört, berichtet, erstaunt, ja es lässt einen die Hände immer wieder über dem Kopf zusammenschlagen. Fast nähert man sich so dem Huh-Ritual der isländischen Fußballfans.
Kurz vor der Niedersachsenwahl beschloss die Leitung demnach, den immer brisanter werdenden Migrationsanalyse-Bericht nicht mehr ins Intranet zu stellen und damit für die einzelnen Bundespolizisten und Bundespolizeidirektionen zugänglich zu machen. Normalerweise werden diese Berichte immer in der ersten Woche des nachfolgenden Monats ins Intranet der Bundespolizei eingestellt. Anfang September wurde zwar noch ein Bericht veröffentlicht, die (bereits deutlich steigenden) Zahlen für den August fehlten aber. Seitdem gab es keinen offiziellen, umfassenden Bericht mehr zur Lage an deutschen Grenzen.
Dabei ist, so erklärt der Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft Heiko Teggatz gegenüber TE, dieser Bericht, der neben den blanken Zahlen zu unerlaubten Einreisen und Schleusungsfällen auch ermittlungstechnische Details enthält, wichtig für die Beamten vor Ort. Sie können daraus beispielsweise erfahren, wie die Lage in benachbarten Grenzabschnitten ist und welche neuen Methoden und Transportmittel die Schleuser benutzen. Da die zugänglich gemachten Daten in der Regel vertraulich bleiben, ist das Fehlen der Berichte für August und September besonders erstaunlich und stößt auch den unverdächtigen Bürger vor den Kopf: Warum sollte eine Bundesministerin mitten in einer angehenden neuen Migrationskrise mit steil steigenden Aufgriffen der Bundespolizei eines der Instrumente entziehen, mit denen die Beamten ihre Arbeit verrichten?
Teggatz findet es „traurig, dass das BMI so zögerlich mit den Zahlen umgeht und so wenig Öffentlichkeitsarbeit betreibt“. Das passe zwar ins Bild dieser Regierung, aber Teggatz glaubt, dass man damit eher ein Problem verschärfe, als es zu lösen: „Ich bin ein Freund vom offenen Umgang mit Zahlen und Fakten, aber da tickt diese Regierung offensichtlich anders.“ So kann der Bundespolizist nur mutmaßen, wie sich die Zahlen an den verschiedenen Grenzabschnitten im September entwickelt haben: „Konkrete Zahlen kann ich Ihnen leider nicht nennen. Wie gesagt, ich komme an keine interne Statistik mehr ran.“
Inzwischen wurde bekannt, dass es im August 2022 noch einmal deutlich mehr Aufgriffe gab als im Juli, bevor es im September auf 12.701 festgestellte unerlaubte Einreisen kam, wie die Bundespolizei nun gegenüber der Welt am Sonntag einräumte. Das entspricht für beide Monate einer Verdoppelung der Zahlen vom Vorjahr.
Tichys Einblick: Herr Teggatz, die Frequenz unserer Gespräche erhöht sich, weil auch die Probleme nicht ab-, sondern zunehmen. Immer mehr Kommunen berichten von Schwierigkeiten bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen, Migranten, schließlich sogar der ansässigen Bevölkerung (wie im Fall des Sozialamts Neukölln). Zeit für eine Nachfrage: Wie sieht das Migrationsgeschehen aktuell aus, was ist neu, was ist gleichgeblieben? Wie kommt es zu der Überlastung?
Heiko Teggatz: Die Belastung wird in erster Linie durch rund eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge ausgelöst, die untergebracht werden müssen. Aus polizeilicher Sicht ist das weniger relevant, denn die Ukrainer dürfen ja legal einreisen, sich hier auch ohne Registrierung und Aufenthaltserlaubnis für drei Monate aufhalten. Daraus ergibt sich schon das erste Problem, das die Kommunen derzeit haben. Denn für uns an der Grenze sind das normale Reisende, die wir nicht erfassen. Sie belasten aber natürlich die Städte und Kommunen ungemein. Zum Vergleich: 2015 hatte das BAMF 700.000 Migranten, die untergebracht werden mussten.
Und jetzt kommt hinzu, dass das BAMF in seiner Statistik mit Stand September bereits um die 160.000 Erstasylanträge registriert hat. Das sind unerlaubt eingereiste Migranten, nicht ukrainische Kriegsflüchtlinge. Die kommen also noch oben drauf zu der einen Million Ukrainer. Die Bundespolizei konnte bis Ende September ungefähr 60.000 unerlaubte Einreisen feststellen. Aus polizeilicher Sicht muss ich anmerken: Leider hat das Innenministerium dazu zuletzt keine interne Statistik mehr zugänglich gemacht. Die letzte Statistik vom September, die ich kenne, berichtet den Stand Ende Juli. Seither ist nichts mehr eingestellt worden.
Das heißt, Sie können im Moment gar nicht genau sagen, was im August und September wirklich an deutschen Grenzen passiert ist.
Vom BMI wird ja behauptet, dass die unerlaubten Einreisen im Vergleich zum Vorjahr um etwa 35 Prozent angestiegen wären. Aber die Bundespolizei gesteht auch selbst ein, dass die Tendenz nach wie vor steigend ist, was sich an den neuesten Zahlen auch zeigt. Auch nach dem, was ich von den Kollegen höre, ist der Anstieg ungebremst.
Den Zahlen zufolge, die die Bundespolizei nun herausgegeben hat, gab es im August und September Steigerungen von 107 und 108 Prozent, also jeweils mehr als eine Verdoppelung.
Wir haben am Dresdner Bahnhof einen leichten Rückgang, weil sich inzwischen herumgesprochen hat, dass die Bundespolizei in die Züge geht und die Menschen registriert. Aber da wir immer noch keine festen Grenzkontrollen an der tschechischen und polnischen Grenze durchführen, wählen die Menschen eben den Weg über die Autobahnen, Bundesstraßen, Land- und Kreisstraßen, die im Moment viel weniger kontrolliert werden. Wenn Sie mit dem Auto oder Kleintransporter in der Slowakei losfahren und sich auf den Weg Richtung Deutschland machen, dann haben Sie ja dutzende Möglichkeiten, wie Sie fahren können. Außerdem können Sie vorher durch Aufklärer feststellen, ob irgendwo eine Bundespolizeistreife in der Nähe ist. Die Schlepper sind ja nicht blöd.
Und viele Migranten haben gar kein Interesse daran, sich in Deutschland registrieren zu lassen, weil sie beispielsweise eine Einreisesperre haben, also schon einmal ein Asylverfahren durchlaufen haben und negativ beschieden wurden, oder weil sie gar nicht in Deutschland bleiben wollen. Da gibt es etliche Gründe, warum man sich lieber nicht registrieren lassen will. Die Dunkelziffer ist daher sehr hoch. Das kann jeder leicht feststellen, wenn er die BAMF-Zahlen, also die Anzahl der Erstasylanträge, mit den Feststellungen durch die Bundespolizei vergleicht. Da klafft ein Riesendelta. Wenn wir 60.000 Feststellungen haben, hat das BAMF 160.000 Erstanträge. Das zeigt, wie hoch die Dunkelziffer sein mag. Aber die Realität geht noch weit darüber hinaus. Viele illegal Eingereiste tauchen auch irgendwo mitten im Land auf. Zum Beispiel gab es letzte Woche ein größeres Problem am Bahnhof Fulda mit einer großen Zahl unerlaubt eingereister Syrer und Iraker, die also von der Bundespolizei noch nirgendwo festgestellt worden waren. Früher war das die absolute Ausnahme. Inzwischen wird das bei unseren Inlandsdienststellen – das sind die Bahnhöfe – leider zur Normalität.
Das Problem liegt natürlich unter dem Strich bei den Kommunen, denn denen ist wurscht, ob da jemand durch die Bundespolizei festgestellt wurde oder nicht. Denen ist auch wurscht, ob jemand aus der Ukraine kommt oder aus Afghanistan. Für die steht fest, dass sie die Menschen irgendwo unterbringen müssen. Und das ist das Riesenproblem. Die Bundesregierung belastet durch ihre Nachlässigkeit in der Kontrolle, durch ihren Kontrollverlust – so muss man es inzwischen sagen – in unnötiger Weise die Kommunen und Städte. Und da helfen auch keine finanziellen Ausgleichszahlungen, wenn die Kommunen schlichtweg nicht mehr wissen, wohin mit den Menschen. Da nützt auch kein Geld mehr. Voll ist voll.
„Auch das versteht Frau Faeser nicht“: Die Schleierfahndung gibt es gar nicht
Nun hat Frau Faeser erst vor kurzem angekündigt, dass die Schleierfahndung intensiviert, die Grenzsicherung so quasi verbessert werden soll, gerade an der deutsch-tschechischen Grenze. Ist das passiert?
Wie soll das gehen? Wir können ja nur das Personal einsetzen, das wir haben. Und ich kann sagen, dass das Personal, das wir zur Verfügung haben, also die Bereitschaftspolizei, die an den Grenzen unterstützen kann, schon unterwegs ist. Gerade haben wir zum Beispiel eine extreme Entwicklung an der schweizerischen Grenze, die zeigt, wie dynamisch solche Lageentwicklungen gerade im Feld illegale Migration sind. Letzte Woche mussten wir in Konstanz und in Weil am Rhein zwei Bearbeitungsstraßen einrichten, weil die Menschen, die da ankommen, gar nicht mehr in den Dienststellen der Bundespolizei bearbeitet werden können. Auch da unterstützt die Bereitschaftspolizei schon jetzt mit einer Hundertschaft. Das ist insgesamt eine Katastrophe.
Auch angesichts von versprochenen Haushaltsmitteln, die nicht kamen?
Ja, auch, wir haben ja für den Haushalt zehn zusätzliche Hundertschaften Bereitschaftspolizei angefordert und sollen nur vier bekommen. Das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Schleierfahndung an der polnischen und tschechischen Grenze ist also noch immer auf dem Stand, auf dem sie auch vor Faesers Versprechen einer Intensivierung war.
Der Zustand ist immer noch derselbe wie im August. Zunächst einmal muss man sagen: Die Schleierfahndung, wie Frau Ministerin sich das vorstellte, existiert ja gar nicht. Meine Kollegen, die dort unterstützend eingesetzt sind, fahren ja nicht Streife. Das ist Quatsch. Die werden jeweils an die Grenze geschickt, um größere Gruppen von Migranten, die zufälligerweise festgestellt wurden, abzuarbeiten.
Man hätte längst die Entscheidung treffen müssen, zumindest die Grenzen zu Polen und Tschechien zu notifizieren, damit wir als Bundespolizei die Möglichkeit haben, Menschen, die im Schengenraum nichts zu suchen haben, weil sie entweder keinen Asylantrag stellen oder eine Wiedereinreisesperre haben oder aber aus sicheren Herkunftsstaaten kommen wie beispielsweise die Maghrebstaaten, gar nicht erst reinzulassen. Das können wir jetzt nicht. Und das ist eben genau der Punkt, wo die Ministerin sich nach wie vor weigert, diese Notifizierung auszusprechen. Eine Notifizierung, also die Versetzung einer Binnengrenze in den Zustand einer Außengrenze, ist ja auch nicht zwingend verbunden mit dem Einrichten von stationären Kontrollen. Auch das versteht Frau Faeser nicht.
Ich habe ihr auch gesagt, wir können ja auch eine Schleierfahndung letzten Endes nur effektiv durchführen, wenn wir auch grenzpolizeiliche Maßnahmen treffen können, also Einreiseverweigerung, Zurückschiebung, was es da alles gibt. Das können wir aber nur dann machen, wenn wir uns sozusagen an einer „Außengrenze“ bewegen, so wie an der deutsch-österreichischen Grenze. Das will die Ministerin aber an der tschechischen Grenze ganz offensichtlich nicht haben. Und deshalb sage ich immer wieder: Unsere ganzen Kollegen, die an der tschechischen Grenze eingesetzt sind in dieser – in Anführungsstrichen – „intensivierten Schleierfahndung“, die sind ein besseres Transportunternehmen, mehr nicht. Rein polizeilich können wir da gar nichts machen. Wir holen die Leute aus den Autos, retten da teilweise Menschen aus lebensgefährlichen Situationen, etwa wenn viele Personen in LKWs zusammengepfercht werden, aber transportieren sie dann entweder in eine Bearbeitungsstraße oder direkt in die Anlaufstellen zum BAMF. Und das, sage ich ganz ehrlich, könnten auch private Busunternehmen machen. Das muss nicht die Polizei machen.
„Wir stecken mitten in einem neuen 2015“ – Was macht Italien?
Ist es denn bei der Bundespolizei inzwischen so, dass man wieder Zelte aufstellen müsste? Dass da irgendwo der Notstand ausgebrochen ist?
Im Moment haben wir noch Hallen angemietet, weil wir noch leere Gewerbeobjekte finden. Aber wenn sich die Lage jetzt auch an der schweizerischen Grenze so entwickelt, wie sie in den letzten drei, vier Wochen Fahrt aufgenommen hat, dann werden wir wohl irgendwann keine Gebäude mehr finden und werden dann tatsächlich wie schon 2015 in Freilassing und Rosenheim auf große Zelte zurückgreifen müssen. Ich hatte ja schon vor rund einem Monat gesagt, dass wir mitten in einem neuen 2015 stecken. Aber niemand will es hören.
Wenn Sie von einem Problem an der Schweizer Grenze sprechen: Sind das schon erste Migranten, die in Italien angesichts einer neuen Regierung das Weite suchen, um vom großzügigeren deutschen System zu profitieren?
Das Phänomen haben wir so noch nicht, aber das wird kommen, wenn sich in Italien die Regierung konstituiert hat und sagt: „Wir gucken jetzt mal: Wen haben wir denn hier im Land, und wer hat hier eigentlich kein Bleiberecht, und wen bringen wir wieder nach Hause?“ Dann werden sich die zugewanderten Menschen in Italien auf den Weg machen nach Nordeuropa und vor allem nach Deutschland, klar. Über Österreich ist das ein Katzensprung. Das werden wir dann, so ist zu befürchten, in den nächsten Wochen durch steigende Zahlen erleben. Ich habe gestern mit einem Kollegen aus Rosenheim gesprochen, und der sagte, die haben schon eine leichte Steigerung. Allerdings sind das Menschen, deren Aufenthaltstitel in Italien nicht verlängert worden sind. Das ist noch nicht der Ansturm, den ich befürchte. Aber das wird kommen.
Hat Frau Faeser Ihnen in diesem Sommer einmal auf ihre zahlreichen Briefe geantwortet?
Ich habe nach wie vor keine Antwort, auf keinen meiner Briefe.
Die Position der Ministerin zu ihren Fragen müssen Sie sich also selber denken.
Genau, sie hat sich ja schon schwergetan damit, die Notifizierung an der deutsch-österreichischen Grenze zu verlängern, und rühmt sich dann damit, dass sie das verlängert hat. Es gab Riesenärger mit den Grünen darüber. Deshalb ist in dieser Regierungskoalition gar nicht daran zu denken, dass sich irgendeiner durchringt und sagt, wir notifizieren jetzt auch an der tschechischen Grenze. Das wird nicht passieren, da bin ich mir sehr sicher.
Und das liegt an den Grünen?
Ja, und an den linken Kräften in der SPD. Die FDP ist da ein bisschen anders, die haben schon erkannt, worum es geht. Aber die Grünen spielen da nicht mit, und die SPD scheint ziemlich zerrissen. Aber eine Mehrheit finden Sie dafür in dieser Ampelkoalition nicht.