Heiko Teggatz ist Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) und selbst Grenzschützer aus Überzeugung. Er lobt die freiwilligen Helfer an den Berliner Bahnhöfen, aber er fordert „Struktur und Kontrolle“ bei der Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge, nicht nur, um Trittbrettfahrer auszusieben, sondern auch, um schwere Straftaten wie Menschenhandel oder die Förderung der Prostitution abzuwenden. Doch tatsächlich sei das Chaos jetzt eher noch größer als 2015.
Tichys Einblick: Herr Teggatz, Sie haben sich Anfang des Monats mit einem Brief an die Bundesinnenministerin gewandt, in dem Sie die Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge dem Grundsatz nach als „gefühlte Selbstverständlichkeit“ unterstützt haben. Im selben Schreiben haben Sie allerdings daran erinnert, dass im selben Zuge auch zahlreiche Drittstaatler in Deutschland ankommen – unter anderem aus Staaten wie Nigeria, Marokko oder Afghanistan. Letztens haben Sie sogar von russischen Agenten gesprochen, die in Bussen und Zügen aus dem Osten sitzen könnten. Daneben könnte der Nicht-EU-Balkan eine größere Rolle spielen. Gibt es in der Bundespolizei oder beim Bundesinnenministerium ein Lagebild, das uns eine Ahnung davon geben könnte, wer in diesen Tagen nach Deutschland einreist?
Es wird also noch nicht einmal an den Bahnhöfen kontrolliert, was ja relativ einfach wäre.
Nein. Es fehlt leider komplett an einer sogenannten Aufbauorganisation. Im günstigsten Fall kontrolliert man direkt bei der Einreise. Wenn das nicht möglich ist, weil beispielsweise ein Zug ohne Halt von Warschau nach Berlin fährt, dann könnte man diesen Zug auch noch am Berliner Hauptbahnhof kontrollieren. Das wäre technisch möglich. Dazu gehört aber, dass die Bundesregierung erstens den Willen dazu hat und zweitens eine Behörde beauftragt, das zu tun. Und das fehlt gänzlich. Das heißt, die Züge kommen in Berlin an, die Türen gehen auf, auf den Bahnsteigen stehen massenhaft Menschen mit Zettelchen in der Hand, die Privatunterkünfte anbieten, und dann sind diejenigen, die da aus dem Zug aussteigen, verschwunden in Berlin.
Das Innenministerium verfügt also über Zahlen, die aber im Moment anscheinend nur der WDR zu Gesicht bekommt.
Ja, der WDR fragte mich heute (am 14.03.22, Anm. d. Red.), ob ich etwas zu den Zahlen sagen könnte. Es wurden mir aber keine Zahlen genannt. Die hätten mich schon interessiert, denn ich kenne nur die Statistiken, die die Bundespolizei erhebt und dann ans Ministerium weitergibt, und die müsste man natürlich abgleichen mit den Zahlen der Länder und Kommunen und denen des BAMF. Aber ich glaube, dafür ist es noch viel zu früh. Vor allem durch diese neue EU-Regelung, nach der ukrainische Staatsangehörige sich auch länger als drei Monate ohne Visum oder Asylantrag in Deutschland aufhalten dürfen – was ohne Frage sinnvoll ist – wird erstmal eine gewisse Zeit ins Land gehen, bevor man überhaupt in der Lage ist, das alles zu erfassen.
Aber damit bleibt doch völlig unklar, wer neben den ukrainischen Staatsbürgern alles nach Deutschland und in die EU strömt. Dann droht doch kein Kontrollverlust mehr, er ist vielmehr schon da.
Genau, der Kontrollverlust ist da. Die Zustände sind momentan sogar noch schlimmer als 2015, und zwar sowohl zahlenmäßig als auch, was die Organisation angeht.
Und der WDR weiß es offenbar. Nur andere – auch TE – bekommen leider keine Antwort auf ihre Fragen.
Da sind Sie aber in guter Gesellschaft, ich habe auch noch keine Antwort auf meinen Brief an die Ministerin.
Nach der aktuellen Chaosphase könnte es richtig haarig werden
Was ist nun genau das behördliche Problem mit den Drittstaatern aus der Ukraine? Welche Schritte müssen bei einem solchen Migranten auf die Einreise folgen?
Der Drittstaater, der an der EU-Außengrenze auftaucht, der also zum Beispiel aus der Ukraine nach Polen einreist, der braucht eigentlich schon für die Einreise einen sogenannten Sichtvermerk, also einen Aufenthaltstitel, der ihn berechtigt, den Schengenraum zu betreten …
… ein Schengen-Visum …
Genau, und da gibt es verschiedene Kategorien, unter anderem auch das sogenannte Ausnahmevisum. Mit der Erteilung eines solchen Ausnahmevisums würde die Person schon an der EU-Außengrenze registriert sein und dürfte sich dann für die Geltungsdauer des Visums ganz legal im Schengenraum bewegen. Das passiert aber offensichtlich nicht. Die Polen registrieren, so gut sie können, denn was hier in Deutschland passiert, ist nicht ansatzweise vergleichbar mit dem, was da an der polnisch-ukrainischen Grenze los ist. Da sind 1,7 Millionen Menschen angekommen, die man gar nicht alle erfassen kann. Wir wären jetzt eigentlich als Schengen-Vertragspartner in der Pflicht, zu schauen: Sind denn die Drittstaater, die hier mit ihren ukrainischen Visa ankommen, überhaupt schon registriert worden? Aber nicht einmal das dürfen wir als Bundespolizei.
Nun sind die Polen also überlastet, folglich kommen Menschen ohne gültiges Schengen-Visum in Deutschland an. Was ist in diesem Fall zu tun?
Zuständig für den Grenzschutz ist per Gesetz die Bundespolizei. Das ist sie auch, wenn die Grenze nicht notifiziert ist (also bei Verzicht auf feste Grenzkontrollen, Anm. der Red.), nämlich im Rahmen der Schleierfahndung in einem Umkreis bis zu 30 Kilometern. Dafür haben wir aber gar kein Personal, weil das momentan völlig gebunden ist in den „Bearbeitungsstraßen“, in denen noch nicht registrierte Flüchtlinge und Migranten registriert werden. Sie werden also derzeit an keiner einzigen Autobahn oder Bundesstraße eine Streife der Bundespolizei finden, weil die Kolleginnen und Kollegen vorrangig in diesen Bearbeitungsstraßen eingesetzt werden.
Die Bundespolizei rennt den Zuständen heute also hoffnungslos hinterher. Es gibt also derzeit gar keine Kontrollen an den relevanten Grenzen, mit der einzigen Ausnahme der deutsch-österreichischen Grenze, wenn ich recht sehe?
Da wird kontrolliert, weil diese Grenzübergänge auch notifiziert sind. Das heißt, da haben wir einen Überblick. Und da wäre die Statistik, wenn man eine erheben würde, nur über die Einreise aus Österreich, auch wirklich repräsentativ.
Diese Zahlen dürften ja intern existieren.
Ja, die werden sicherlich existieren, aber auch die Bundespolizei hat vom Ministerium einen so extremen Maulkorb verpasst bekommen, dass selbst ich schon ein schlechtes Gewissen habe, bei Kollegen nachzufragen, ob ich mal aktuelle Zahlen bekomme.
Was eigentlich unglaublich ist, denn zuletzt geht das ja auch die Öffentlichkeit etwas an. Um das andere Thema noch abzuschließen: Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Drittstaater ohne Schengen-Visum in Deutschland eigentlich einen Asylantrag stellen müssten, um sich überhaupt legal im Lande aufhalten zu können.
Vollkommen richtig, und meine Befürchtung ist, dass die Menschen jetzt den Zeitraum der Chaosphase nutzen, und wenn es später haarig wird und nach dem Status gefragt wird, dann kommt das Zauberwort Asyl, und dann beginnt das langjährige Verfahren. Das ist das Problem, das wir haben, das aber unsere Ministerin noch nicht erkannt hat – offensichtlich, trotz Beratung.
„Laienhafter Umgang der Regierung mit sich stellenden Problemen“
An den nicht notifizierten Grenzen zu Polen und Tschechien wird also normalerweise stichprobenartig kontrolliert, aber heute praktisch gar nicht, was Sie beides beklagen. Welche Nachteile hat denn das stichprobenartige Kontrollieren aus Ihrer Sicht?
Stichprobenartiges Kontrollieren bedeutet ja immer eine Kontrolle aus der Streife heraus. Damit erreicht man aber normalerweise nur eine Kontrolldichte von allerhöchstens 20 Prozent des Reiseverkehrs. Wenn Sie diese Kontrolldichte „verstärken“ wollen – so wie es im Herbst hieß: „Die Bundespolizei fährt verstärkte Grenzüberwachung“ –, wenn Sie die Kontrolldichte auch nur von 20 auf 30 Prozent heben wollen, würde man dazu fast doppelt so viel Personal benötigen wie im Normalfall. Das ist also sehr, sehr, sehr kräfteintensiv. Auch im Sinne meiner Kollegen fordere ich deshalb die stationären Kontrollen, weil damit zum einen eine sehr hohe Kontrolldichte erreicht wird, und zum anderen spare ich mir immens viel Personal.
In Ihrem Brief an die Ministerin schreiben Sie weiter, die Bundespolizei sei wegen dieser stichprobenartigen Kontrollen auch ins Visier von „Menschenrechtsorganisationen und politisch beeinflusster Presse“ geraten, die zum Teil den Vorwurf des „racial profiling“ erhöben. Können Sie das noch einmal erläutern? Ist so etwas schon häufiger passiert?
Nein, das ist eigentlich ein neuer Vorwurf. Nehmen wir mal eine ganz normale Routinekontrolle zu normalen Zeiten, abseits der aktuellen Flüchtlingslage, als Beispiel. Die Bundespolizei geht also durch die Züge und führt Befragungen durch, etwa vor dem Hintergrund der Schleusungskriminalität. Wenn Sie jetzt ein bestimmtes polizeiliches Lagebild haben und wissen, dass die Schleuser, die den Zug von Warschau nach Berlin nutzen, vorrangig Afghanen sind, dann kontrollieren Sie stichprobenartig natürlich keine Schweden, sondern Afghanen. Und dasselbe machen die Kollegen jetzt im Prinzip auch.
Die derzeitigen Kontrollen sind also nicht auf ukrainisch aussehende Personen gerichtet, sondern auf Personen, die augenscheinlich nicht aus Mittel- oder Osteuropa, sondern aus Afrika oder Asien stammen. Und dann haben wir den Salat: Wir haben von 50 Zuginsassen nur 20 kontrolliert und müssen uns als Rassisten beschimpfen lassen. Dabei ist der Vorwurf wirklich Unsinn, weil die Bundespolizei nun einmal den gesetzlichen Auftrag hat, unerlaubte Einreisen zu verhindern. Dagegen würde bei einer stationären Kontrolle jeder durch die Kontrolle laufen, das heißt, solche Vorwürfe müssten sich unsere Kollegen dann zumindest nicht mehr anhören.
Ihre Kollegen kontrollieren also auch in diesen Fällen, um klandestine illegale Einreisen zu verhindern. Nehmen wir einmal den gegenteiligen Fall an – ein Migrant reist illegal ein, meldet sich aber nicht bei einer Behörde, bleibt klandestin –, gibt es dann nicht die Gefahr von Straftaten, zum Beispiel Schlepperei, Schwarzarbeit, Menschenhandel zum Zweck der Prostitution?
Das ist genau der Punkt. Heute hatte ich eine Anfrage von der Bild-Zeitung wegen eines Falls aus der vergangenen Nacht. In einer Flüchtlingsunterkunft in Düsseldorf soll eine achtzehnjährige Ukrainerin erst von einem Iraker und dann von einem Nigerianer vergewaltigt worden sein. Ich kann dazu nur sagen: Schleuserkriminalität, Menschenhandel und Förderung der Prostitution sind kriminalgeographisch ein Deliktfeld. Gerade bei diesen Inlandsaufgriffen, die Sie beschreiben, ist es immer wieder so, dass neben der Schleusertätigkeit auch Menschenhandel und Förderung der Prostitution eine Rolle spielen. Und da wundert es mich auch nicht mehr, dass es zu solchen Übergriffen kommt.
Und leider muss man sagen: Diese großherzigen Menschen, die in Berlin auf dem Hauptbahnhof stehen und den Menschen private Unterkünfte anbieten, machen das auch nicht immer aus reiner Menschenliebe. Es gibt leider auch schwarze Schafe, die die Not der Menschen schamlos ausnutzen, sie gleich bei Einreise abfangen und sie im schlimmsten Fall der Zwangsprostitution zuführen. Das wird von der Bundesregierung leider vollkommen ausgeblendet. Dabei könnte man durch Grenzkontrollen oder Kontrollen an Bahnhöfen ein geordnetes Verfahren herbeiführen, das Menschen wirksam vor solchen Straftaten schützt.
In Berlin beklagen inzwischen sogar die freiwilligen Helfer in einem Aufruf an den Senat, dass man endlich „Struktur und Kontrolle“ am Hauptbahnhof brauche. Da scheinen Sie im Grunde etwas Ähnliches zu fordern. Ich will aber noch einmal weiter fragen: Im Grunde ist es doch ein riesiges Staatsversagen, wenn Menschen, Flüchtlinge eingeladen werden, und man es dann Privatleuten überlässt, sich um sie zu kümmern, ohne einen behördlichen Rahmen bereitzustellen.
Ja, das ist eine falsch verstandene Hilfsbereitschaft unserer Bundesregierung. Aber vermutlich werden Sie bei dieser linken Regierung mit Forderungen nach Kontrollen an der Grenze oder an Bahnhöfen nicht durchdringen. Dasselbe Problem hatten wir schon bei der Ex-Kanzlerin, aber in dieser Regierungskonstellation glaube ich noch weniger daran. Ich kann mich hier nur sicherheitspolitisch und als langjähriger Polizist äußern, und ich bin fassungslos angesichts dieses laienhaften Umgangs mit den sich stellenden Problemen.
Lesen Sie hier Teil 2 des Gesprächs mit Heiko Teggatz.