Tichys Einblick
Interview

„Nur eine Minderheit äußert sich“

Nur bei anonymen Wahlen offenbaren die Leute noch ihre wahren Präferenzen. Meinungsumfragen erfüllen ihren Zweck immer weniger, weil die Menschen kaum noch bereit sind, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu vertreten. Ein Gespräch mit dem Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger

Tichys Einblick: Herr Professor Kepplinger, in Umfragen zeigt sich ein erstaunliches Phänomen: Es gibt in Deutschland mittlerweile eine wachsende Zahl von Menschen, die Kernkraft beibehalten würden. In Umfragen zum Gendern spricht sich eine deutliche Mehrheit gegen das Gendern aus. Trotzdem spiegeln sich diese demoskopischen Mehrheiten in den Medien kaum und in der Politik so gut wie gar nicht wider. Warum können sich diese Mehrheiten nicht durchsetzen?

Hans Mathias Kepplinger: Wenn eine Umfrage für eine Meinung eine numerische Mehrheit ermittelt, dann heißt das nicht notwendigerweise, dass die öffentliche Meinung dem entspricht. Nehmen wir an, dass in einer Umfrage die Mehrheit für Kernenergie ist, aber nur eine Minderheit bereit ist, ihre Meinung öffentlich zu vertreten, wird sie nicht erkennbar.

Müsste in einer Demokratie nicht die Mehrheit den Ausschlag geben, unabhängig davon, wie viele ihre Ansicht auch in der Öffentlichkeit verfechten?

Bei Wahlen ist das der Fall, aber nicht in ihrem Vorfeld. Diese Vermutung wäre nur richtig, wenn die Mehrheit der Landbevölkerung, der Hauptschüler und der Arbeiter genauso bereit wären, ihre Meinung zu kontroversen Themen öffentlich zu vertreten wie die Mehrheit der Stadtbevölkerung, der Gymnasiasten und der Selbstständigen. Das sind sie aber nicht. Die Bereitschaft dazu hängt von der Bildung, vom Beruf und vom Wohnort ab. Deshalb sind die Meinungen der Stadtbewohner mit höherer Bildung in gehobenen Berufen öffentlich präsenter als die Meinungen anderer Menschen. Ein „Zeit“-Leser exponiert sich nicht nur eher als ein Leser der katholischen „Tagespost“, seine Sichtweise wird zudem von seiner Zeitung auch noch weiterverbreitet. Das stärkt sein Gefühl, recht zu haben.

Wie werden dann überhaupt aus Umfragemehrheiten auch gesellschaftlich und politisch relevante Mehrheiten?

Schweigende Mehrheiten und Minderheiten werden gesellschaftlich und politisch relevant, wenn hinreichend viele sich öffentlich exponieren, wenn sie ihre Sichtweise auch gegen Widerstände vertreten und begründen. Dazu braucht man einen langen Atem. Es hat Jahre gedauert, bis die Gegner der Kernenergie die ursprünglich positiven Meinungen im Journalismus und in der Bevölkerung gekippt hatten. Dabei können aktuelle Ereignisse helfen.

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Beim Kampf gegen die Kernenergie war 1979 der Reaktorunfall auf Three Mile Island ein solches Ereignis. Mit seiner Dramatisierung haben Aktivisten der Grünen und ihre journalistischen Weggefährten in Deutschland die Basis bereitet für die Darstellung der Reaktorkatastrophe bei Tschernobyl als Menetekel der Kernenergie. Das war in Frankreich nicht der Fall.

Einzelne Leute exponieren sich ja, ziehen allerdings sofort Angriffe auf sich.

Gesellschaftlich relevante Trendwenden werden von mutigen Außenseitern eingeleitet. Dabei müssen sie mit zwei Reaktionen rechnen: Sie werden totgeschwiegen oder skandalisiert. Weil die Vertreter der öffentlich dominierenden Meinung ahnen, dass sie ihre Meinungsmacht nur dem Eindruck verdanken, sie repräsentierten die Mehrheit. Bei den Außenseitern handelt es sich oft um junge Aktivisten und Journalisten, die sich die Bälle zuspielen. Mit Blick auf die Kernkraft werden es junge Journalisten sein, die nicht im Kampf gegen die Kernenergie sozialisiert wurden, sondern fassungslos vor dessen Folgen stehen.

Die Union hat die Wahlen spektakulär verloren. Dort sehen wir gerade die Debatte, ob sie sich wieder stärker dem traditionellen Bürgertum zuwenden oder sich noch stärker an den Grünen und an medialen Themen orientieren sollte. Kann sich die Partei in der Opposition noch regenerieren und sich damit wieder zum Sprachrohr für Mehrheiten machen?

Vermutlich kann sie sich eher in der Opposition regenerieren als in der Regierung. Die Union hat 2017 das schlechteste Wahlergebnis seit 1949 erzielt und Angela Merkel die folgende Legislaturperiode durchgewinkt. Bei der Wahl 2021 hat sie noch schlechter abgeschnitten und Armin Laschet zum Schuldigen erklärt – obwohl Merkel 2017 genauso viel verloren hatte wie er, fast neun Prozentpunkte. An dem Verhalten der Union nach dem Wahldebakel 2017 konnte man erkennen: Da ist keine politische Potenz, die einen Kampf um die Macht riskiert. Sie taumelt in den Niedergang.

In der Union geht die Anpassung an medial einflussreiche Narrative sehr viel weiter. Beispielsweise sprach auch der Kanzlerkandidat und Nochvorsitzende Armin Laschet davon, er führe den „Kampf gegen Rechts“ – und ließ sich dann trotzdem wegen seiner angeblich ungenügenden Abgrenzung durch die Arena treiben. Wie kommt es, dass eine frühere Regierungspartei eher einen Teil ihrer Wähler aufgibt – zu denen ja die demokratischen Rechten gehören –, als die Konfrontation mit dem linken Milieu zu riskieren?

Teile der Union haben sich den Schneid abkaufen lassen. Das wäre in den 1960ern, 70ern nicht möglich gewesen.

Die Macht linker Erklärungsmuster hängt eng mit der Dominanz linker Medien zusammen. Wie kam es eigentlich zu dem Übergewicht einer weltanschaulichen Richtung? Und wie kommt es, dass diese Dominanz immer noch wächst?

Die Mehrheit des gebildeten, städtischen und politisch interessierten Bürgertums ist traditionell linksliberal. Deshalb haben in größeren Städten vor allem linksliberale Zeitungen und Zeitschriften Erfolg. Diese Struktur bestand auch schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, bis die NSDAP sie zerstörte.

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Nach dem Krieg, insbesondere in den 1960ern und 1970ern, haben aber die publizistische Linke und die sie tragenden Milieus ihre frühere, moralisch grundierte Deutungshoheit und Meinungsmacht wieder erreicht. Stationen auf diesem Weg waren die späte Thematisierung der Verbrechen im Dritten Reich, die Interpretation der Studentenunruhen als Rebellion gegen eine muffige Nachkriegszeit und die von entschiedener Ablehnung bis zu mildem Verständnis reichenden Berichte über die Baader-Meinhof-Bande. Die Krönung der Entwicklung zur moralisch grundierten Deutungshoheit und Meinungsmacht der linksliberalen Medien und der sie tragenden gesellschaftlichen Milieus war die Rede von Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985.

Seine Botschaft, die Deutschen seien 1945 befreit worden, ist mittlerweile politisch-medialer Konsens. Aber hatte er denn nicht auch faktisch recht?

Hier muss man zwei Aspekte unterscheiden: die Erlebniswelt der Überlebenden und die Sichtweise der Nachgeborenen. Die Bevölkerung in den zerbombten Städten hat das Ende des Krieges als Niederlage erlebt. Sie haben in Kellern und Baracken gehaust, gefroren und gehungert. Auch die Frauen und Kinder, deren Männer und Väter gefallen oder verschwunden waren oder jahrelang in Gefangenenlagern darbten, haben das Kriegsende als Niederlage erlebt. Der oberste Repräsentant des Staates stülpt dann Jahre später unter dem Beifall vieler Medien die Interpretation einer linksliberalen Elite über die Erlebnisse von Millionen und macht, schöner Nebeneffekt, die Deutschen zu Gefangenen des Nationalsozialismus.

Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989 hätte eigentlich ein tiefer Einschnitt gewesen sein müssen – schließlich wurde die Diktatur in den Ostblockstaaten von der linken Öffentlichkeit im Westen milde betrachtet, die DDR galt nicht wenigen als das „bessere Deutschland“. Trotzdem änderte diese Zeitenwende nichts an der linken Dominanz. Warum?

Mit dem für alle offensichtlichen Scheitern des real existierenden Sozialismus hat die Linke ihre moralisch grundierte Deutungshoheit und Meinungsmacht verloren. Allerdings haben sie und die sie tragenden Milieus ihren früheren Einfluss auch wegen des Versagens der Rechtskonservativen schrittweise wiedererlangt. Der erste Schritt war die maßlose Skandalisierung der illegalen Spenden an Helmut Kohl – maßlos, wenn man die Reaktionen mit den Reaktionen auf anonyme Spenden zugunsten von Helmut Schmidt vergleicht, deren Spender auf Anweisung des Schatzmeisters der SPD nicht genannt werden durften.

„Die Linke hat lange für Toleranz gekämpft.
Seit einigen Jahren kämpfen Teile der Linken um Intoleranz“

Die Fälle sind nicht gleich, aber vergleichbar. Den Hintergrund der Skandalisierung Kohls bildete seine Rolle bei der deutschen Vereinigung, die prominente linke Politiker und Journalisten, welche einen Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 GG ablehnten, abgeschrieben hatten. Einflussreiche Vertreter dieser Positionen waren Günter Grass, Erich Böhme, Chefredakteur des „Spiegel“, und Jürgen Habermas als Gastautor der „Zeit“.

Der zweite Schritt auf dem Weg zurück zur moralisch grundierten Deutungshoheit und Meinungsmacht war 2015 die Migrationskrise. Damals ist es linken Medien und den sie tragenden Milieus gelungen, ein Bündnis zwischen linken Parteien und christlichen Kirchen zu schließen und die absehbaren politischen und gesellschaftlichen Folgen „den Rechten“ anzulasten.

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Der dritte Schritt war und ist der Kampf gegen rechts. Er richtete sich zunächst gegen die migrantenfeindlichen Ausschreitungen in den 1990ern, später gegen den rechtsradikalen Terror des NSU, dessen zehn Morde zum Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins wurden, während die 33 Morde der linksradikalen Baader-Meinhof-Bande darin kaum noch eine Rolle spielen. Das hängt auch damit zusammen, dass es im Sprachgebrauch der meisten linken Politiker und Medien keine linksradikale Gewalt gibt. Urheber der wiederkehrenden Gewaltorgien in Berlin, Dresden und Leipzig sind nicht Linksradikale, sondern „Autonome“.

Gibt es die ideologischen Verhärtungen nicht auf beiden Seiten des Spektrums?

Verhärtungen würde ich nicht sagen – Zuspitzungen, Radikalisierungen. Allerdings werden rechte Zuspitzungen meist dramatisiert und kritisiert, linke Zuspitzungen dagegen oft bemäntelt oder gerechtfertigt. Beides ist falsch. Die Linke hat lange für Toleranz gekämpft. Seit einigen Jahren kämpfen Teile der Linken um Intoleranz. Sie boykottieren die Rede eines unliebsamen Gewerkschafters wie Rainer Wendt; sie sabotieren die Vorlesung eines unliebsamen Professors wie Bernd Lucke; sie skandalisieren konservative Schriftsteller wie Sibylle Lewitscharoff und Uwe Tellkamp, und sie beenden aus politischen Gründen die Zusammenarbeit mit einer Erfolgsautorin wie Monika Maron.

Viele, die Sie nennen – man könnte auch noch Sahra Wagenknecht hinzunehmen, der neuerdings von ihren eigenen Parteifreunden vorgeworfen wird, sie sei rechts –, haben eines gemeinsam: Sie sind Ostdeutsche. Wie kommt es, dass so viele, die Kritik an den aktuellen Verhältnissen üben und umgekehrt Attacken auf sich ziehen, ostdeutsch sozialisiert sind, obwohl Ostdeutsche weniger als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen?

Wer in der Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren politisch sozialisiert wurde, ist sensibilisiert für rechte Gefahren. Wer in diesem Milieu aufgewachsen ist und lebt, wittert übersensibel Gefahren von rechts, nimmt aber Gefahren von links in seinem Milieu kaum wahr. Der Fisch ist der Letzte, der das Wasser erkennt.

Sieht also jemand schärfer, der mit anderen Erfahrungen auf die Gesellschaft schaut als die Mehrheit?

Viele aus Ostdeutschland stammende Menschen sehen unsere Gesellschaft mit anderen Augen. Sie erkennen antidemokratische Entwicklungen, die Westdeutsche in ihrer eigenen Umgebung nicht wahrnehmen. Monika Maron und andere Autoren sind wichtig, weil sie wach und vom Zeitgeist unabhängig sind. Man muss ihre Ansichten nicht teilen, es lohnt sich aber, über ihre Sichtweisen und Argumente nachzudenken.

Nun sind und bleiben Ostdeutsche immer Minderheit, und es sind auch nur die Älteren, die noch die Diktatur erlebt haben. Wo sehen Sie heute in Gesamtdeutschland Gegenbewegungen zur politischen Korrektheit und zu der Bereitschaft, sich lauten Minderheiten zu unterwerfen?

Wie meist, sieht man die am ehesten im Journalismus. Dazu gehören Henryk M. Broder, Jan Fleischhauer, Axel Bojanowski, Susanne Gaschke und zahlreiche andere. Vermutlich gibt es viele jüngere Journalisten, die noch nicht so bekannt sind, dass sie mir spontan einfallen. In Politik und Gesellschaft gibt es keine linearen Entwicklungen. Das wird auch jetzt nicht geschehen. Da bin ich optimistisch.

Hans Mathias Kepplinger, Die Mechanismen der Skandalisierung. Warum man den Medien gerade dann nicht vertrauen kann, wenn es darauf ankommt. Olzog Edition, 244 Seiten, 26,90 €


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