Friedrich Pürner war Gesundheitsamtsleiter in einem Landkreis in Bayern. Der Epidemiologe war schon vorher mit der Bekämpfung von Pandemien betraut worden. So koordinierte er die Reaktion des Freistaats auf die Ebola-Pandemie 2014-2016 in Westafrika. Nachdem er 2020 der NZZ ein kritisches Interview zu den Corona-Maßnahmen Bayerns gab, wurde er versetzt: „Strafversetzt“, wie er selbst sagt. Infolgedessen trat er immer wieder als Maßnahmenkritiker auf.
Roland Tichy: Herr Pürner, wenn Sie jetzt lesen, dass die wichtigsten Akten des RKI auf Zwang des Gerichts veröffentlicht wurden – wenn auch über weite Stellen geschwärzt – was bedeutet das für Sie, rück-blickend auf Ihre Situation?
Friedrich Pürner: Ich glaube, man muss das trennen. Ich bin ja froh, es beruhigt mich ja fast, dass die Akten in den geschwärzten Anteilen erkennen lassen, dass das RKI zumindest die Grundfesten der Fachlichkeit nicht verlassen hat. Der Skandal liegt eigentlich darin, wie mit Kritikern der Corona-Maßnahmen umgegangen wurde. Und jetzt kann man erkennen, dass das RKI selbst über diese Punkte diskutiert hat. Das ist für mich der eigentliche Skandal, und eben nicht die Schwärzungen an sich.
Das RKI war also kritisch eingestellt gegenüber den Maßnahmen, die es selber durchsetzen muss-te, aufgrund eines ungeheuren politischen Einflusses. Ist das richtige?
Wie es konkret war, können nur Entschwärzungen der noch unlesbaren Stellen zeigen. Aber ich bin jetzt lange genug beim Staat, um erkennen zu können, wie die Hierarchie funktioniert. Für mich ist es so, dass sich der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn enorm eingemischt hat, auch in diese Gespräche des RKI, in die Protokolle. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man darin seinen Namen finden wird. Das ist nicht irgendein Mitarbeiter, der hinter diesen Schwärzungen steckt. Die eigentlichen Entscheidungsträger können nur der Präsident des RKI oder der Vize- in Abstimmung mit einem Ministerium sein. In diesem Fall mit dem Bundesgesundheitsministerium. Die Entscheidungen zur Pandemie trafen keine Abteilungsleiter oder Mitarbeiter.
Karl Lauterbach betont immer, das RKI sei eine unabhängige Behörde. Wie unabhängig ist denn eine Behörde?
Diese Aussage lässt tief blicken. Karl Lauterbach hat von der Verwaltung überhaupt keine Ahnung. Das Pandemiemanagement, fällt in den Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums und somit ist jede Unabhängigkeit ganz einfach dahin. Da brauchen wir gar nicht mehr lang drüber nachdenken oder jetzt drüber reden. Das ist ganz einfach so.
Also da schafft der Minister an.
Ja, der Minister schafft durchaus an, und das ist auch gar nicht untypisch. Der wird wahrscheinlich auch nicht unbedingt immer erwähnt werden, sondern das passiert halt dann durch ein persönliches Gespräch, durch einen Telefonanruf und dann wird es einfach weitergegeben auf die nächste Ebene. Und die nächste Ebene ist natürlich der Präsident, der das Institut zu verantworten hat. Und der gibt dann wieder die Losung des jeweiligen Ministers ganz einfach weiter. So funktioniert es und jeder, der im Staatsdienst arbeitet bis in die kleinste Kommune, weiß das. So funktioniert der Staat. Auch Gesundheitsämter funktionieren so. Es mischen sich ständig Leute ein, die nicht unbedingt vom Fach sind, sondern nur noch politisch verantwortlich sind.
In den Protokollen wurde sehr viel geschwärzt, keineswegs nur Namen, wie Karl Lauterbach uns klarmachen will. Die Menge der Schwärzungen macht deutlich, dass auch sachliche Kommentare geschwärzt worden sein müssen. Ist es interne Kritik an den Maaßnahmen, die hier unkenntlich gemacht wurde?
Das ist durchaus vorstellbar. Das RKI war sich in der Außenwirkung immer sicher in den Maßnahmen. Aber wie es sich jetzt darstellt, ist es ja eher die oberste Querdenkerbehörde gewesen. Darüber bin ich tatsächlich auch ganz froh, denn ich hatte in meiner Laufbahn immer wieder mit dem Robert-Koch-Institut zu tun und ich kenne oder kannte den ein oder anderen Mitarbeiter. Im RKI arbeitet qualifiziertes, hochqualifiziertes Personal. Auch ich habe mich damals nur deswegen so weit aus dem Fenster gelehnt [die Corona-Maßnahmen Bayerns kritisiert, Anm. d. Red.], weil ich die Ansichten der Mitarbeiter des RKI kannte.
Was waren Ihre Kritikpunkte, für die Sie gefeuert wurden?
Ich habe die Inzidenz, die positive Tests als Krankheitsfälle wertete, kritisiert. Wie wir jetzt sehen, waren wohl auch viele PCR-Tests falsch positiv. Und selbst wenn er nicht falsch positiv war: Was bedeutet ein positiver Test schon, wenn man keine relevanten Symptome hat? Damit ging es los. Auch kritisierte ich den Maskenzwang, für Kinder aber auch die Allgemeinheit. Das war noch lange bevor FFP2-Masken zum Thema wurden. Es ging um diese komischen Stoffmasken. Mit FFP2-Masken war es noch schlimmer: Wer mit ihnen nicht umgehen kann, dem bringen die nichts. Und das betrifft die allermeisten Bürger.
All das wusste das RKI also doch. Und das freut mich, denn das RKI war eigentlich einmal ein Institut, zu dem ich aufgeschaut habe. So komme ich mir jetzt nicht mehr ganz alleine vor. Der Skandal ist für mich, dass diese Bedenken nur im inneren geäußert wurden: Und in der Öffentlichkeit wurden alle Kritiker der Maßnahmen in den Boden gerammt, sozial und beruflich geächtet.
Sie singen ja eine Art Hohelied auf das hochqualifizierte Personal. Fachleute, die Sie bewundert haben. Fachleute, die offensichtlich auch Bedenken in Ihrem Sinne geäußert haben. Fachleute, die eigentlich Querdenker waren. „Oberste Querdenker-Behörde“ ist dazu ein schöner Begriff. Aber auch diese Fachleute wurden also intern im RKI offensichtlich, na ja, weggeschoben. Um es vorsichtig zu sagen.
Ich weiß nicht, was mit den internen Kritikern passiert ist. Aber jeder, der im Staatsdienst arbeitet, kennt die Folterinstrumente, die gegen ihn in Stellung gebracht werden können. Und da kann es durchaus passieren, dass Mitarbeiter, die etwas kritisch waren, vielleicht woanders hingeschoben wurden. Oder man hat sie dann plötzlich nicht mehr zu Besprechungen mitgenommen. Was genau passiert ist, das weiß ich nicht. Der Punkt ist aber der: Nicht alle Wissenschaftler im RKI haben feste Arbeitsverträge. Sie sind auch immer auf „Goodwill“ angewiesen, damit ihre Verträge verlängert werden. Um es bayrisch zu sagen: Dann hält man halt das Maul.
Gerade Wissenschaftler aus dem Ausland haben dann noch ihre Familie mitgebracht. Riskiert man dann alles, um recht zu haben? Und Beamte werden auch ganz einfach entsorgt, wenn sie stören. So ist das Staatswesen. Die Verwaltung ist sehr brutal unterwegs und erstickt leider Gottes ganz kreative, kluge Leute und deren Meinung.
Was treibt die Politik dazu solche Sachen durchzusetzen? In der Krise konnte man am Anfang nicht wissen, was der richtige Ansatz ist. Das ist normal. Also lässt man sich von Fachleuten beraten und setzt deren Vorschläge mit dem einen oder anderen Abschlag politischer oder praktischer Natur um. Wie kann die Politik aus eigener Inkompetenz heraus Entscheidungen treffen, die dieses ganze Land lahmlegen, die Menschen zum Teil in Not und Elend stürzen und vielleicht sogar gesundheitliche negative Folgen haben?
Es gibt viele Gründe, die ich aufzählen könnte. Von Größenwahn bis hin zu Angst oder Machterhalt. Man hat ja noch ein gewisses Verständnis für Politiker, dass sie in neuen Situationen nicht immer entspannt bleiben und sagt „Jetzt warten wir erstmal ab“. Das wäre auch nicht glaubwürdig. Die Bevölkerung will ja auch Politiker sehen, die die Situation in die Hand nehmen. Das ist alles normal. Der Fehler war, dass versäumt wurde Daten zu erheben und die durchgeführten Maßnahmen kritisch zu bewerten. Das hätte meiner Meinung nach dem ersten Lockdown, Ostern 2020 passieren müssen. Von dort an regierte ein grausames Gemisch an Angst und einer schrecklichen Fehlerkultur. Bestimmte Politiker konnten von nun an nicht mehr zurück. Wenn man sich anschaut, was die einzelnen Ministerpräsidenten von sich gegeben haben, das war ja schon fast ein Wettbewerb. Ein Wettbewerb der Grausamkeiten und der unsinnigsten Aussagen, die mal, die man einfach gehört hat.
Man hat versucht, sich zu übertrumpfen mit Maßnahmen und mit Aussagen, mit Angst, mit Restriktionen. Ab einem bestimmten point-of-no-return hätte es zu viele Stimmen gekostet, zuzugeben, dass man falsch lag. Also mussten die Maßnahmen mit aller Kraft durchgepeitscht werden.
Das ist eine Erklärung. Die andere Erklärung ist, dass dahinter eine ungeheurere Macht steht und Leute, die ganz viel Geld haben und die Weltherrschaft an sich reißen. Nun ja, dem mag ich nicht folgen.
Also wenn ich das zusammenfasse, dann sagen Sie, die größte Schwäche war, dass der Diskurs abgeblockt wurde. Im RKI, in den Medien, in der Politik und in der Öffentlichkeit. Was ist der nächste Schritt? Denn ich beobachte, dass viele Menschen die Demütigungen, die sie erfahren haben, nicht vergessen haben und dass die Verbitterung bei vielen Menschen eher wächst, statt zu verschwinden.
Richtig. Genau deshalb braucht es ein Signal, dass prominente Menschen, denen man Unrecht getan hat, dass die wieder vollständig rehabilitiert werden. Dazu gehört natürlich auch, dass man untersucht, was in der Gesellschaft schiefgelaufen ist. Und deshalb braucht es ganz dringend eine Aufarbeitung der Corona-Zeit. Darüber diskutieren wir schon lange. Dafür sind die RKI-Files ein richtiger Türöffner, denn jetzt müsste allen wirklich klar sein, was hier abgelaufen ist.
Öffentlich-Rechtliche Medien, aber auch Politiker in den sozialen Medien fangen an eine Aufarbeitung zu fordern. Wir brauchen eine Aufarbeitung, aber das darf keine halbherzige werden. Dem ist mit einer Kommission schon lange nicht mehr genüge getan. Ich finde, es braucht einen richtigen Untersuchungsausschuss.
Dieses Interview ist eine gekürzte Verschriftlichung eines Video-Interviews, das Roland Tichy mit Friedrich Pürner geführt hat. Sie finden das Video in ungekürzter Video-Fassung hier: