Tichys Einblick
Interview mit DARIUSZ PAWŁOŚ

Polens Botschafter nennt Entschädigung für deutsche Weltkriegsschäden „Staatsraison“

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verschlechtern sich. Polen unterstützt die Ukraine massiv und erwartet mehr Engagement von Berlin. Brisant ist die geforderte Billionen-Entschädigung für Weltkriegsschäden. Mit dem neuen polnischen Botschafter Dariusz Pawłoś sprach Wojciech Osinski.

Dariusz Pawłoś ist seit dem 30. November 2022 der neue Botschafter der Republik Polen in Deutschland

Wojciech Osiński: Herr Botschafter, „jeder Anfang hat ein Ende”, heißt es in einem Klassiker. Nun sind bereits einige Wochen seit Ihrem Amtsantritt vergangen und vielleicht lohnt es sich, die Ereignisabfolge seit ihrer Akkreditierung im Schloss Bellevue kurz zu rekapitulieren. Ein anderes Sprichwort lautet: „Aller Anfang ist schwer“. Wie war es bei Ihnen?

Dariusz Pawłoś: Ich habe mich über die Rückkehr nach Berlin sehr gefreut, eine Rückkehr nach einer zugegebenermaßen recht kurzen Pause. Ich verbrachte vorher in der deutschen Hauptstadt vier Jahre. Ich war Pressesprecher der Polnischen Botschaft in Berlin und Leiter des Referats für Kommunikations- und Öffentlichkeitarbeit. Ich denke gern an diese Zeit zurück, habe mich hier stets wohlgefühlt. Ich denke auch gern an die Zusammenarbeit mit meinem Amtsvorgänger Andrzej Przyłębski zurück. Nun bin ich wieder da und arbeite mit einem teilweise neuen Team zusammen.

Welche Ereignisse erforderten in den letzten Wochen Ihre besondere Aufmerksamkeit?

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Ein wichtiges Ereignis, mit dem wir uns eigentlich alle konfrontiert sehen, ist natürlich der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Er beschäftigt nicht nur mich, sondern das gesamte diplomatische Corps. Vor neue Herausforderungen stellen uns auch die deutsch-polnischen Beziehungen, die zuletzt etwas angespannt waren. Angespannt ist allerdings die Situation in ganz Europa, vornehmlich wegen des Ukraine-Kriegs, der damit zusammenhängenden Energiekrise oder etwa der galoppierenden Inflation. Wir haben aber auch einige Erfolge zu verzeichnen: Der deutsch-polnische Handelsumsatz ist auf einem Allzeithoch. Im letzten Jahr wurde im bilateralen Handel die Marke von 160 Milliarden Euro geknackt. Dies ist ein Rekord. Es gibt jedoch auch ungelöste Probleme, wie z. B. unsere gemeinsame, unverarbeitete Vergangenheit. Doch dafür sind wir hier. Wir möchten diese Vielzahl an Aufgaben bewältigen und weiterhin die deutsch-polnische Zusammenarbeit fördern.

Gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit waren Sie mit dem Berlin-Besuch des polnischen Staatschefs Andrzej Duda beschäftigt. Einige Tage vorher gastierte in der deutschen Hauptstadt auch Polens Vizeaußenminister Arkadiusz Mularczyk. Beide Besuche standen im Zeichen der polnischen Reparationsforderungen. Die Bundesregierung hat in einer am 3. Januar eingegangenen diplomatischen Note den polnischen Forderungen nach Kriegsentschädigung förmlich eine Absage erteilt. Es geht um mehr als 1,3 Billionen Euro. Wie geht es weiter?

Dieser Prozess ist tatsächlich sehr komplex. In unserer gemeinsamen Nachkriegsgeschichte gibt es keinen einzigen bilateralen Vertrag, der das Thema Reparationen abschließend geklärt hätte. Dabei ist die unbezahlte Rechnung für die materiellen, kulturellen und rein menschlichen Schäden astronomisch. In der Vergangenheit hat sich aber leider keine polnische Regierung gekümmert. Erst am 1. September vergangenen Jahres hatte eine Kommission des polnischen Parlaments einen Bericht vorgestellt, der die Höhe der Weltkriegsschäden auf mehr als 1,3 Billionen Euro beziffert. Diese Summe ist auf den ersten Blick sehr hoch, zeigt aber auch die faktische Ausdehnung der Topographie des deutschen Terrors auf polnischem Boden. Diese Zahlen wurden mit Bedacht und größter Vorsicht zusammengetragen und wir möchten nun die deutsche Öffentlichkeit an den Ergebnissen dieser Detailarbeit teilhaben lassen. Am 3. Oktober hatte dann Polen dazu in der Tat eine diplomatische Note an die Bundesregierung geschickt, in der die besagte Summe gefordert wurde. Die Reaktion der Bundesregierung war enttäuschend. Unsere Partner wollen offenbar gar nicht erst mit uns darüber reden. Deshalb müssen wir weiterhin auf die öffentliche Meinung in der BRD einwirken und die Deutschen zu einer Wissenserweiterung animieren. Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass dieses Problem ungelöst ist. Dabei sollten wir wiederum alle politischen, medialen und wissenschaftlichen Kanäle nutzen. Polens Vizeaußenminister Arkadiusz Mularczyk kommt bald nach Berlin, mit einer neuen deutschen Übersetzung des zuletzt veröffentlichten Berichts über Kriegsreparationen im Gepäck. Dieses Dokument schafft erst die Grundlage dafür, dass wir künftig weiter diskutieren können, sowohl in Deutschland als auch im internationalen Rahmen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass die Bundesregierung spätestens dann ihren Standpunkt ändern und mit Polen diesbezüglich verhandeln wird.

Der Chefkommentator der Tageszeitung „Die Welt“ Jacques Schuster behauptet, die Reparationsforderungen der polnischen Regierung sollen von den Problemen an der Weichsel ablenken. Mehr noch: Schuster fügt kontrafaktisch zu, dass die Polen sich während des Warschauer Ghettoaufstands im Jahr 1943 passiv verhielten und die Juden im Stich gelassen hätten. Nach einem deutschen Schuldeingeständnis werden im zweiten Abschnitt die Polen der „Mittäterschaft“ bezichtigt. Wie kann man aus polnischer Sicht mit der Verbreitung solcher Unwahrheiten umgehen?

Zunächst einmal möchte ich erwähnen, dass wir in der diplomatischen Note den Terminus „Reparationen“ gar nicht verwenden. Wir sprechen darin über „Kriegsentschädigungen“, „Wiedergutmachung”, „immateriellen Schäden“ und „personellen Verlusten“. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, dass es ebenfalls in der deutschen Medienwelt Personen gibt, die unseren Forderungen mit der nötigen Empathie begegnen. Andererseits gibt es leider immer noch Redakteure, die sämtliche Vorurteile bedienen und Unwahrheiten verbreiten, die uns verletzen.

Ich möchte daran erinnern, dass wir es hier mit keinem Nischenmedium zu tun haben, sondern mit einer Tageszeitung, die sich einer gewissen Bedeutung erfreut. Den Text verfasste der Chefkommentator der „Welt“, obendrein ein Historiker.

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Dieser Text hat in Polen ja auch verständliche Wut und Entrüstung ausgelöst. Vizeaußenminister Paweł Jabłoński hat sofort reagiert, es gab schriftliche Zurechtweisungen von Historikern. Ich selbst habe auch entsprechend reagiert und wir bereiten gerade eine längere polemische Erklärung vor, die bestimmte Wissenslücken schließen wird. Aber wir müssen uns auch im Klaren sein, dass vor allem in den Medien Fehlinformationen über die polnische Historiographie und die Rolle der Polen im Zweiten Weltkrieg weiterhin kursieren können. Die Vorurteile resultieren einerseits aus eklatanter Unwissenheit, werden aber bisweilen ebenso ganz gezielt eingesetzt, um die polnische Position zu schwächen. Der Text von Jacques Schuster ist das beste Beispiel dafür.

In Deutschland wird oft behauptet, die Entschädigungsgesuche Warschaus seien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie möchten Sie die deutschen Politiker überzeugen?

Wir müssen noch viel Überzeugungsarbeit leisten, vor allem unterstreichen, dass die diplomatische Note sowie der Bericht über Kriegsreparationen keineswegs Wahlthemen sind, sondern unumstößlich und dauerhaft zu unserer Staatsräson gehören. Über 70 Prozent der Polen unterstützen unsere Forderungen. Auch große Teile der polnischen Opposition im Sejm sind dafür. Daher wäre es angebracht, wenn auch die deutschen Politiker sich eingehender mit dem Bericht befassen.

Der Krieg ist bedauerlicherweise nach Europa zurückgekehrt. Die russische Aggression in der Ukraine dauert nun schon beinah ein Jahr. Die Polen und Deutschen helfen gemeinsam den ukrainischen Flüchtlingen, wenn es aber um militärische Hilfe für Kiew ging, dann war die Bundesregierung mitunter zurückhaltend. Jetzt will Deutschland weitere Panzer liefern, wir erleben schon die dritte „Zeitenwende“ innerhalb von 10 Monaten. Und dennoch: Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Deutschland mehr leisten könnte. Oder ist die bisherige „Zeitenwende“ schon mehr als genug?

Eine Veränderung in der bundesdeutschen Politik ist unzweifelhaft erkennbar. Allerdings haben wir gehofft, dass sie etwas schneller eintreten würde. Man konnte zunächst schon eine gewisse zurückhaltende und abwartende Haltung Berlins gegenüber Kiew beobachten. Polen hingegen hat sofort militärische Hilfe geleistet, nicht nur humanitäre oder finanzielle. Wir haben gemäß der Regel „wer schnell gibt, gibt doppelt“ gehandelt. Inzwischen können wir jedoch feststellen, dass Deutschland seine Militärhilfe für die Ukraine stetig erweitert und dies ist ohne Zweifel ein positives Signal. Kurzum: Es ist ein Umbruch in der deutschen Verteidigungspolitik zu konstatieren, doch bleibt auch festzuhalten, dass in der deutschen Rüstungsindustrie mehr Potenzial steckt, als aktuell genutzt wird. Nun sollen nach längerem Hin und Her Marder-Schützenpanzer und das Patriot-System an die Ukraine geliefert werden, hoffentlich bald auch Leopard-Kampfpanzer. Eines steht fest: Die polnischen Ratschläge werden in Berlin gehört. Das freut uns sehr.

Der vor über 30 Jahren in Kraft getretene Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler dies- und jenseits der Oder „die Sprache des anderen Landes erlernen“. Zugleich unterstreicht er die „Notwendigkeit einer erheblichen Erweiterung“ der deutsch-polnischen Kooperation in dieser Hinsicht. Der polnische Bildungsminister Przemysław Czarnek hat kürzlich während seines Berlin-Besuchs angekündigt, dass die deutsche Regierung einen speziellen Fonds einrichten werde, um den Erwerb des Polnischen als Muttersprache in der BRD stärker zu unterstützen. Dies ist zweifelsfrei ein Erfolg. Nichtsdestotrotz herrscht immer noch eine gewisse Asymmetrie zwischen beiden Ländern vor – zumindest in dieser Hinsicht, oder?

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Wir beobachten tatsächlich eine anhaltende Asymmetrie zwischen dem Polnischunterricht in Deutschland und dem Deutschunterricht in Polen. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Polen zwei Millionen junge Menschen die deutsche Sprache erwerben und dies durch öffentliche Mittel finanziert wird. In Berlin leben Millionen polnische Kinder und Jugendliche und nur 14.000 von ihnen wird der Erwerb des Polnischen auf muttersprachlichem Niveau ermöglicht. Finanziert wird dies vornehmlich auf Landesebene. Ein Fonds auf bundesdeutscher Ebene ist natürlich ein wichtiges Signal, wird das Problem jener Asymmetrie jedoch nicht lösen, weil mindestens 200.000 Kinder in Deutschland die polnische Sprache erwerben möchten. Eine Million Euro aus dem Bundeshaushalt ist zu wenig, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Bildungsminister Czarnek hat sich nach dem Treffen mit seiner deutschen Amtskollegin ebenfalls mehr erhofft. Es kann ja sein, dass diese Summe in den nächsten Jahren weiter anwachsen wird. Aber vermutlich wird sie auch dann nicht ausreichen, um den sprachlichen Bedürfnissen der polnischen Kinder in Berlin oder Deutschland gerecht zu werden.

Wie kann man dies aus polnischer Sicht verändern?

Es gibt in der Bundesrepublik zahlreiche Institutionen, die sich hierzulande bereits jetzt schon um eine Qualitätsanhebung des Polnischunterrichts bemühen. Diese Institutionen, die zumeist von staatlichen Behörden in Polen unterstützt werden, müssten hier noch stärker finanziell abgesichert werden. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk leistet ebenso einen entscheidenden Beitrag für die Popularisierung des Polnischen in Deutschland sowie des Deutschen in Polen. In den deutschen Schulen, für die insbesondere die Bundesländer verantwortlich sind, bliebe in dieser Hinsicht noch viel zu tun, aber es ist möglich. Eine stärkere schulische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern wird ja von Polen angestrebt, nur es sind häufig die deutschen Partner, die solcherlei Vorschlägen skeptisch gegenüberstehen. Vielleicht werden sie irgendwann einsehen, dass Polen ein wichtiges Nachbarland ist. Und es lohnt sich, seinen Nachbarn zu besuchen.

Wie sehen die Pläne der Polnischen Botschaft für das Jahr 2023 aus?

Unsere Pläne für das Jahr 2023 sind sehr ehrgeizig. Unser vorrangiges Ziel bleibt selbstredend die Intensivierung des deutsch-polnischen Dialogs, und zwar auf allen Ebenen: der politischen, amtlichen und sozialen. Wir möchten zu der Tradition der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen zurückkehren. Das letzte Mal fanden sie im Jahr 2018 statt. Wir müssen wieder an den Punkt gelangen, dass die Ministerien beider Länder sich wieder problemlos austauschen können. Unseren gemeinsamen Interessen und Herausforderungen sind gigantisch: der beschriebene Ukraine-Krieg, zudem gibt es nach wie vor zahlreiche wirtschafts-, energie- und klimapolitische Fragen zu klären. Wir freuen uns, dass im Januar der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wieder in Berlin zu Gast sein wird, wo er viele deutsche Kollegen trifft. Im Februar findet überdies die Münchner Sicherheitskonferenz statt. Wir erwarten, dass u.a. Staatspräsident Andrzej Duda und der polnische Chefdiplomat Zbigniew Rau zugegen sein werden. Und ich möchte daran erinnern, dass wahrscheinlich schon in diesem Jahr unsere neue Botschaft ihre Tore öffnen wird. Das neue Gebäude an der Berliner Prachtstrasse Unter den Linden wird weltweit eines der modernsten und schon bald mit Inhalt und Leben gefüllt sein.

Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch.


Dariusz Pawłoś ist Germanist und Diplomat, der in der Vergangenheit verschiedene Ämter im polnischen Außenministerium bekleidete. Bis 2021 war er Pressesprecher des polnischen Botschafters Andrzej Przyłębski, vorher Vorstandschef der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung. Zuletzt war er Geschäftsführer des Deutsch-Polnischen Jugendwerks. Seit dem 30. November 2022 ist er der neue Botschafter der Republik Polen in Deutschland.

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