Tichys Einblick
TE-INTERVIEW

Brüssel hat uns allzu viele Zugeständnisse abgetrotzt

Der polnische EU-Abgeordnete (PiS) Zdzisław Krasnodębski befürchtet Souveränitätsverluste einzelner Nationalstaaten. Diese Veränderungen hätten schon längst begonnen, wenngleich nur schleichend. Daher sei die Europawahl so eminent wichtig, denn nur die Wähler können diesen Prozess aufhalten.

„Ich war nicht mit jeder Entscheidung von Mateusz Morawiecki einverstanden“ – sagt der polnische EU-Abgeordnete (PiS) und frühere stellvertretende EU-Parlamentsvorsitzende Zdzisław Krasnodębski im Rückblick auf den jahrelangen Konflikt zwischen Brüssel und der im Herbst 2023 abgewählten polnischen Regierung. Im Interview mit „Tichys Einblick“ ergänzt der Soziologie-Professor: „Wir hätten weniger aggressiv im Ton, dafür aber härter im Verhandeln sein müssen“.

Tichys Einblick: Konservative Politiker in Warschau behaupten, bei diesen Europawahlen stünde die nationale Souveränität Polens auf dem Spiel. Wie beurteilen Sie solche Aussagen? Stimmt das?

Zdzisław Krasnodębski: Nur dann, wenn tatsächlich der angekündigte Aufruf an die Staats- und Regierungschefs erfolgt, einen Konvent zur Überarbeitung der Verträge einzusetzen. Zu den kontrovers diskutierten Vorschlägen gehören unter anderem die Abschaffung der Einstimmigkeit im Rat sowie die Ausweitung der EU-Befugnisse in den Bereichen der Energie- und Wirtschaftspolitik. Dann wäre dies ein höchst gefährlicher Schritt in Richtung eines europäischen Föderalstaates. Manche Parteien in Deutschland wollen Europa bekanntlich „umdenken“, träumen von den „Vereinigten Staaten von Europa“.

Sie verschweigen jedoch, dass dies mit einem Souveränitätsverlust einzelner Nationalstaaten einherginge. Diese Veränderungen haben schon längst begonnen, wenngleich nur schleichend. Es wird wahrscheinlich keine große Reform geben. Die Souveränität einzelner Länder schwindet langsam, aber sie schwindet. Daher ist die Europawahl am 9. Juni so eminent wichtig, denn nur die Wähler können diesen Prozess aufhalten.

Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen: In der Ukraine tobt ein Krieg, die Migrationskrise dauert an und in den Brüsseler Büroräumen wird an einem für viele EU-Bürger inakzeptablen „Green Deal“ geschmiedet. Die europaweiten Bauernproteste zwingen manch einen Entscheidungsträger zu anderen politischen Akzentsetzungen. Besteht noch Hoffnung?

Noch einmal: Dieser Prozess lässt sich nur politisch aufhalten, durch Wahlen oder zum Beispiel durch einen eventuellen Regierungswechsel in Frankreich. An der Seine gibt es ja durchaus Parteien, die sich den in Deutschland postulierten Föderalisierungstendenzen entgegensetzen. In Berlin ist die Debatte über einen nationalen Souveränitätsverlust verhältnismäßig schwach. Eine radikale Zentralisierung der EU bzw. ein europäischer „Superstaat“, der sich der demokratischen Kontrolle entzieht, schwächt die Entscheidungsfreiheit kleinerer Mitgliedstaaten, stärkt dafür aber die Souveränität Deutschlands. Da ist es eigentlich gleichgültig, wer gerade im Kanzleramt sitzt. Es ist erfreulich, dass manche Politiker zu Meinungsänderungen bereit sind und ihre Wähler nicht völlig ignorieren.

Andererseits können sie bei allzu schnellen Umentscheidungen und Volten rasch als Populisten entlarvt werden. Es kommt auf den gesamten Entscheidungsprozess an. Wenn die EU-Kommissionschefin die schwedische Aktivistin Greta Thunberg zunächst als „klimapolitische Wegbereiterin“ hofiert, sie später jedoch gar nicht mehr erwähnt, weil sie angesichts ihrer Äußerungen zum Nahost-Konflikt „aus der Mode“ gekommen ist, dann erscheinen die Argumente der Kommission recht unglaubwürdig und beweisen nur, dass zahlreiche der in Brüssel getroffenen Entscheidungen – Green Deal mit einbegriffen – schlicht und ergreifend populistisch sind.

Anfang Mai hat EU-Kommissionschefin angekündigt, das Artikel-7-Verfahren gegen Polen einzustellen. Brüssel beanstandete vor allem die umfassende Justizreform der konservativen Vorgängerregierung. Sind Sie von Ursula von der Leyen enttäuscht? Schließlich haben polnische Konservative aus der ECR sie bei ihrer Wahl im Jahr 2019 unterstützt.

Wir hatten keine großen Hoffnungen, hielten Frau von der Leyen jedoch zugegebenermaßen für eine bessere Lösung als Frans Timmermans. Wir wollten den Dialog mit der EU nicht abreißen lassen. Die ausgestreckte Hand sowie die Aussicht auf einen versöhnenden Neuanfang wurden aber immer wieder ausgeschlagen. Wir wollten in Polen ein modernes Justizsystem schaffen, das unabhängiger gewesen wäre als in anderen EU-Ländern. Das ist das souveräne Recht eines Mitgliedstaates.

Eine der Koalitionsparteien der PiS, die Suwerenna Polska, hat den polnischen Regierungschef wiederholt kritisiert. Der ehemalige Justizminister Zbigniew Ziobro behauptete, dass Mateusz Morawiecki in Brüssel zu viele Zugeständnisse gemacht hätte, wo doch von vornherein ersichtlich war, dass die EU-Kommission die PiS-Regierung stürzen wolle. Was meinen Sie dazu?

Ein Dialog macht nur dann Sinn, wenn er Ergebnisse hervorbringt. Stattdessen wurden völlig unzulässige Druckmittel eingesetzt. Um die EU-Rettungsgelder zu erhalten, musste Polen die sogenannten „Meilensteine“ der Kommission erfüllen, bei denen es hauptsächlich um Rechtsstaatlichkeit und Justizfragen ging, darunter die Änderungen des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof. Viele von ihnen wurden erfüllt und dennoch konnte Polen die Milliardenzahlungen erst dann einplanen, als Donald Tusk und seine linksliberale Koalition die Regierungsgeschäfte übernommen hatten. Ich gebe zu, dass ich nicht mit jeder Entscheidung von Mateusz Morawiecki einverstanden war. Ich hätte den besagten „Meilensteinen“ niemals zugestimmt. Mit anderen Worten: Wir hätten weniger aggressiv im Ton, dafür aber härter im Verhandeln mit Brüssel sein müssen.

Am 1. Mai war der 20. Jahrestag der EU-Osterweiterung. Die Hälfte dieser Zeit verbrachten Sie in Straßburg als EU-Abgeordneter. Wie hat sich Europa seit dem Beitritt Polens verändert?

Ich habe die Europäische Union niemals idealisiert, aber auch nie dämonisiert. Die sich seit Jahren abzeichnende Entwicklung habe ich bereits kritisch betrachtet, bevor ich Abgeordneter wurde. Ich konnte in den letzten zehn Jahren zahlreiche erkenntnisreiche Einblicke und Erfahrungen sammeln. Manche Gesetzgebungsverfahren sind ja für viele Außenstehende völlig intransparent. Einschneidend war und ist sicherlich die Migrationskrise. Im Zentrum stand irgendwann die Frage, inwieweit sich der legitime supranationale Herrschafts- und Regelungsanspruch auf Fragen der Umsiedlung von Menschen zwischen den Mitgliedsländern bezieht.

Die EU ist aber kein Föderalstaat, in dem die übergeordnete Brüsseler Ebene die Gesamtverantwortung trägt und über die Mitglieder regiert. Die einzelnen EU-Staaten haben Brüssel nur begrenzte Kompetenzen übertragen. Jeder Eingriff in die nationale Verfassungsidentität ist eigentlich verboten. Gerade in der immer wieder aufflammenden Migrationskrise beobachten wir, dass die Rechtsbindung von EU-Hoheitsgewalt seltsame Züge annimmt. Und die Flüchtlingskrise ist nur ein Beispiel. Die Europäische Union ist immer noch eine Gemeinschaft souveräner Staaten, wobei die meisten von ihnen den Anspruch einer supranationalen Herrschaftsgewalt kritisch sehen.

Sie haben jahrelang in der Bundesrepublik gelebt, arbeiteten an der Universität Bremen. Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Situation in Deutschland?

Aus polnischer Sicht sehe ich in Deutschland keinerlei politische Optionen, die tatsächliche Veränderungen an dem von den dortigen Volksparteien vorgezeichneten EU-Kurs bewirken könnten. Sorgen bereitet uns außerdem das Verhältnis einiger deutscher Parteien zu Russland, sowohl im linken als auch im rechten Spektrum. Immer wenn in Deutschland eine konservative Partei auftaucht, liegt aus unserer Perspektive unweigerlich ein Geruch des historischen Revisionismus in der Luft. Sofern es um die aktuelle Entwicklung in der EU geht, haben solche Gruppierungen zwar in vielen Belangen nicht unrecht, die auffällige Nähe zu Russland ist dennoch fragwürdig. Aber so war es schon immer: In der deutschsprachigen Slawistik oder Geschichte Osteuropas hörten und hören wir hauptsächlich nur etwas über Russland. Polen oder andere Nachbarstaaten kommen viel zu kurz.

Es ist etwas verwunderlich, aber man könnte meinen, dass das katholisch geprägte Polen den Deutschen irgendwie kulturell fremd sei. Noch fremder erscheinen ihnen jene Polen, welche die aktuelle Entwicklung in der EU kritisch sehen. Wenn aber ein linksliberaler polnischer Politiker oder Schriftsteller mit der aktuellen EU-Politik einverstanden ist, wird er mit deutschen Sympathien und Preisen geradezu überhäuft. Die Deutschen entscheiden gern, wer „dazugehören“ darf und wer nicht, welche polnische Autoren Beachtung verdienen und übersetzt werden sollten und welche nicht usw. Eine kritische Hinterfragung der vom „erlauchten Kreis“ verbreiteten Thesen existiert praktisch nicht.

Vielen Dank für das Gespräch.


Prof. Dr. Zdzisław Krasnodębski ist ein polnischer Soziologe und Philosoph. Zwischen 1995 und 2018 lehrte er an der Universität Bremen und in den Jahren 2001 bis 2011 ebenfalls an der katholischen Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau. Seit 2014 vertritt er in Straßburg die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). 2018 wurde er zum Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gewählt. In seinem letzten Buch „Kurtyna podniesiona“ („Der aufgezogene Vorhang“) geht er der Frage nach, welchen Wandlungen die EU in den letzten Jahrzehnten unterlag.

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