Ein Fremder dringt in eine Idylle ein und zerstört sie. Seine bloße Anwesenheit entlarvt die Idylle als Trugbild, weil sie die Anwesenden zwingt, sich mit verdrängten Wahrheiten auseinanderzusetzen. Die Kultur des Abendlandes kennt dieses Thema, das in vielen Variationen in Theaterstücken, Romanen und Filmen vorkommt. Beliebt ist auch das Motiv der Beziehung, die durch eine unbekannte dritte Person aus den Fugen gerät und bei den Beteiligten zu schmerzvollen Selbsterkenntnissen führt.
Vielleicht ist dieses Motiv das große Thema Europas und wir erleben auf der großen Bühne des Alltags eine neue Inszenierung mit uns selbst als Komparsen. Die Regie führt dabei das grausame Schicksal und wie Kleist bereits in seinem Werk „Der Findling“ beschrieb, plagt uns die Angst, dass die gute Tat, die wir dem fremden Hilfsbedürftigen angedeihen lassen, doch immer nur ein böses Ende für den Helfenden nehmen kann.
Heilige sind selten
Nun ist die abendländische Kultur sehr reich und es gibt auch die christlich inspirierten Heiligengeschichten von jenen Menschen, die zur glückseligen Erkenntnis gelangten, indem sie sich für andere opferten. Die Heiligen, die die Distanz zu den Leidenden aufhoben und wie Jesus am Kreuz das Leid der anderen ertrugen, damit jene es leichter hatten. Wie jeder aufmerksame Tourist in Bayern schnell lernt, sind Heilige zwar in jedem Dorf, aber dennoch selten.
Beinahe biblisch sind hingegen die Geschichten aus dem Nahen Osten. Da fliehen Christen auf einen Berg und warten auf ihre Errettung vor Mord, Plünderung und Sklaverei und die Menschen nehmen Anteil an ihren Qualen. Größer als das Mitleid ist nur die Wut und die Verachtung für die Peiniger. Andere Peiniger zerfetzen mit Fassbomben muslimische Greise und Kinder in den blühenden Städten und auch hier wächst die Wut von uns Zuschauern und wir sagen „Da muss man was machen!“ und wir geben uns gegenseitig Likes auf Facebook für diese Meinung. Nur reichte unsere Wut auf die Peiniger nicht aus, etwas gegen diese zu unternehmen, und unser Mitleid für die Geschundenen reichte nicht aus, sie zu erretten.
So nimmt dann das abendländische Drama unserer Epoche seinen Lauf in drei Akten. Am Vormittag haben wir im ersten Akt noch dem weitentfernten Grauen durch unsere Fenster zugeschaut, die Flammen am Horizont gesehen und gelernt, dass diese in Kobane, Aleppo oder in Nordafrika loderten, doch am Nachmittag, wurde uns der Rauch zu viel. Er trieb uns im zweiten Akt Tränen in die Augen und wir schlossen die Fenster; aus den Augen, aus dem Sinn. Am Abend dann klopften die ersten Flüchtlinge an den geschlossenen Fensterladen und anstelle der Flammen und des Rauches aus der Ferne sahen wir plötzlich Menschen in Not an unserer Türschwelle und es erwachten die Heiligen in uns. Nachdem wir dann das erste Wunder vollbrachten und die Hilfsbedürftigen aufnahmen und trösteten, passierte, was in solchen Situationen immer passiert: eine Pilgerstätte entstand und seitdem reißt der Strom derer, die an das Wunder von Europa glauben, nicht mehr ab. Die Nacht lässt uns jetzt nicht mehr schlafen.
Die Chance, sich selbst zu retten
Dabei ist es ist kein schlechtes Wunder. In einer Ära, die durch die globale Finanzkrise geprägt war von Gier, von Verschwendung, Maß- und Verantwortungslosigkeit, bot die Besinnung auf Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und das Glück anderer eine einmalige Chance, sich selbst zu retten. Jede Zivilisation bedarf der Überzeugungen, die über den bloßen Egoismus hinausgehen, die gelebt werden und so andere inspirieren, an die Sinnhaftigkeit der eigenen Zivilisation zu glauben.
Deshalb hatten auch Unternehmen früher Visionen und Leitbilder, die darüber hinaus gingen, einen größtmöglichen Profit zu erzielen. Im Jahre 2015 ist die Frage erlaubt: Was ist unser Sinn für Deutschland und Europa? Was kann man nach einer Fußball-WM noch erreichen? Mehr als alle anderen haben die Deutschen dies erkannt. Zur Überraschung der Welt haben die Deutschen erst ihre Herzen, dann ihre Brieftaschen und zum Schluß auch ihre Grenzen geöffnet. Das kam nicht überall gut an. Im Vereinigten Königreich z.B. fragen die Menschen ihre Regierung, wie es sein kann, dass diese hartherziger ist als eine deutsche Kanzlerin, und der Groll des britischen Premierministers ist der Kanzlerin deswegen gewiss. Man bekommt eine Ahnung, weshalb Heilige so oft in der europäischen Geschichte zuerst auf dem Scheiterhaufen landeten, bevor sie heilig gesprochen wurden. Jeder Heilige lässt die anderen um ihn herum schlecht dastehen.
Nun wird es an dieser Stelle Zeit für ein Geständnis. Ich glaube nicht an Heilige. Ich glaube an rationale Lösungen und während ich mich über die Menschlichkeit, über die Hilfsbereitschaft und Solidarität mit allen Flüchtlingen, Armen und Verfolgten freue, besorgt mich der naive Umgang der Politik mit der Situation viel mehr als der Hass extremer Rechter und Nationalisten, der wie ein Naturgesetz in Folge der Situation zu erwarten war. Wenn es einen Hinweis auf den Untergang des Abendlandes gibt, dann sind es weder die Flüchtlingswanderungen, noch die Demonstrationen dagegen, sondern der diletantische Umgang der Politik mit beiden.
Dabei ist die Situation ziemlich einfach. Es gibt nur drei Möglichkeiten, mit Flucht umzugehen. Man beseitigt die Fluchtursache, man verhindert die Flucht oder man hilft den Flüchtlingen. Eine asylgebende Unterkunftssachleistungssau, die alles gleichzeitig schafft, gibt es nicht. Wer in diesem Zusammenhang von Einwanderungsprogrammen redet, hat absolut nichts verstanden. Einwanderungsprogramme sind Antworten auf wirtschaftliche Wünsche des Gastgeberlandes, sie sind keine Antwort auf Fluchtbewegungen.
Einwanderungsprogramme helfen nicht gegen Fluchtbewegungen
Die Vorstellung, dass man durch ein Einwanderungs-Programm Qualifizierter die Flüchtlingsströme reduzieren könnte, ist, man muss es sagen, so naiv, dass sie als Lösung für die Fluchtsituation nur in Programmen von Randparteien auftaucht. Wer sich nicht für die Einwanderung qualifiziert, wird es trotzdem versuchen: auf einem lecken Boot über das Mittelmeer oder zu Fuß durch die Türkei und die Balkanroute. Auch die Einwanderungsprogramme der USA haben Millionen nicht-qualifizierte Lateinamerikaner nicht davon abgehalten, illegal einzuwandern. Etwas zu verbieten bedeutet eben nicht, es auch zu verhindern, und eine Tür offen zulassen, die von einem Türsteher bewacht wird, bedeutet eben nicht, dass die Abgewiesenen nicht versuchen werden, durch ein Fenster hineinzugelangen.
Man kann die Menschen an der Flucht hindern: Mauern an den Grenzen hochziehen und dann zuschauen, wie die Menschen dahinter erfrieren, verhungern, sich gegenseitig abschlachten oder abgeschlachtet werden. Was wäre noch Schlimmeres passiert, wenn Tansania und das damalige Zaire beim Genozid in Ruanda gesagt hätten, „Millionen von Flüchtlinge sind zu viel. Beim Völkermord habt ihr eben Pech gehabt, wir sind nicht die Retter Afrikas.“? Es gibt Situationen, in denen einigen Menschen die Menschlichkeit wichtiger ist als die Nation. In Europa beobachten wir aber etwas anderes. Hier öffnen Nationen die Grenzen für die Flüchtlinge, aber unter der Voraussetzung, dass diese weiter wandern. Griechenland schickt sie nach Österreich, Italien schickt sie nach Deutschland und so geht es immer weiter. Es ist eine Humanität, die man gerne auf Kosten anderer betreibt.
Dazwischen gesellen sich die Flüchtlinge vom Balkan, die ebenfalls wie heiße Kartoffeln rumgereicht werden. Wirklich zum Vorwurf kann man es den Grenzländern nicht machen. Ohnehin ärmer als ihre Nachbarn sollen sie aus humanitären Gründen alle aufnehmen und dann die Lasten alleine stemmen. Das leuchtet ihnen nicht ein, wenn man gleichzeitig von der gemeinsamen europäischen Verantwortung redet. Die reicheren Länder wiederum bezahlen ihren selbstbestimmten Anteil, wundern sich aber, warum kaum etwas von dem Geld bei den Flüchtlingen ankommt, stattdessen aber lokale Bürgermeister sich einen Dritt-Mercedes zulegen können. Es ist auch fahrlässig anzunehmen, dass man einen Dominoeffekt nur bei einer Eurokrise, aber nicht bei einer Flüchtlingskrise zu befürchten hätte. Lässt man Länder wie Griechenland oder die Türkei mit der Flüchtlingskrise alleine, wird man sehr bald auch griechische und türkische Armutsflüchtlinge bei sich haben.
Geostrategische Konflikte beilegen
Die Fluchtursachen, weltweite Armut, Korruption, Kriege, Diktaturen, wird man, wenn überhaupt, nicht schnell beseitigen können. Das ist eine Aufgabe mindestens einer ganzen Generation und sie ändert nichts am Recht der jetzt Lebenden, nach einem menschenwürdigen Leben streben zu dürfen. Umso wichtiger wäre es, dass die EU sich in der Ukraine und in Syrien an einer Beilegung der beiden geostrategischen Konflikte beteiligt, anstatt Mitspieler zu sein – gerade weil beide Konflikte nicht unabhängig voneinander gesehen werden können. Es reicht nicht aus, nur Frieden herzustellen, denn wie man jetzt auf dem Balkan feststellt, hilft kein Frieden, wenn man nicht auch Fabriken hinstellt. Fabriken dort bedeuten weniger Fabriken hier. Armut abbauen, heißt erstmal teilen zu lernen. Teilen bedeutet, dass man selber weniger hat. Erst im zweiten Schritt schafft man zusätzliches Wachstum an beiden Orten.
Es bliebe somit kurzfristig die dritte Alternative übrig: Hilfe für die Flüchtlinge. Hier kann man von der Geschichte lernen. Während des Jugoslawienkrieges hatte Deutschland in einem Jahr mit 350.000 Personen die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge vom Balkan aufgenommen und vier Jahre lang beherbergt. Davon sind nach dem Krieg weniger als 20.000 als besondere Härtefälle in Deutschland geblieben. Alle anderen sind von 1998 bis 2002 in ihre Heimat zurückgekehrt. Nun reden wir nicht von 350.000 Flüchtlingen, sondern der dreifachen Menge. Wir reden später über Familiennachzüge. Wir reden über eine wirkliche Wanderungsbewegung mit allen ihren Konsequenzen. In der Geschichte gibt es dafür nur Vergleichbares um das Jahr 1900 herum in den USA. 1892 haben die USA es geschafft, eine halbe Millionen Menschen über ihre zentrale Erstaufnahmestelle Ellis‘ Island aufzunehmen, ab 1900 wurden fast täglich 5.000 Personen nur in diesem einen Lager aufgenommen.
Niemand randalierte wegen der unbeheizten Schlafsäle und man aß und schlief gemeinsam zu Tausenden in einem Saal. Im Jahr 1907 erreichten über eine Million Menschen das Lager. Es ging alles, auch wenn es nach unseren heutigen Maßstäben nicht menschenwürdig war, aber das waren die Lebensbedingungen seinerzeit für fast alle nicht. Alles war eine Frage der Organisation und des politischen Willens. Die Ausgangslage war natürlich eine ganz andere.
Die amerikanische Wirtschaft dürstete nach Einwanderern, die Bundesstaaten standen im Wettbewerb um Arbeitskräfte und Einwohner untereinander, Kalifornien bezahlte Einwanderern sogar Reisekostenzuschüsse, wenn sie von New York gleich in Richtung Westküste weiterzogen. Die logistischen Herausforderungen inkl. Registrierung, Dolmetschern und Rechtsverfahren bei Einsprüchen waren jedoch bereits damals bewältigbar, wenn man den Anspruch hatte, den Menschen schnell eine Antwort zu geben und sie nicht lange menschenunwürdig auf Staatskosten zu verwahren. Der berühmte New Yorker Bürgermeister La Guardia machte sich vor seiner politischen Karriere einen Namen als Dolmetscher und Rechtsanwalt abgewiesener Flüchtlinge. Über 100 Jahre später sind zumindest die Nationalstaaten Europas gnadenlos überfordert. Was die USA in einer einzigen Aufnahmstelle hingekriegt haben, schafft Europa nicht mal als Kontinent.
Die USA änderten ihre Politik jedoch. Um die „schwimmenden Särge“ mit denen die Wirtschaftsflüchtlinge aus Europa über den Atlantik kamen und den Zustrom auf den allmählich gesättigten Arbeitsmarkt einzudämmen, erfolgten keine Flüchtlingsaufnahmen mehr in den USA, sondern nur noch in den Herkunftsländern. Anstelle zentraler Aufnahmestellen gab es nur noch die dezentralen Botschaftsgebäude, an die sich die Flüchtlinge wenden konnten. Eine solche gesteuerte Flüchtlingspolitik erfordert jedoch die konsequente Schließung aller Außengrenzen, sonst funktioniert sie nicht. Dies ist heutzutage technisch kaum möglich, besonders, wenn man bereit ist zur Überwindung einer Grenze sein Leben zu opfern. Jede ausreichend große Menschenmasse wird jede noch so stark gesicherte Grenze überwinden können, wenn man nicht bereit ist, auf die Flüchtlinge zu schießen.
Unappetitliche Realpolitik
Damit wäre man im unappetitlichen Bereich der Realpolitik angekommen, bei der Beschäftigung gutbezahlter, brutaler Torwächter. Der Diktator Gaddafi war so einer. Für Zahlungen der EU sorgte er dafür, dass kein Afrikaner sein Land Richtung Europa verlassen konnte und wenn es doch mal einem Boot gelang, dann als Zeichen des Missmuts des Diktators gegenüber irgendeiner europäischen Entscheidung. Der Torwächter am Bosporus heißt Erdogan und weil er sich um seinen ruinierten Ruf beim Thema Menschenrechte nicht mehr scheren muss, ist er der ideale Partner für die EU bei der heiklen Aufgabe. Dies ist die Lösung, die Europas Politik anstrebt: Europa achtet wieder die Menschenwürde, behandelt die wenigen Flüchtlinge mustergültig und rechtsstaatlich und die Türkei erledigt die Drecksarbeit, über die man dann zivilisiert die Nase rümpft.
Der Diletantismus der Politik äußert sich jedoch woanders. Die eigentliche Frage, die es zu beantworten gilt, wird in unserer Demokratie nicht gestellt. Wollen wir eine stärkere europäische Integration und uns für weitere Zuwanderung öffnen? Es kann durchaus sein, dass die Mehrheit dies bejaht, aber wenn man den Menschen nicht die Möglichkeit gibt, über diese Fragen diskutieren und entscheiden zu können, werden die eventuellen Minderheiten, die nie gefragt wurden, sich ignoriert fühlen und radikalisieren. Das Erstarken der Rechten in Europa ist keine Reaktion auf die Flüchtlinge, sie ist Folge einer fehlenden Debatte über die entscheidende Frage nach der Zukunft Europas.
Damit schließt sich der Kreis, denn auch wenn der ursprünglich idyllische Zustand wieder erreicht würde, hätte das Eindringen der Fremden aufgezeigt, dass wir nicht die guten Menschen sind, für die wir uns halten. Viel schlimmer noch, angesichts der Umstände wissen wir jetzt, dass wir gar nicht die guten Menschen sein können, die wir sein wollen. Der Selbstbetrug wäre entlarvt und unsere Masken wären heruntergerissen von jenen fremden Eindringlingen, die ihre Hände Hilfe suchend nach uns ausstreckten und uns ungefragt mit den Realitäten der Welt und den Konsequenzen der globalen Außen- und Wirtschaftspolitik konfrontierten.
Über die Erkenntnis, dass ein funktionsfähiges gemeinsames Europa bislang nur ein Anspruch ohne Fundament und Identität ist, brauchen wir gar nicht erst zu reden. Daran hat wahrscheinlich jenseits der Lippenbekenntnisse ohnehin kein nationaler Regierungschef seit Mitterand und Kohl mehr geglaubt.