Das waren noch Zeiten, als man „Querdenker“ als Ehrentitel benutzte und „Unangepasste“ lobte! Es waren freilich die Zeiten, in denen politische Selbstverständlichkeiten noch von jenen geprägt wurden, die man heute als „bürgerlich“ oder „konservativ“ verachtet. Die Querdenker und Unangepassten waren nämlich links oder – später – grün, und dem Querdenken oder Unangepasstsein wurde so etwas wie „machtkritische Lust auf Wahrheit“ zugeschrieben.
Jetzt aber beherrschen Grüne und Linke den öffentlichen, kulturellen und akademischen Diskurs. Erst beim Reden im Privatbereich endet ihre Macht. Was von dort an Querdenken und Unangepasstheit aufsteigt und sich immer wieder auch in Demonstrationen äußert, nennen sie Populismus. Den verachten und bekämpfen sie – etwa so, wie einst meine Elterngeneration die „Langhaarigen und Linken“. Die Zeiten haben sich zwar geändert, und mit ihnen die Vorgaben für längsschnittige Folgsamkeit. Doch die Techniken der Machtsicherung blieben die gleichen. Aus formalpragmatischen Gründen der Wirklichkeitskonstruktion kann das auch gar nicht anders sein. Und so gilt auch unter neuen Machtverhältnissen: Das Imperium schlägt zurück.
Solange Linke und Grüne Revolution machten, von der sozialistischen bis zur ökologischen, galt Revolution als etwas Gutes. Widerspruch zu bestehenden Verhältnissen war deshalb unbedingt zu loben. „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt“: So hieß das damals. Doch seit Grüne und Linke – teils aus eigener Kraft, teils dank Kuschen ihrer Gegner – bei politischen Debatten regelmäßig gewinnen, gehört sich ein von ihren Wünschen abweichendes Reden oder Schreiben nicht mehr. „Canceln“ muss man ihre Auftritte, ignorieren ihre Analysen und Argumente, und versuchen muss man, sie von allen achtbaren Plattformen öffentlichen Wirkens fernzuhalten. Ketzer gehören nämlich nicht auf Kanzeln, sondern auf Scheiterhaufen – oder, humanitär wie unsere kulturellen Hegemonen sich geben, wenigstens ins innere Exil.
Da nutzt es Arnold Vaatz wenig, dass er einer der Gründerväter des heutigen Freistaats Sachsen war. Ein führender unter jenen Erneuerern der sächsischen Block-CDU, die der Sachsenunion ihre heute zerfallende Machtstellung ermöglichten. Auch jemand, bei dem persönliche Lust am Zuspitzen oder gar Provozieren sich nie gegen die Freiheit anderer gerichtet hat, stets aber gegen die Ignoranz oder Arroganz von Mächtigen. Und jemand, der bereit war, fürs demonstrative Nicht-Mitlaufen auch zu bezahlen. Dennoch taugt er nicht mehr als Redner eines Festakts im Landtag zur Feier jener Friedlichen Revolution, der sich Ostdeutschlands heutige Freiheit verdankt. Er ist ja weiterhin ein Querdenker und Unangepasster, steht also schon wieder nicht auf der richtigen Seite . Das ist heute die von Grün und Rot.
Bleibt noch auf die Pointe der Weigerung von Grünen und SPD zu blicken, sich bei einer parlamentarischen Festveranstaltung mit dem Redner Arnold Vaatz sehen zu lassen. Beide Parteien sind nämlich jene Partner beim Regieren, in deren Arme sich Sachsens CDU voller liebeswilliger Vorfreude auf stabiles Koalieren begeben hat. Der Grund? Teils empfinden führende CDU-Politiker echte Wahlverwandtschaft mit Grünen und Sozialdemokraten – und teils fehlte ihnen einfach der Mut, ebenso tatkräftig zu handeln wie einige Monate später Bodo Ramelow in Thüringen. Jetzt aber zeigen die zwei Kellner, dass der Koch ohne sie kein Festtagsgeschäft machen kann. Und so wird der Sachsenunion am „Fall Vaatz“ in einprägsamer Symbolik der Niedergang ihrer Gestaltungsmacht vor Augen geführt.
Biblisch Gebildete nennen das ein Menetekel. Die Mehrheit in der CDU wird das aber weiterhin für nicht mehr halten als einen rasch verblassenden Schriftzug an der Wand, der gewiss so ernst nicht gemeint war. Warum sollte man in der CDU auch querdenken, seit dieser Partei das Längsdenken gefällt!