Tichys Einblick
17. Juni 1953

Zum 17. Juni: Diktaturen sind überwindbar

Am 17. Juni 1953 gingen in ganz Ostdeutschland Menschen für ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung auf die Straße. Ein Gespräch mit dem Leiter der Stasibehörde, Roland Jahn, über den Tag und seine Folgen bis heute.

Am 17. Juni 1953 gingen in ganz Ostdeutschland Menschen für ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung auf die Straße. Zusammen mit den „bewaffneten Organen der DDR“ schlugen 20.000 Soldaten der Roten Armee den Aufstand blutig nieder. Die Zahl der Toten ist bis heute nicht genau bekannt. Es wird von über 50 ausgegangen.

Torsten Preuß: Herr Jahn, der Tag des ersten Aufstandes gegen die Kommunistische Diktatur der SED jährt sich jetzt schon zum 64-mal. Wird er in Ihren Augen heute noch genügend gewürdigt?

Roland Jahn: Ich finde, dass dieser Gedenktag wieder deutlicher begangen werden sollte. Er ist eine Erinnerung daran, wie weit eine Diktatur, eine Partei, geht, um ihre Ideologie durchzusetzen. Sie trat Menschenrechte mit Füßen, so brutal, dass dieser Tag noch lange danach seine Auswirkungen hatte. Für die Existenz der DDR, für die Menschen die dort gelebt haben, aber auch für die SED – Parteiführer und ihre Helfershelfer. Bei allen hat er ein Trauma ausgelöst.

Torsten Preuß: Welcher Art?

Roland Jahn: Angst. Die blutige Niederschlagung hat einer ganzen Generation in den Knochen gesessen und diese Angst hat sie weitergegeben. Meine Eltern haben mich immer gewarnt, wenn ich Grenzen austesten wollte: ‚Das bringt nur Unheil, solange der Russe im Land ist, haben wir keine Hoffnung, keine Chance.‘ Dazu kam, dass man den Menschen, die an diesem 17. Juni 1953 für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gegangen sind, unterstellt hat, sie hätten einen faschistischen Putsch durchgeführt. Damit sollte ihr Wunsch nach Freiheit diskreditiert werden. So haben sie nicht nur einen Volksaufstand zerschlagen, sondern auch noch eine falsche Legende um ihn gestrickt, und das hat über Jahrzehnte funktioniert.

Torsten Preuß: Diejenigen, die dafür verantwortlich waren und bleiben, wurden nie bestraft. Auch ihre geistigen, wie politischen Nachfolger kamen für ihre Taten nie ins Gefängnis, sondern sitzen längst im Bundestag, regieren sogar schon wieder und können dabei so tun, als wäre das alles nur Blut von gestern, mit dem sie nichts zu tun haben. Ist nach 1989 alles schief gegangen?

Roland Jahn: Ich würde nicht sagen, dass das so ist. Wir sind in Deutschland einen Weg bei der Aufarbeitung der SED Diktatur gegangen, der sich sehen lassen kann. Man kann aber auch vieles noch besser machen.

Torsten Preuß: Zum Beispiel?

Roland Jahn: Wenn es um die Gesamtverantwortung der SED in ihrer Rolle als alleinherrschende Staatspartei für das geschehene Unrecht geht. Das ist noch unzureichend dargestellt.

Torsten Preuß: Vielleicht weil es nach 1989 keine Entkommunistisierung gegeben hat?

Roland Jahn: Deshalb beschäftigen wir uns ja bis heute mit dieser Vergangenheit. Aufklären, um deutlich zu machen, was das für ein menschenverachtendes System war.

Torsten Preuß: Das ist schwierig, wenn die, die die Verbrechen begangen haben, in der Gegenwart weiter unterwegs sind und überall gern gesehen und gehört sind, während ihre Opfer keine Stimme mehr haben.

Roland Jahn: Darum geht es uns ja. Den Opfern gerecht werden.

Torsten Preuß: Wie kann man das nach so langer Zeit noch?

Roland Jahn: Zum Beispiel, in dem verhindert wird, dass die Antragsfristen zur Rehabilitierung auslaufen. Es kann nicht sein, dass 2019 die Möglichkeit der Rehabilitierung für die Zeit im Gefängnis, für den Rauswurf aus der Universität, für die Nachteile im Beruf wegen einer politischen Überzeugung entfällt. Dagegen müssen wir etwas tun.

Torsten Preuß: Das heißt, die Opfer haben bis heute keine Lobby, während die Täter sich bis heute ihren Taten nicht stellen?

Roland Jahn: Einiges ist geschehen, aber im Sinne der Opfer nicht genug. Ihnen hilft es auch, wenn die damals Verantwortlichen sich zu Unrecht bekennen. Deshalb müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die die damals Verantwortlichen nicht in eine Verteidigungshaltung bringen, die dazu führt, dass sie sich rechtfertigen, sondern die sie dazu ermutigen, sich zu Unrecht zu bekennen.

Torsten Preuß: Die Opfer nennen das verbittert: Den Tätern in den Arsch kriechen. Zumal es wenig Erfolg bringt. Eine Sahra Wagenknecht ist bis heute öffentlich stolz eine Kommunistin zu sein und würde ihr Weltbild nie aufgeben. Und damit ist sie nicht die einzige.

Roland Jahn: In einer Demokratie gilt Meinungsfreiheit für alle. Aber die Diskussion um Rechts – oder Unrechtsstaat hat gezeigt, dass eine Bereitschaft zu einer konsequenten Analyse dieser Zeit bei vielen in der Linken immer noch nicht da ist. Natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Weil hier ein ganzer Staat von einer Partei instrumentalisiert wurde, einzig um ihre Macht zu sichern. Das heißt, man hat alle staatlichen Einrichtungen dazu genutzt, gegen die Menschen vorzugehen, die eine andere Meinung hatten und so ein ganzes Volk unterdrückt. Das fing an mit der Westmusik, die man nicht hören durfte, mit den langen Haaren, die man nicht tragen durfte. Solche Dinge aus dem Alltag eines DDR-Jugendlichen haben uns schon ziemlich zeitig die Augen geöffnet, dass dieser Staat ein Unrechtsstaat ist. Diese Erfahrung müssen wir weitergeben.

Torsten Preuß: Wie geht das am besten?

Roland Jahn: Am besten dort, wo dieses Unrecht auch heute noch zu spüren ist. Das sind die Orte, an denen Stasi und SED gewirkt haben. Es ist unsere Aufgabe, Menschen dazu zu bewegen, in die Gedenkstätten zu kommen und sich an diesen Orten mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Wir sind herausgefordert, Geschichte und Geschichten nachvollziehbar zu machen, vor allem auch die Geschichten von Menschen, die auf der Strecke geblieben sind. Obwohl sie nichts anderes getan haben, als ihre Menschenrechte wahrzunehmen. Letzte Woche habe ich mich mit Freunden getroffen, um an einen alten Freund aus meinen Jenaer Zeiten zu erinnern. Matthias Domaschk wäre in diesem Jahr 60 Jahre alt geworden. Er ist aber 1981 in der Untersuchungshaft der Stasi zu Tode gekommen. Er ist eines von vielen Beispielen für Menschen, die auf der Strecke geblieben sind, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollten. In dem konkreten Fall wollte er nichts anderes als an einem Wochenende eine Party in Berlin feiern und durch Zufall war es das Wochenende des X. Parteitags der SED und da wollten sie solche „Elemente“ wie Domaschk nicht in der Hauptstadt der DDR sehen.

Torsten Preuß: Das hieß damals ‚Berlinverbot‘.

Roland Jahn: Genau. Die Partei soll in Ruhe ihren Parteitag abhalten können, also wurden Matthias und sein Freund Peter Rösch verhaftet und zurück nach Jena bzw. Gera in die Untersuchungshaft, gebracht. Seine Berlin-Reise war vorher von einem IM der Stasi verraten worden. Wenn dieser Parteitag und diese Partei nicht gewesen wären, würde er heute noch leben. In der Analyse der Todesumstände zeigt sich auch, wie das System solange funktionieren konnte. Eine ganze Kette von Leuten hat dazu beigetragen, dass er am Ende tot in der Zelle lag: Vom Spitzel, der die Information gegeben hat, dem Stasi-Kreisdienststellenleiter, der den Befehl gegeben hat ihn ‚zuzuführen‘, wie es damals hieß, bis zum Vernehmer in der U-Haft, all diese Menschen haben mitgewirkt diesen jungen Menschen in die Mangel zu nehmen, und am Ende war er tot. Verantwortung für den Tod hat niemand übernommen. Keiner will es gewesen sein. Das ist ein Ausdruck für das System insgesamt. Am Ende tragen alle ein Stück Verantwortung, aber keiner bekennt sich dazu. Die Verantwortung für das Funktionieren der Diktatur beginnt bei der SED und ihren Spitzenfunktionären und zieht sich bis hin zu denen, die zur Wahl gegangen sind und damit ein Bekenntnis zu dem Staat abgegeben haben – mit allen Differenzierungen.

Torsten Preuß: Stell dir vor es ist Diktatur und alle machen mit. Dann geht es ewig. Also müsste sich jeder erst einmal selbst hinterfragen, damit so etwas nie mehr vorkommt?

Roland Jahn: Ja. Aber für die meisten ist es schwer, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Wie und warum habe ich mitgemacht? Welchen Anteil trage ich am Funktionieren des Ganzen? Es ist einfacher, zu verdrängen, als sich zu hinterfragen: Hätte ich mich auch anders verhalten können? Natürlich ist es schwierig, seinen Weg in einer Diktatur zu finden. Aber ehrlich zu sich selbst zu sein wäre nicht nur mutig, es wäre vor allem hilfreich, um zu begreifen, wie Diktaturen funktionieren. Was ich damit meine, ist, dass wir uns durch das Nachdenken über die Vergangenheit fit machen können für die Gegenwart.

Torsten Preuß: 28 Jahre nach dem Ende des Kommunismus klingt das etwas spät.

Roland Jahn: Auch mit dem 17. Juni hat es lange gedauert. Erst zum 50. Jahrestag 2003 ist der Durchbruch geschehen in der Einordnung dieses Tages als das, was er tatsächlich war: Ein Volksaufstand, der menschenverachtend niedergeschlagen, niedergewalzt worden ist und so ein System am Leben gehalten hat, in dem die Menschenrechte nicht mehr galten.

Torsten Preuß: Das Ergebnis sind Kilometerlange Akten, voller Verbrechen die für immer ungesühnt bleiben werden. Obwohl Sie jeden Tag damit verbringen, sie aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Fühlen Sie sich manchmal nicht auf verlorenem Posten? Einsam im Kampf für Gerechtigkeit.

Roland Jahn: Unser Job ist es, die Akten zu erhalten und zur Verfügung zu stellen. Die Akten, die das Unrecht belegen. Wir organisieren Veranstaltungen, in denen Opfer davon berichten können, wir erforschen das Wirken der Stasi. Die Bemerkung, es macht doch alles keinen Sinn, ihr seid doch nur wenige, die habe ich ja noch von früher im Ohr. Aber gerade deswegen bin ich jemand, der realistisch geblieben ist, weil ich weiß, wir haben zumindest nicht aufgegeben, und unser Traum, dass die Mauer eines Tages fällt und die Herrschaft der SED endlich ein Ende hat, den haben wir erreicht.

Torsten Preuß: So gehören Sie am Ende doch zu den Siegern?

Roland Jahn: Aber dieser Sieg fing für uns alle schon 1953 an. Deshalb haben die Freiheitskämpfer von damals auch heute noch jeden Respekt für ihre Lebensleistung verdient. Sie haben mit ihrem Mut den Grundstein gelegt für das, was später kam.

Torsten Preuß: Deshalb ist dieser Tag mehr wert als nur die üblichen Rituale?

Roland Jahn: Ich wünsche mir den 17. Juni wieder als Nationalfeiertag. Er hat deutlich gemacht, dass man Freiheit und Menschenrechte auch mit Gewalt auf Dauer nicht unterdrücken kann und das zeigt uns allen bis heute: Diktaturen sind überwindbar.

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