Seit mehreren Monaten geistert eine seltsame Zahl durch die deutschsprachigen „Qualitätsmedien“: Durch die Impfungen gegen SARS-CoV-2 seien zwanzig Millionen Menschenleben gerettet worden. Etwas bescheidener drückte sich am 9.Mai die Neue Züricher Zeitung aus: allein „im ersten Jahr der Pandemie Millionen Leben gerettet“. In dieser Aussage wird zwar der Zeitraum besser definiert (ein Jahr), dafür aber bleibt die Zahl unbestimmt, wobei aus der Verwendung der Pluralform folgt, dass es sich um mindestens zwei Millionen handeln muss.
Die Herkunft dieser Angaben ist nicht ganz klar. Womöglich beziehen sie sich auf eine Modellstudie aus dem Imperial College London . Aber die Modellstudien haben in der evidenzbasierten Medizin einen möglichst niedrigen Rang der Zuverlässigkeit, denn sie zeigen nicht, was ist, sondern nur, was unter bestimmten Annahmen sein könnte, wobei die Annahmen selbst innerhalb des Modells nicht überprüft werden können. Die Abhängigkeit der Resultate von den Annahmen kann bei komplexen Modellen nicht-linear sein; d.h. auch sehr kleine Fehler in den Annahmen können u.U. zu völlig falschen, sogar absurden Modellergebnissen führe.
Im Gegensatz zu Modellstudien besitzen randomisierte kontrollierte Studien (sog. RCT) den höchsten Rang der Zuverlässigkeit. Zu den RCT gehören u.a. die Zulassungsstudien der neuen modRNA-Impfstoffe (der Einfachheit wegen übernehmen wir „Impfung“ als Begriff). Aus diesen Studien ist zu entnehmen, dass zur Verhinderung einer Ansteckung etwa 100 Personen geimpft werden müssen. Für das am häufigsten verwendete Präparat Comirnaty (Biontech/Pfizer) liegt diese Zahl bei 126 (die Daten in der Tabelle 2). Der Einfachheit wegen nehmen wir im Folgenden 100 als Zahl.
Um von den Ansteckungen zu den Todesfällen zu kommen, brauchen wir zudem die Wahrscheinlichkeit, mit der ein an SARS-CoV-2-infizierter Mensch an Covid stirbt. Das ist die sogenannte Infektionssterblichkeitsrate (Infection Fatality Rate, IFR). Die wissenschaftlichen Einschätzungen der globalen IFR schwanken zwischen 0,15 Prozent und 0,68 Prozent. Obwohl die meisten Einschätzungen zwischen 0,2 und 0,3 Prozent liegen, nehmen wir, um uns den Millionenzahlen möglichst anzunähern, die absolut höchste IFR als Ausgangspunkt. Teilen wir dann 100 durch 0,68 Prozent, so bekommen wir 14 706. Das heißt, wenn 100 Voll-Impfungen einen Ansteckungsfall verhindern, dann verhindern 14 706 Voll-Impfungen einen Todesfall.
Daraus folgt, dass wir, um „Millionen“ (d.h. mindestens 2 Millionen) Todesfälle zu verhindern, 14 706 x 2 000 000 = 29 412 000 000 (in Worten: neunundzwanzig Milliarden vierhundertzwölf Millionen) Menschen vollständig hätten impfen müssen, was 3,6 Mal mehr ist als die gesamte Erdbevölkerung, einschließlich aller Kinder (8,1 Mrd.). Für 20 Millionen Gerettete würde diese Zahl auf die unvorstellbaren 294 (zweihundertvierundneunzig) Milliarden geimpfte Personen steigen.
Warum haben wir bei der Berechnung den Umweg über die Ansteckungszahlen genommen? Der Grund liegt darin, dass die Zulassungsstudien mit mehreren Zehntausenden Teilnehmern immer noch zu klein waren, um direkte Daten über Sterbezahlen zu bekommen. Solche Daten findet man jedoch in einer Studie von Dagan und seinen Mitautoren. Sie war zwar kein RCT, sondern nur eine streng kontrollierte Beobachtungsstudie, besitzt also im Rahmen der evidenzbasierten Medizin nur den zweitbesten Zuverlässigkeitsstatus, aber sie schloss fast 1,2 Millionen Teilnehmer ein. Aus den Daten der Abbildung 2E geht hervor, dass von den 596 618 Geimpften 9 Personen starben, von der gleichen Zahl an Ungeimpften 32 Personen. Die Impfung von 596 618 Personen rettete also 32 – 9 = 23 Menschen das Leben; daraus folgt, dass 596 618 / 23 = 25 940 Menschen hätten geimpft werden müssen, um ein Leben zu retten. Um 2 Millionen Leben zu retten, hätten somit 2 000 000 x 25 940 = 51 880 000 000 Menschen geimpft werden müssen, etwa 6,4 Mal mehr als die Weltbevölkerung.
Eine noch umfangreichere Studie mit fast 1,7 Millionen Teilnehmern verfolgte die Impfwirkung über Monate hinweg. In den ersten vier Monaten nach der zweiten Dosis blieben die Zahlen in etwa stabil; ungefähr 7 500 Personen müssten geimpft werden, um einen Fall von Hospitalisierung oder Tod vorzubeugen. Leider differenzieren die Autoren in ihren Tabellen nicht zwischen Hospitalisierung und Tod, aber unter der plausiblen Annahme, dass mindestens zwei von drei Hospitalisierten überleben, erhalten wir wieder die Zahl 22 500, was bedeutet, dass 22 500 x 2 Millionen = 45 Milliarden Menschen, d.h. mehr als fünffache der gesamten Weltbevölkerung – hätten geimpft werden müssen, um 2 Millionen Todesfälle zu verhindern.
Nach diesen Daten sinkt aber die Wirksamkeit nach ca. 120 Tagen, und die errechnete Zahl wird sogar negativ: –9 433. Das Minuszeichen bedeutet, dass nun 9 433 Vollimpfungen zu einem zusätzlichen Hospitalisierungs- oder Todesfall führen.
Die Zahl der Geretteten ist selbstverständlich höher für gefährlichere und geringer für harmlosere Erkrankungen. Alle oben zitierten Studien arbeiteten mit den ersten Virusstämmen (vorwiegend Alpha). Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs oder Todes bei Omikron war allerdings etwa 2,4 Mal geringer als für die Delta-Variante. Das bedeutet, dass im Extremfall, wenn alle Geimpften nur mit Omikron konfrontiert gewesen wären, die Zahl der Personen, die wir hätten impfen müssen, um 20 Millionen Leben zu retten, schon im Billionenbereich gelegen hätte. In der Tat gab es in der Population natürlich eine Mischung aus verschiedenen Virusstämmen.
Wir stellen klar: Auch wir haben nicht die richtige Methode, die Zahl der durch Impfungen Geretteten zu berechnen, wir kennen diese genaue Zahl nicht. Aber keine einigermaßen korrekte, durch Daten belegte wissenschaftliche Methode kommt auch nur in die Nähe von Millionen Lebensrettungen, von der frequentierten Zahl 20 Millionen gar nicht zu sprechen. Diese Zahlenangaben scheinen willkürlich gesetzt und sind einfach grotesk.
Prof. Dr. Paul Cullen, Laboratoriumsmedizin, Universität Münster
Roland Hofwiler, Psychotherapeut und Journalist
Prof. Dr. Boris Kotchoubey, Medizinische Psychologie
Prof. Dr. Jörg Matysik, Analytische Chemie, Universität Leipzig
Prof. Dr. Andreas Schnepf, Anorganische Chemie, Universität Tübingen
Dr. Harald Schwaetzer, Philosophie