Tichys Einblick
Präsidentschaftswahlen

„Wir sind das Volk!“ – Lehren aus den Frankreich-Wahlen

Auch ohne Terror sind die Franzosen zutiefst verunsichert und verstehen die Welt nicht mehr. Daher ihr widersprüchliches Wahlverhalten. Frankreich muss erst zu einer offenen Gesellschaft werden. Das geht nur über Strukturreformen vom politischen System an.

Wahlkampf 2017 in Frankreich, eine Farm in Puybonnieux nahe Limoges, April 13, 2017

© Alain Jocard/AFP/Getty Images

Die feinen Damen von Château-Chinon gehen wieder im Nerzmantel in die Sonntagsmesse. Die Mäntel sind sichtlich schon Jahrzehnte in den Schränken abgehangen und etwas angefressen. Aber es ist eine Demonstration. Ein Signal der Anhänger des konservativen Lagers in der Provinz für François Fillon, den katholischen, ebenso konservativen wie wirtschaftlich neoliberalen Kandidaten, dem in Paris ständig neue Skandalmäntel umgehängt werden. Und das in Château-Chinon, dessen Bürgermeister einmal François Mitterrand hieß, mitten in einer Region (Burgund), die seitdem als eine Hochburg der Sozialisten gilt? Das erzkatholische Frankreich regte sich gegen den linken Filz, die Ausgegrenzten zeigen ihren Frust. Denn ausgegrenzt sind nicht die Jugendlichen mit nordafrikanischen Wurzeln in den Banlieus um Paris, die sich in ihren Parallelgesellschaften gut eingerichtet haben und von Sozialarbeitern betreut werden. Ausgegrenzt ist das konservative, weiße Frankreich auf dem Land mit katholischer Bindung.

Die Trennung von Staat und Kirche im Jahr 1905, das laizistische Leitbild, das nach 1968 in eine Auflösung der Wertehierarchie mündete und heute einen pragmatischen Umgang mit dem Islam und dem Extremismus so schwer macht, sie haben Frankreich zutiefst geprägt und gespalten.

Das Denken in universellen Kategorien wie Gleichheit oder Freiheit und der entsprechende öffentliche Diskurs haben den Werten ihr Leben genommen. Werte sind heute nichts als leere Worthülsen. Wer in der Öffentlichkeit von Werten spricht, macht sich lächerlich. Auf den Höhepunkt hat dies die gesamte Linke getrieben. Sie hat die Menschenrechtserklärung aus dem Jahr 1789 für sich gepachtet. Solidarität, Gerechtigkeit, Republik, das gesamte Wortgeklingel für den eigenen Vorteil ausgebeutet.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: soziale Ausgrenzung, Ohnmacht des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt und der allgegenwärtigen Zentralverwaltung, Misstrauen den Mitmenschen gegenüber und nicht zuletzt der Obrigkeit.

Das treibt die Bürger zum Protest und erklärt die Vielzahl der Präsidentschaftskandidaten, die sich „gegen das System“ aufstellen. Sie prangern den „amerikanischen Imperialismus“ an, die „Okkupation durch die Finanzwelt“ oder die Vormacht Europas. Das Spektrum reicht von Trotzkismus bis „Rechtsextremismus“. Symbolfiguren hierfür sind Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon. Was sie so beliebt bei den Wählern macht: Sie gaukeln eine heile Welt vor. Und erheben die Stimme zu dem Ruf: „Wir sind das Volk“. Marine Le Pen sogar explizit in ihrer Parole „Au nom du peuple“: im Namen des Volkes.

In Deutschland ist „im Namen des Volkes“ für die „Rechten“ reserviert; die Kanzlerin spricht von „denen, die schon länger hier sind“. Doch  dieser Begriff bedeutet in Frankreich etwas anderes, nämlich: Alle Staatsgewalt geht von der Regierung und der ihr unterstellten Zentralverwaltung aus. Die Bürger sind in den politischen Entscheidungsprozess nicht eingebunden, da die Gesellschaft nicht organisiert ist, gibt es keine mit den deutschen vergleichbaren Interessenverbände. Die Direktwahl des Präsidenten bedeutet nur, dass die Bürger eine Person an die Spitze des Landes setzen. Ein Recht auf Information über das Handeln der Politiker (und das sonstige Geschehen) sieht die französische Verfassung nicht vor. Deshalb wird das Recht auf freie Meinungsäußerung in Frankreich großgeschrieben. Deshalb traten zur Präsidentenwahl gleich 11 Kandidaten an. Bis auf wenige Ausnahmen (Fillon, Macron) sind es Protestler vom linken oder rechten Rand.

Paris und Provinz

Ein medienwirksames Bild: Ein Staatskonvoi mit Motorradbegleitung rast mit Blaulicht durch den Pariser Stau und alles muss anhalten, um die Elite der Elite durchzulassen. Aber es schürt Frust und Neid. Denn diese politische „Elite“, allesamt Abgänger der Kaderschmiede Ecole Nationale d’Administration (ENA), genauso wie die Wirtschaftselite, die zwangsläufig an der Ecole Polytechnique oder ähnlichen Einrichtungen studiert hat, lebt in einer anderen ganz Welt als die Wähler. Zentralismus und Machtballung in der Hauptstadt haben Paris zu einer Art „Wandlitz“ gemacht, einer abgeschotteten Bonzen-Enklave. Dort wird „richtig großes Geld“ verdient, denn dort konzentrieren sich alle großen Namen des CAC 40, an deren Spitze auch Politiker drängen, was die Bande zwischen Politik und Großunternehmen noch enger schnürt, als es die colbertistische Wirtschaftspolitik vermuten ließe. Die „Berliner Republik“ mutet dagegen wie ein Provinznest an und ist doch dabei, flott aufzuholen in seiner Selbstbezüglichkeit und Abschottung. Frankreich ist schon am traurigen Ende dieses Weges angekommen.

Bezeichnend ist die Art, wie die Pariser Medien das Land außerhalb der Hauptsstadt nennen: „en région“, in den Regionen. Ein vielsagendes Beispiel für Political Correctness. Das Wort „Provinz“ ließe die Geringschätzung gegenüber dem französischen Volk allzu deutlich werden. Aber diese Verachtung schwingt trotzdem mit.

Diese Provinz, in der immerhin 80 % der Bevölkerung leben, lehnt sich jetzt gegen diese Ausgrenzung auf. Alle Wege führen nach Paris – vom Verkehrsnetz bis zum Studium oder beruflichen Werdegang. Ein Blick auf eine Karte des Autobahnnetzes oder die des Hochgeschwindigkeitszuges TGV spricht Bände: Querverbindungen gibt es kaum. Wer nicht an einem der wenigen Knotenpunkte lebt, dem ist die Teilhabe am modernen Frankreich verwehrt.

Das „tiefe Frankreich“ (la France profonde), das ein deutscher Urlauber als Paradies empfindet, weil er dort naturnahe Erholung findet, gestaltet sich für denjenigen ganz anders, der dort lebt. Arbeit ist rar, Industrie kann sich nicht niederlassen, weil die Infrastruktur fehlt, das Handynetz, falls vorhanden, bricht oft zusammen, selbst die Stromversorgung schwankt zuweilen, medizinische Versorgung ist auf ein Mindestmaß reduziert, und alle Wege sind beschwerlich, weil sie über marode Landstraßen führen.

Keine Infrastruktur

Auch der Zugang zu Informationsmedien ist begrenzt: „nationale“ Zeitungen (alle führenden Printmedien erscheinen in Paris) gibt es nur in Städten zu kaufen, die Regionalzeitung bringt fast nur eine Mischung aus Wettervorhersagen und Todesanzeigen oder berichtet über den Tanzabend im Altersheim. Wer sich über das nationale Geschehen informieren will, muss Radio oder Fernseher einschalten. Unabhängige Berichterstattung ist jedoch im Staatsfernsehen oder in den privaten Sendern, die wiederum sämtliche staatsnahen Industriekonzernen gehören, selten. Dazu braucht es heute kaum Anweisungen „von oben“, vorauseilender Gehorsam und vor allem mangelhafte Journalistenausbildung genügen.

Das nährt tiefes Misstrauen Journalisten und generell den klassischen Informationsmedien gegenüber und treibt die Nachrichtenhungrigen ins Internet. Entweder zu den Online-Zeitungen, die fast alle im „linksextremen“ Meinungsspektrum angesiedelt sind, oder zu den sozialen Netzwerken, Hauptinformationsquelle gerade für die Jüngeren.

Allons enfants de la Patrie
Frankreich
Das Wahlverhalten der Franzosen ist komplex. Sie spüren, dass vieles im Lande nicht stimmt. Angefangen bei der hohen Arbeitslosigkeit (offiziell über 11 %), insbesondere bei ihren Kindern (25 %), die sich oft bis zum 30. Lebensjahr von Praktikum zu Praktikum durch hangeln müssen, bevor sie als arbeitsfähig betrachtet werden können. Denn ein Berufsbildungssystem wie in Deutschland gibt es nicht. Und auch die Schule verbaut die Aufstiegschancen, da die Grundkenntnisse fehlen. Die Universität, die mittlerweile fast alle Schulabgänger besuchen, droht auf Hauptschulniveau abzusinkern. Das System bildet am Arbeitsmarkt vorbei aus. Daher steht seine Reform ganz oben im Wahlprogramm eines Emmanuel Macron.

Die Bürger verstehen, dass zu hohe Sozialabgaben Einstellungs-hemmend wirken und dass die Renten nicht mehr sicher sind. Wenn aber Vorschläge zur Reform der Sozialversicherung konkret werden, dann wehren sie sich und fordern ihre Besitzstände ein – nicht anders als die Deutschen bei der Umsetzung der Agenda 2010. Mit einem Unterschied: Den Franzosen sind die Zusammenhänge nicht eindeutig klar, denn keiner kämpft für Reformen. Der Schulunterricht ist marxistisch geprägt, die Gewerkschaften verstehen sich als politische Mini-Parteien und die Journalisten sehen sich als Opferverteidiger.

Fluchtpunkt Grande Nation

Dass Frankreich überschuldet ist, verstehen die Franzosen ebenfalls, was das für einen Privathaushalt bedeutet, wissen nur zu viele. Allein François Fillon aber sprach das deutlich aus. Aber wie Haushaltssanierung und Gerechtigkeit und Wachstum und Arbeit in Einklang bringen? Emmanuel Macron spricht diesen Begriff zwar nicht aus, sein Programm aber versucht gerade Wirtschaft und Soziales miteinander in Einklang zu bringen; es klingt wie eine linksrheinische Fassung von Ludwig Erhard. Das ist eine Kulturrevolution in einem Land, wo Wirtschaft als „Rechts“ gilt und Soziales per Definitionem als „Links“.

Das war überhaupt das Entscheidende in diesem Wahlkampf: Die klassische Trennlinie zwischen „Links“ und „Rechts“ ist verschwommen. Es geht heute um Insider und Outsider, um ein weltoffenes Frankreich, das nach Modernisierung strebt und um ein verängstigtes, ausgegrenztes, weil abseits des Geschehens gehaltenes Volk. Kosmopolitische Nomenklatura versus nostalgische Anhänger der Illusion einer Grande Nation, weil ihnen Zukunftsperspektiven verwehrt sind.

Für keine der beiden Gruppen sind Europa und EU wirklich von Belang. Und wenn, dann mit Nachteilen verbunden, wobei Globalisierung und Europäisierung verwechselt werden. „Links“ hat man immer noch nicht überwunden, dass das „Non“ 2005 beim Referendum zum Verfassungsvertrag durch den Lissabon-Vertrag 2009 ausgehebelt wurde. „Rechts“ stößt man sich spätestens seit der deutschen Einheit an dem Gedanken, dass die „Grande Nation“ nun keine Supermacht mehr und seit den Maastrichter Verträgen einem Großteil ihrer Souveränität beraubt worden sei. Eine Ausnahme bildet der EU-Europäer Macron.

Auch ohne Terrorismus – die Franzosen sind zutiefst verunsichert und verstehen die Welt nicht mehr. Daher auch ihr widersprüchliches Wahlverhalten. Frankreich muss jetzt erst lernen, sich zu einer offenen Gesellschaft zu entwickeln. Das geht nur über Strukturreformen, angefangen beim politischen System selbst.


Isabelle Bourgeois studierte an der Ecole Normale supérieure (Fontenay-aux-Roses) und an der Université Paris IV-Sorbonne. Seit 1988 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d’Information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC). Dort seit 2000 Chefredakteurin der wiss. Zeitschrift „Regards sur l’économie allemande – Bulletin économique du CIRAC“. 

Die mobile Version verlassen