Erinnerungspolitik und Erinnnerungskultur ist politisch oft ein heiß umgekämpftes Feld: Das war beim Thema Stasiakten natürlich ganz besonders der Fall. Obwohl jetzt, nach 30 Jahren und zum Zeitpunkt der Überführung der Akten aus der Verantwortung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und seiner Behörde (BStU) (die aufgelöst wird) in das Bundesarchiv die Bewertung dieses historisch sehr radikalen und mutigen Schrittes bis weit hinein in die ursprünglich erbitterte Gegnerschaft dieses vor allem von den Bürgerrechtlern betriebenen Projekts sehr positiv ist.
Erinnerungskultur kann auch ein großer Innovationstreiber sein: So hat die Generalität der Staatssicherheit in den ersten Wendewochen verzweifelt versucht, wichtige Akten zu vernichten – was nicht ganz einfach war, da sie eine urdeutsche Sammel- und Dokumentierwut hatten und ihre Technik zwar besser als im Rest des Landes, aber letztlich auch nicht wirklich adäquat war. So mussten viele Mitarbeiter in einer Art Verzweiflungsakt am Ende Akten mit der Hand zerreißen. Dabei kamen letztlich immerhin stolze 15.000 Säcke zusammen, mutmaßlich mit eher dem aktuellen, sehr brisanten Material – viele Säcke gehören zur Hauptabteilung 20 (Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund/HA XX), deren Bereich 20/IV die Hauptzuständigen für die Oppositionsgruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche, vulgo Bürgerbewegung, waren.
Einige wenige dieser handzerrissenen Akten wurden von Seiten des BStU in einer aufwendigen und sehr zeitraubenden Maßnahme per Hand zusammengesetzt: Damit konnte natürlich nur ein winziger Teil rekonstruiert werden. Hier kam schon sehr früh der Wissenschaftler und Innovator Dr. Bertram Nickolay vom Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (Fraunhofer IPK) aus Berlin ins Spiel.
Bertram Nickolay hatte eine simple, aber durchschlagende Idee: Wenn man die zerrissenen Einzelstücke scannt und eine intelligente Software entwickelt, dann kann man die Stücke digital zusammensetzen und die virtuell rekonstruierte Akte drucken.
Die technischen Details will ich nicht vertiefen, im Prinzip ähnelt aber die die Methodik der virtuellen Rekonstruktion beim Puzzeln. Sie entscheidet anhand einer Vielzahl von Merkmalen, ob zwei Teile zusammenpassen oder nicht. Analog zur menschlichen Vorgehensweise berechnet der ePuzzler zunächst verschiedene Merkmale der Schnipsel – wie Kontur, Papierfarbe, Schrift oder Linierung und setzt sie dann sukzessive zusammen . Und damit wird gleich noch ein zweiter Punkt ganz deutlich: Ähnlich wie beim analogen Puzzeln ist die Methode unabhängig von der Sprache oder gar der Herkunft der zerrissenen Papiere – lediglich die Größe der Fragmente ist relevant: Wie beim Puzzeln ist auch die virtuelle Rekonstruktion besser, schneller und robuster, je größer die Stücke und je klarer die Muster. Damit ist der ePuzzler nicht nur für Geheimdienst und andere Aufklärung jeglicher Art hoch interessant – immerhin gibt es genug andere mafiöse Vereine und Strukturen, die durch Zerreißen von Akten versuchen, ihre Tun zu verschleiern, sondern im Prinzip auch für andere museale Rekonstruktionen.
Eine hochinnovative Technik made in Germany.
Aber wie bei jeder Innovation gibt es auch hier eine Schwachstelle: Das Scannen und die Verbindung mit der Ursprungsaufgabe. Obwohl das Fraunhofer IPK im Prototyp auch einen Scanner gebaut hat, ist für eine Übertragung des Verfahrens auf die Untersuchung der MfS-Säcke eine weitere Entwicklungsphase mit einem besseren, einfacheren semiautomatischen Scanner- und Zuführungssystem nötig. Das kostet Geld und Zeit und hätte aber bedeutet, dass man tatsächlich größere Menge der handzerrissenen Akten, zu mindestens gezielt hätte rekonstruieren können.
Ein zähes Ringen begann, denn die großen Unterstützer des Projekts neben mir, z.B. CDU-MdBs Martin Pätzold und Klaus Dieter Gröhler aus Berlin oder auch MdB Johannes Selle aus Thüringen, waren alle aus der CDU-Fraktion.
Aber im heutigen Deutschland ist nichts leichter, als ein missliebiges Projekt auszubremsen – immer neue Hürden türmten sich auf, der Rechnungshof hat Anmerkungen, zwischen Fraunhofer Dachgesellschaft, Fraunhofer IPK und der BStU-Leitung kommt es zu zähen Vertragsdiskussionen. Versuche von mir, die Zuständigkeit und die Geldquelle von BKM auf das ebenfalls denkbare Forschungsministerium (beide waren und sind in CDU-Hand) zu übertragen, wurden hintertrieben und zerredet oder gar im letzten Moment gestoppt.
Die virtuelle Rekonstruktion der Stasiakten harrt dagegen immer noch ihrer Umsetzung. Letzte Geheimnisse des MfS schlummern weiterhin in den tausenden Säcken mit handzerrissenen Akten: Eine gezielte Suche mit Hilfe eines leistungsstarken, semiautomtischen Scanners und des ePuzzlers – ein echter proof of concept – wartet auf den Einsatz.
Wird das Thema in der nächsten Legislatur, wo sich ja vieles ändern wird, noch mal aufgerufen? Man kann es nur hoffen.
Ansonsten könnte natürlich auch in diesem Land ein solches Projekt mal von privater Seite weitergeführt werden: Die Kosten sind überschaubar (1-2 Millionen), dafür hätte man einer hochinnovativen und potentiell lukrativen Digitalisierungstechnik zur Marktreife verholfen. Und vielleicht sind auch die rechtlichen Hürden nach Überführung der Verantwortung für die Akten ins Bundesarchiv für die ursprüngliche Zielsetzung Stasi-Akten nicht mehr so hoch.
Aber vielleicht bin ich da auch zu optimistisch und zu weit weg: Im momentanen Berliner Betrieb gilt: Wenn etwas politisch gewollt ist, dann ist sehr viel möglich. Aber leider noch viel mehr: Wenn etwas politisch nicht gewollt ist, dann übertrifft die Obstruktionsmaschinerie sich selber.
Philipp Lengsfeld war 2013-17 Mitglied des Bundestages für die CDU (u.a. Berichterstatter zum Thema Erinnerungskultur der CDU/CSU-Fraktion)