Tichys Einblick
Gruß aus der Filterblase der urbanen Elite

Wie der Journalismus sich abschafft

Die Auflagen sinken, das Vertrauen der Leser schwindet - nur die Angst wächst in den Redaktionen. Wie Sorge in den Schreibstuben vor dem Morgen die Medien verändert beschreibt Cora Stephan.

© Getty Images

Geprügelte Hunde beißen um sich. Der Kampf um die Deutungshoheit türmt sich längst zur Schlacht auf, nicht nur in den „Altparteien“ (längst inklusive Grüne), auch in den Medien rüstet man sich zum Endkampf gegen das Böse – von der AfD bis zu einer oftmals lediglich herbeifabulierten „Neuen Rechten“. Angst macht bissig.

Die Angst vor dem Auflagenschwund

Denn Angst muss man nicht nur dort haben, wo man Angela Merkel weg haben will, auch wenn es existenzbedrohende Folgen haben kann, auf der falschen Seite gesehen zu werden. Schwindendes Vertrauen in sie ängstigt auch die etablierten Parteien. Vor allem aber zähneklappert es in den Medien, die nicht von öffentlich-rechtlichen Zuwendungen zehren. Die Auflagen der Printmedien sinken beschleunigt und offenbar unaufhaltsam. 

Woran liegt es? An äußeren Faktoren wie dem Wegfall des Anzeigengeschäfts und dem Monopol auf „News“, also dem Internet; an der abnehmenden Leselust, oder am unbelehrbaren Volk, wie Zeitungsenthusiasten meinen? An der Konkurrenz durch eine immer stärker werdende Gegenöffentlichkeit, von der Achse des Guten angefangen über Tichys Einblick und zahlreiche Autorenblogs bis zu Print wie Cicero, Junge Freiheit, Cato und wiederum Tichys Einblick?

An einer trotzigen Bunkermentalität bei den Journalisten selbst, am Widerstand gegen die uneinsichtige Leserschaft? Oder gar an einem wirklichkeitsblinden Betriebsjournalismus, immer mal wieder regierungsamtlicher Propaganda verdächtig nah?

Es gibt ihn noch, den guten Journalismus

Und doch – hier kommt das Positive – gibt es ihn noch, den guten, den unverzichtbaren Journalismus, kritisch und aufklärend im besten Sinn.

Man denke an Robin Alexanders penible Untersuchung der Tage im September 2015, an denen die deutschen Grenzen allen offenstanden, die aus welchen Gründen auch immer hierhin wollten. Nach dem Buch war er anderer Meinung als vor dem Buch, nämlich deutlich kritischer gegenüber der Politik der Bundeskanzlerin. Warum? Weil er das getan hat, was Journalismus tun sollte: hinschauen, möglichst vorurteilsfrei. Er hat sich schlicht von Evidenzen überzeugen lassen.

Ein zweites Beispiel. Der Schweizer Fotograf und Autor Rudolph Jula war im September 2015 in Syrien, als Selfies von Angela Merkel Arm in Arm mit einem syrischen Migranten um die Welt gingen. Zeigten diese Bilder der „Willkommenskultur“ Wirkung? Ja. Ab da herrschte Aufbruchstimmung unter jungen Syrern, viele verließen Syrien nicht aus Not, sondern weil sie sich eingeladen fühlten. Und warum stand das nicht in deutschen Zeitungen? Weil außer Jula offenbar niemand die Aufbrechenden gefragt hatte.

Ein anderes Beispiel von gewiss anderer Qualität. Der Zeitreporter Henning Sußebach, 45, verließ an einem Sommertag die journalistische Filterblase und machte sich zu Fuß vom Norden Deutschlands in den Süden, unter Vermeidung asphaltierter Flächen, um zu schauen, ob das Land abseits von Straßen und Städten mit dem Bild übereinstimmt, das man als Zeitungsleser und Fernsehzuschauer von ihm hat. Dabei erlebt er die seltsamsten Dinge: etwa, dass es ein Leben außerhalb der Großstadt gibt, dass auch AfD-Wähler nette Leute sein können, dass man auf dem Land die Kosten für die moralischen Urteile der Stadt trägt und dass das Leben dort dennoch nicht das schlechteste ist. Was hat er dabei gelernt? Einmal, wie verdammt klein die eigene Filterblase ist. Zum anderen, dass auf dem Land Themen Dauerbrenner sind, die in den Redaktionen längst abgehakt sind, etwa die sogenannte „Energiewende“. Ja, Zitat: „dass es überhaupt viel weniger Arschlöcher gibt, als wir denken“ und dass Journalismus sich zu sehr aufs urbane Milieu konzentriert: „Wir übersehen bei aller Bedeutung des Extremen das Normale.“ Kurz: Journalisten sollten häufiger in die „toten Winkel“ ihrer Wahrnehmung schauen, sich aus ihrer Filterblase heraus bewegen und das Andere entdecken, das im Grunde das Normale ist.

Dass man für solche Erkenntnisse meilenweit gehen muss, ist das wahrhaft Schockierende an dem unterhaltsamen Buch, das er darüber geschrieben hat. Man beginnt zu fürchten, dass die wenigsten Journalisten noch in der Lage sind, mit freiem Blick Neues zu erfahren.

Verblüffend, was alles Nazi ist

Nicht alle sind schließlich beschränkt und bösartig, obwohl es dafür viel zu viele Beispiele gibt. Selbst heute, wo das tatsächlich Gesagte so einfach zu überprüfen ist, werden die „Rechten“ bewusst falsch zitiert oder im Kreuzverhör in eine bestimmte Richtung gedrängt, entlarvt, oder, wie es heute pikanterweise heißt, „gestellt“. Beispiele gibt es genug, eines der Jüngeren: Als ein AfD-Abgeordneter den Schulzzug in den Hochofen fahren lassen wollte, fühlten sich erregte Kritiker an die Krematorien der Nazilager erinnert – dabei kommt der Redner aus dem Ruhrgebiet und meinte exakt, was er sagte: in einem Hochofen wird Eisenschrott in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückgeführt. Er meinte den Zug, nicht Martin Schulz.

Verblüffend, was alles Erinnerungen an die Nazis triggert. Caroline Fetscher vom „Tagesspiegel“ etwa gemahnte die Forderung der „Erklärung 2018“, wonach die „rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt“ werden solle, prompt an das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, „das 1933 Juden und Oppositionelle aus ihren Posten warf“. So eine Volte muss man erstmal hinkriegen! Derartig bösartige Verdrehungen, Fake und Hatespeech in einem, dürften der „Erklärung“ viele Unterzeichner zugeführt haben.

All das nennt man „Runterschreiben“ – im Gegensatz zum „Raufschreiben“, wie man es ja anfangs mit Martin Schulz betrieben hat. („Rudeljournalismus“ nennt Hans-Martin Tillich das in einer bemerkenswerten Infragestellung der eigenen Branche.) Richtigstellungen nützen wenig, irgendetwas bleibt immer hängen, dafür sorgen schon eifernde Missionare bei Wikipedia. So gerät manch Falsches in die Netzwelt, aus der es nie mehr verschwinden wird.

Selbstkritik ist bei Journalisten eine Rarität. Giovanni di Lorenzo hat es das eine oder andere Mal versucht, auch Matthias Döpfner von der „Welt“. Dabei bekommt Gesinnungsjournalismus in den Online-Kommentaren kontinuierlich Rückmeldungen von entgeisterten Lesern. Doch die scheint man nicht sonderlich zu schätzen, lieber jammert man über Pöbeleien und verrohte Sitten, statt sich selbst der Frage auszusetzen, ob an der womöglich ruppigen Kritik nicht etwas dran sein könnte.

Kein Platz für Spinner und unabhängige Geister

Man kann Journalisten heute durchaus zugutehalten, dass sie unter erheblichem Druck stehen. Die Aufgaben nehmen zu, die Mitarbeiter werden weniger, Recherche dauert und unterbleibt deshalb oft. Man schreibt voneinander ab. Auch der Gruppendruck dürfte erheblich sein: in politisch angespannten Zeiten scheuen sich viele, sich allzu sehr aus dem Fenster zu hängen, wenn das der Mehrheitsmeinung der Kollegen widerspricht (oder man eigentlich lieber bei der Süddeutschen Zeitung wäre). Meinungsfreiheit also nur nach Abstimmung in der Peer-Group? Davon berichtet auch Matthias Matussek in seinem jüngsten Buch, in dem er Abschreckendes und Belustigendes aus dem Journalistenleben erzählt. Seine Klage darüber, dass man ihn, den Komplizierten und Eigensinnigen, bei seiner letzten Station bei einem sogenannten Qualitätsmedium, nämlich der „Welt“, nicht feierte und noch nicht einmal duldete, sondern auf eine stillose und hinterhältige Weise hinauswarf, mündete auch im Vorwurf an Chefredaktion und Herausgeber, sich nicht vor ihn gestellt zu haben.

Vielleicht kann man von den heutigen Zeitungsverwaltern tatsächlich nicht mehr erwarten, dass sie auch den unabhängigen Geist Einzelner fördern und pflegen, dass sie den genialen Spinnern Platz geben. Das mag bei den großen leidenschaftlichen Blattmachern wie Rudolf Augstein oder Erich Böhme noch anders gewesen sein. Dem allseits geforderten „gesellschaftlichen Diskurs“ bekommt der Ausschluss der Quertreiber nicht.

Immerhin: Selbst im linkslastigen Spiegel stellte man jüngst fest, dass auch die Gebildeten, deren Zuneigung man sich sicher glaubte, mit den „Mainstream-Medien“ nicht mehr richtig glücklich sind und ein „Meinungskartell politischer Korrektheit“ am Werk sehen. Woran das nur liegt? Die Autorin bleibt vorsichtig. Immerhin räumt sie ein, dass Journalisten mehr und mehr das Persönliche mit dem Politischen verwechseln, dass sie nicht an Fakten orientiert schreiben, sondern „Geschichten“ erzählen wollen, in denen individuelle Schicksale aufs Große Ganze hochgerechnet werden. Das ist nun allerdings schon lange die Masche des Spiegels: das Einzelschicksal pars pro toto zu nehmen, nicht nur der Anschaulichkeit halber, sondern um „Betroffenheit“ zu erzeugen. Das Medium als Missionsriemen? Leser wollen nicht bevormundet, sondern respektiert werden.

Lassen wir mal die Bösartigen in der Branche weg, davon gibt es reichlich. Doch ganz offenbar beruht die wachsende Kluft zwischen Medien und Rezipienten auch auf einem strukturellen Problem. Drei jüngere Studien geben Aufschluss.

Studien über die Filterblase der urbanen Elite

Zu 73 % haben Politikjournalisten ein Studium absolviert. Die meisten Journalisten leben in der Stadt und kommen aus einer ähnlichen sozialen Schicht. Diese urbane Elite steht vor allem Grün oder Rot nahe. 46 % aller Journalisten, die eine Parteipräferenz haben, bevorzugen die Grünen, 32 Prozent die SPD.

Sind sie deshalb auf Parteilinie? Nicht notgedrungen. Doch es ist bezeichnend, dass sie zwei politische Strömungen präferieren, die dezidiert missionarisch sind.

SPD und Grüne haben sich nie als Partei sui generis begriffen, die Interessen bündelt und vertritt, sondern als Vertreter der „Gattung“. Bei der alten SPD standen die Arbeiter sozusagen für die ganze Menschheit, bei den Grünen und der immer grüner werdenden heutigen SPD sind es die Natur, die Umwelt, die ganze Menschheit oder doch wenigstens alle Frauen, die sie zu vertreten glauben. Das macht ihre Forderungen im schlimmsten Sinne „alternativlos“ – wer will es sich schon mit der Natur, der Menschheit oder mit den Frauen verderben? Genau – das wäre menschenverachtend oder frauenfeindlich. Wer die Welt retten will, muss als Häresie empfinden, wenn jemand die „Klimakatastrophe“ leugnet oder für Atomkraft optiert, denn das ist ja Versündigung an der Gattung. Dass es auch bei angeblichen Menschheitsfragen um Interessen etwa des ökologisch-industriellen Komplexes geht – ach, darüber reden wir lieber nicht.

Die religiöse Inbrunst beim Weltretten entspricht dem Missionierungsbedürfnis vieler Journalisten, im Dienste der Menschheit bringen sie ihre Leser auf Linie. Interessen sind verhandelbar – doch wer sich auf höchste Güter bezieht, dem kann man nicht widersprechen. Das ist das Autoritäre der rotgrünen Missionsbewegung.

Sind unsere Medien „Mainstream“? Sicher, wenn man bedenkt, wie grün und links mittlerweile Merkels CDU geworden ist. „Linksgrüne“ Journalisten sind heute alles andere als regierungskritisch; tatsächlich hat eine von Michael Haller betreute Studie minutiös gezeigt, in welchem Ausmaß sich Medien und Regierung in Sachen Migration seit dem Jahr 2015 einig waren.

Vom Journalisten zum Politikberater

Unter Merkel hat sich auch die CDU zu einer Partei entwickelt, die auf Moral setzt und von Interessen schweigt. Diese Verbindung macht ein strukturelles Problem des Journalismus besonders spürbar. Gemeint ist das, was die Medienforschung „Indexing“ nennt: „Politik wird in den Medien überwiegend nicht als Prozess der Entscheidungsfindung, sondern als Schlagabtausch unter Mandatsträgern inszeniert.“ Die Bevölkerung und die Sache spielen dabei eine Nebenrolle. Kommentare richten sich nicht an den Leser, sondern, im Sinne eines guten Ratschlags, an die Politik.

In der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015, sagt Haller, „dienten die Kommentare grosso modo nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen.“ „Mit dem „Framing“ des Komplexes Flüchtlingspolitik/Willkommenskultur (wurde) eine spezifische Diktion verbreitet, die im Frühsommer 2015 die öffentliche Meinung so stark prägte, dass abweichende Positionen nicht mehr gehört wurden.“

Matthias Döpfner von Springer sagt es noch schärfer: „Manche Journalisten verstehen sich inzwischen als Politikberater und betreiben einen Journalismus, der sich an ein paar Eingeweihte richtet, denen sie Codewörter zurufen. Der eigentliche Empfänger ist nicht mehr der normale, intelligente, aufgeschlossene, aber nur bedingt informierte Leser, sondern die Kollegen, Politiker, Künstler oder Wirtschaftsführer.“ Das erklärt die drastische Diskrepanz zwischen Artikel und Lesermeinungen, die man dank Online mittlerweile kennenlernen kann, was offenbar nur wenige Journalisten irritiert. Die Quittung: Ende 2016 hielten in einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung 55% es für möglich, dass „die Bevölkerung in Deutschland von den Medien systematisch belogen“ werde.

Hans Mathias Kepplingers im Sommer vergangenen Jahres erschienene Studie „Totschweigen und Skandalisieren“ kommt auf der Basis umfangreichen Materials über das Selbstverständnis von Journalisten zum Schluss, dass im Kampf um die Deutungshoheit das eine skandalisiert und das andere, was nicht in die ideologische Botschaft passt, verschwiegen wird. Pegida etwa und die AfD würden skandalisiert, wann immer es sich anbietet, entlastende Berichte hingegen über die Reaktorpanne von Fukushima (Unscear-Report von 2013) würden verschwiegen. Pegida schüre Angst, heißt es. Was die Gefahren der Atomkraft betrifft, schüren wiederum die deutschen Medien und die Regierung Angst: ganz, wie es gefällt.

Kepplinger zufolge hat die Entfremdung zwischen Medien und Bevölkerung mit der Debatte um das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin begonnen. Sagen wir es anders: damals nahm sie Fahrt auf. Mit dem Verschweigen und Beschwichtigen, was die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015 betrifft, ging es weiter. Die Märchen, die über die Massenmigration nach Deutschland erzählt wurden – alles hochausgebildete Fachkräfte, vor allem Frauen mit Kindern usw. – zerrütteten die fragiler gewordene Beziehung weiter. Geschönte Interpretationen der Kriminalstatistik tun ihr übriges.

Wir können es alle mittlerweile besser wissen. Doch Politik und Medien sind auf ein sehr hohes Ross gestiegen. Die wenigsten werden den Abstieg schaffen.

Die Nähe von Politik und Medien ist im Prinzip nichts Neues. Oder hat sich etwas verändert, seit Berlin Hauptstadt ist?

Lukas Haffert meint, einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der AfD und dem Wiederaufstieg der Metropole Berlins feststellen zu können. Anders als in Bonn seien Abgeordnete nicht mehr von Mitarbeitern umgeben, die sich als Parteisoldaten sehen und dafür Bonn in Kauf nahmen, sondern von „Kosmopoliten“, die Politik in Kauf nehmen, um in Berlin leben zu können. Sie stammen überwiegend aus der Blase der Kulturarbeiter, ein Korrektiv durch eine starke Wirtschaftspräsenz fehle, und während in Bonn die Medienzentralen fern waren, sind die mittlerweile fast alle in Berlin angesiedelt. Das begünstige Konformität und nähre den Eindruck, dass Medien und Politik im selben Mustopf sitzen.

Die Spaltung der Gesellschaft

Stimmt ja auch. Politikjournalisten berichten gemeinhin nicht über das, was draußen im Lande vor sich geht, sondern im Parlament und in den Ministerien. Hinzu kommt die Einbildung, hip zu sein, wenn man die Sprache der kulturellen Avantgarde spricht, die für den Normalbürger kaum verständlich ist, den man eh nicht mag; exotische Minderheiten und ihre Wünsche sind interessanter. Einen Handwerker in der Provinz allerdings gewinnt man nicht mit der progressiven Forderung nach Unisextoiletten, denn ihn hat man vor Jahr und Tag gezwungen, für Frauen, so wenige er auch beschäftigen mag, eine extra Toilette einzubauen. Für viel Geld.

Dem politischen Sprechen kommt das Allgemeine abhanden – so, wie das generische Maskulinum plötzlich ein Geschlecht erhalten hat, ein männliches, dem man ein weibliches entgegensetzen zu müssen glaubt. Gerade die Diskussion über Gender zeigt die Kluft zwischen städtischen Avantgarden und dem „Normalbürger“, dem das Gedöns am Allerwertesten vorbeigeht und der sich schon lange nicht mehr repräsentiert fühlt.

Man kann von einer Mehrheit oder einer Minderheit unterdrückt werden, das Ergebnis ist in beiden Fällen unangenehm. Wer sich anschaut, was heute in Regierung und Parteien eine Rolle spielt, sieht Proporz und Quote am Werk, Frau, schwul, Migrationshintergrund scheinen wichtiger zu sein als Qualifikationen und manch einer scheint zu glauben, „Betroffene“ könnten nur von „Betroffenen“ vertreten werden. Ach ja? Dann sollte man sich ehrlicherweise vom Gedanken der Repräsentation verabschieden.

Ja, die Gesellschaft ist gespalten. Nicht im Sinne konkurrierender Interessen, das ginge ja noch. Es ist weit alarmierender. „Diversity“, Identitätspolitik, der Abschied vom Begriff des „Normalen“ und die snobistische Verachtung hergebrachter Orientierungen und Bindungen wie etwa Familie oder Nachbarschaft, Kultur und Tradition oder gar „Heimat“ – all diese Versatzstücke „progressiver“ Weltsicht verfehlen nicht nur die Lebensrealität der Vielen. Sie laufen letztendlich auf etwas hinaus, was ihre Verfechter gar nicht zu bemerken scheinen: Wenn alles in diverse und womöglich gar noch verfeindete Identitäten zerfällt, alle herkömmlichen Bindungen aufgelöst sind, bleibt das Individuum zurück, nackt und bloß, allein und damit staatsabhängig in nie zuvor gekannter Weise, dem Druck konformer Meinungen mehr ausgesetzt als vielleicht jemals bevor.

Wie Nassim Nicholas Taleb schreibt: in dieser Situation kann eine kompromisslose Minderheit von noch nicht einmal drei oder vier Prozent diktieren, was die Gesellschaft insgesamt zu denken, zu glauben oder zu essen hat – welche Bücher zu verbieten und welche Leute auf die schwarze Liste zu setzen sind.


Cora Stephan ist Schriftstellerin und Publizistin, 2011 veröffentlichte sie mit dem Buch Angela Merkel. Ein Irrtum eine „persönliche Abrechnung“ mit der Bundeskanzlerin. 1998 erschien ihr erster einer Reihe von Kriminalromanen unter dem Pseudonym Anne Chaplet, 2016 ein autobiografisch gefärbter Roman „Ab heute heiße ich Margo“.

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