Über die möglichen Folgen des Brexit wird viel geredet und geschrieben. Aber welche Folgen der Brexit für die Machtstrukturen innerhalb der EU haben wird, ist kaum je Thema politischer Überlegungen. Diese Folgen sind dramatisch. Obwohl der Text der Unionsverträge unverändert bleibt – oder besser: gerade weil er unverändert bleibt – werden sich durch den Brexit die Entscheidungsprozeduren in der EU grundlegend ändern. Die Abstimmungsregeln, die der Vertrag von Lissabon für Gesetzesbeschlüsse im Rat der EU festgelegt hat, führen dazu, dass nach dem Austritt Großbritanniens die marktwirtschaftlich orientierten Mitgliedstaaten gegenüber den staatsinterventionistisch orientierten Staaten in eine strukturelle Minderheitenposition geraten. Das wird den Charakter der EU wesentlich verändern – zum Nachteil derer, die auf Marktwirtschaft, Privatinitiative, unternehmerische Freiheit und solide Haushalte setzen, und zum Vorteil derer, die alles Heil von höheren Staatsquoten, Umverteilung und Schuldenwirtschaft erwarten.
Worum geht es im einzelnen? Der Rat ist neben dem Parlament das Hauptgesetzgebungsorgan der EU. Ohne seine Zustimmung kann keine Richtlinie oder Verordnung beschlossen werden. Während in der alten EG die Rechtsakte entweder nach dem Konsensprinzip beschlossen oder kraft Konvention nur einstimmig angenommen wurden, ist die EU seit dem Vertrag von Maastricht dazu übergegangen, für immer mehr Materien Gesetzesbeschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip vorzusehen. Seit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon entscheidet der Rat in der Regel mit qualifizierter Mehrheit. Während bis zum Vertrag von Maastricht jeder Mitgliedstaat den Erlass eines Rechtsakts mit seinem Veto verhindern konnte, kann er seither überstimmt werden. Für die Machtverhältnisse in der EU ist daher entscheidend, welches Stimmgewicht die einzelnen Staaten haben und welche Staaten gemeinsam eine Sperrminorität bilden können. Der EU-Vertrag sieht seit dem Vertrag von Lissabon (nach einer 2017 ausgelaufenen Übergangsregelung) folgendes vor: EU-Gesetze (Richtlinien und Verordnungen) benötigen die Zustimmung von mindestens 55 Prozent der im Rat vertretenen Regierungsmitglieder der Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union vertreten. Umgekehrt: Eine Sperrminorität haben mehr als 45 Prozent der Mitgliedstaaten oder mindestens vier Mitgliedstaaten, die zusammen mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen. Diese doppelt qualifizierte Mehrheit stellte bisher – bis zum Brexit – sicher, dass weder die mehr staatsinterventionistisch orientierten Staaten noch die mehr marktwirtschaftlich orientierten Staaten sich einseitig durchsetzen konnten.
Das wird sich mit dem Brexit fundamental ändern. Wenn das Vereinigte Königreich aus der EU ausscheidet, verringert sich der Bevölkerungsanteil der nördlichen Gruppe auf rund 30 Prozent, während die von Frankreich angeführte mediterrane Gruppe ihre Position auf 44 Prozent ausbaut. Damit geht im institutionellen Gefüge der Union das Gleichgewicht zwischen eher marktwirtschaftlich orientierten Freihandelsbefürwortern und den eher staatsgläubig-protektionistisch orientierten Staaten verloren. Letztere erhalten ein großes Übergewicht. Sie können sich ihre Mehrheit gegen die Marktwirtschaftsländer suchen, während Deutschland nicht einmal dann auf eine Vetoposition käme, wenn es zusätzlich zu den oben genannten Verbündeten im konkreten Fall auch noch Tschechien für seinen Standpunkt gewinnen könnte. Polen könnte nach dem Brexit eine Schlüsselrolle erhalten, weil es entweder der Gruppe um Deutschland zu einer Sperrminorität oder der Gruppe um Frankreich zur qualifizierten Mehrheit verhelfen könnte.
Natürlich kann es – je nach Thema – auch ganz andere Koalitionen geben, und natürlich ist es auch nach dem Brexit möglich, dass Deutschland und Frankreich sich einigen und gemeinsame Projekte durchsetzen. Dass dies regelmäßig auch geschehen wird, sollte man aber nicht als garantiert ansehen. Deutsch-französische Freundschaftsromantik darf nicht den Blick dafür trüben, dass Staaten Interessen haben. Frankreich drängt wirtschaftspolitisch und institutionell in eine ganz andere Richtung, als Deutschland sie jahrzehntelang vertreten hat. Die deutsch-französische Kooperation in der EU fand bisher im Schatten der gegenseitigen Sperrminoritäten statt. Beide Seiten mussten kooperieren, mussten sich einigen, wenn sie etwas voranbringen wollten. Nach dem Brexit wird Frankreich in einer ungleich stärkeren Position sein. Es wird immer die Option haben, eine Mehrheit ohne Deutschland zu suchen, während Deutschland immer auf Frankreich angewiesen sein wird. Das wird sich auf die Verhandlungen und auf die Verhandlungsergebnisse auswirken.
Bisher wurden trotz der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen die allermeisten EU-Gesetze einstimmig beschlossen. Die wechselseitigen Sperrminoritäten haben zu konsensualen Entscheidungen gedrängt. Für die Zeit nach dem Brexit muss man damit rechnen, dass die Gesetze häufiger mit Mehrheit beschlossen werden und dass dann auf der Seite der überstimmten Minderheit regelmäßig Deutschland und die anderen marktwirtschaftlich orientierten Staaten stehen werden.
Künftig muss sie mit Deutschland gar nicht mehr reden, wenn sie die nötige Mehrheit mit Frankreich und anderen Staaten zusammenbekommt. Und wenn sie mit Deutschland redet, muss sie auf dessen Position nicht so sehr wie bisher Rücksicht nehmen, weil sie jetzt Alternativen hat. Während es bisher das Tandem aus Frankreich und Deutschland war, das in der EU den Ton angab, könnte es künftig ein Tandem aus Kommission und Frankreich sein, das die Richtung bestimmt. Das ist nicht nur im Hinblick auf die Schwächung der marktwirtschaftlichen, die individuellen Freiheiten, die Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftssubjekte und die Solidität der Staatshaushalte betonenden Staaten bedauerlich. Angesichts der mangelnden demokratischen Legitimation der Kommission verschärft es auch die Demokratiedefizite der EU.
Aber was hätte sie tun können? Dass der Brexit eine solche Umwälzung der Machtverhältnisse in der EU zur Folge hat, war und ist keine zwingende Notwendigkeit. Die Bundesregierung hätte das Thema auf die Tagesordnung des Rates bringen und – möglichst gemeinsam mit den anderen betroffenen Marktwirtschaftsstaaten – darauf dringen können, dass die Regeln über die qualifizierte Mehrheit und über die Sperrminorität an die neue Lage angepasst werden. Da Änderungen der Unionsverträge nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten möglich sind, wären die Erfolgsaussichten solcher Verhandlungen freilich begrenzt. Bei jeder Änderung der Abstimmungsregeln gibt es Gewinner und Verlierer, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die potentiellen Verlierer eine Änderung blockieren würden.
Damit ist die Geschäftsgrundlage für die Mehrheitsregeln entfallen, die im Vertrag von Lissabon vereinbart worden sind. Denn diese Regeln setzten voraus, dass den mediterranen Ländern eine etwa gleich starke Gruppe von Nordländern gegenüberstand. Deshalb kann die Bundesregierung sich auf die clausula rebus sic stantibus (Artikel 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention) berufen. Nach dieser Klausel, die nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs auch völkergewohnheitsrechtlich gilt, kann ein Staat die Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages verlangen oder von dem Vertrag zurücktreten, wenn eine grundlegende Änderung der beim Vertragsschluss gegebenen Umstände eingetreten ist und diese Umstände eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien zu dem Vertrag gewesen ist; auch muss die Änderung der Umstände das Ausmaß der Vertragspflichten tiefgreifend umgestalten. Diese Klausel muss sinngemäß auch dann gelten, wenn nicht in bezug auf den Vertrag im ganzen, sondern in bezug auf eine für die Anwendung des Vertrages wesentliche Vorschrift durch die Veränderung der Umstände die Grundlage entfallen ist.
Letzteres jedenfalls trifft hier zu. Man könnte zwar einwenden, Artikel 16 des EU-Vertrages, der die Anforderungen an die qualifizierte Mehrheit und an die Sperrminorität regelt, sei absichtlich so formuliert worden, dass er nach Aufnahme eines neuen Mitglieds oder auch nach Austritt eines Mitglieds anwendbar bleibe. Folglich handele es sich beim Austritt eines Mitglieds nicht um einen Umstand, den die Vertragsstaaten beim Abschluss des Vertrages von Lissabon nicht bedacht hät-ten. Deshalb könne die clausula rebus sic stantibus nicht zur Anwendung kommen. Dieses Argument passt jedoch nicht für den Brexit.
Denn der Austritt Großbritanniens ist mit der Aufnahme eines Landes wie Bulgarien oder dem Austritt eines Landes wie Griechenland oder wie Dänemark nicht zu vergleichen. Die Wirtschaftskraft des Vereinigten Königreichs ist so groß wie die der 20 kleinsten EU-Länder zusammengenommen. Und seine Bevölkerung ist zahlreicher als die der 15 kleinsten EU-Staaten. Es ist, als würden mehr als die Hälfte der bisherigen Mitgliedstaaten gleichzeitig austreten. Dass eine solche Situation eintreten könnte, damit haben die Vertragsstaaten des Vertrages von Lissabon nicht ernsthaft gerechnet. Vor allem haben sie nicht damit gerechnet, dass durch den Austritt eines Mitgliedstaates das institutionelle Gleichgewicht zwischen den beiden oben beschriebenen Staatengruppen nicht nur gestört, sondern völlig beseitigt werden würde. Es handelt sich auch um eine für die Reichweite der Vertragspflichten fundamentale Frage.
Man stelle sich vor, nicht Großbritannien, sondern Italien wäre aus der EU ausgetreten. Dann hätten die um Frankreich gruppierten mediterranen Staaten ihre Sperrminorität verloren, weil ihr Bevölkerungsanteil auf 30 Prozent geschrumpft wäre, während der „Hartwährungsblock“ mit rund 45 Prozent Bevölkerungsanteil eine dominierende Stellung erlangt hätte. Es ist kaum vorstellbar, dass Frankreich, Spanien und die anderen betroffenen Länder dann nicht auf eine Änderung der Ab-stimmungsregeln gedrängt hätten und dass nicht die um Deutschland gruppierten marktwirtschaftlich orientierten Staaten dieser Forderung im Interesse der europäischen Integration nachgegeben hätten. Aber die Lage ist wie sie ist, und der deutschen Regierung scheint der Verlust ihres institutionell gesicherten Einflusses auf die weitere Entwicklung der EU ebenso gleichgültig zu sein wie das zu befürchtende Abgleiten der EU-Politik in noch mehr Staatsinterventionismus.
Die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, dass bei der Fortentwicklung der europäischen Integration die Grundentscheidungen gewahrt bleiben, die mit den Unionsverträgen getroffen worden sind. Das Bundesverfassungsgericht nennt dies die „Integrationsverantwortung“. Das Bundesverfassungsgericht leitet sie aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes ab. Durch den Brexit entsteht eine neue Konstellation, die ohne Anpassung der Mehrheitsregeln nicht von dem Zustimmungsgesetz gedeckt ist, das der Bundestag zum Vertrag von Lissabon verabschiedet hat. Die Zustimmungsgesetze der Mitgliedstaaten sind es, die den EU-Verträgen ihre demokratische Legitimation vermitteln. Mit dem Brexit verliert der Abstimmungsmodus des EU-Vertrages seine demokratische Legitimation. Die Bundesregierung ist verfassungsrechtlich verpflichtet, auf eine Vertragsänderung hinzuwirken, die diese Legitimation wiederherstellt.
Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. – Eine kurze Version dieses Artikels erschien in der FAZ vom 29.12.2018. – Auf TICHYS EINBLICK schrieb Murswiek eine völkerrechtliche Analyse des UN-Migrationspakts.