Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für die Zerstörung eines ehemals weltweit angesehenen Bildungswesens, sondern eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben: Trümmer und Ruinen, die man mittels „Reformen“ hinterlassen hat …
Vier Verirrungen
Dabei spielen vier mentale und intellektuelle Verirrungen eine Rolle. Erstens spielt die Selbstvergessenheit der Deutschen eine Rolle, also die in allen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Belangen spürbare, typisch deutsche Selbstverleugnung. Das politische und mediale Deutschland inszeniert gerne seine eigene Tribunalisierung, und man zerrt sich gerne vor das Weltgericht, denn wir Deutsche sind ja so gern die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt. Wahrscheinlich weil wir vertuschen möchten, dass wir eigentlich gerne Schulmeister wären. Dass wir die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt sind, daran ist angeblich ein Bildungswesen schuld, das uns unter anderem einen Hitler und seine Anhängerschaft beschert habe. Diese Selbstverleugnung lässt uns zum Beispiel ein weltweit renommiertes Diplom wegschmeißen, das Gymnasium entkernen und unsere Sprache denglifizieren. Ob das noch das späte Ergebnis einer „reeducation“ ist, sei dahingestellt. Vielleicht glauben viele Deutsche sogar – ohne sie näher zu kennen – an die abstruse Analyse des US-Amerikaners, Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859 – 1952), der die offenbar schier genetisch angelegte Neigung der Deutschen zum Nationalsozialismus schon in den Philosophien und Schriften von Luther, Kant, Herder, Hegel, Fichte, Schelling, insgesamt des Deutschen Idealismus angelegt sah. Wie auch immer: Jeder persönliche oder kulturelle Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch härter ausgedrückt: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls, der Dekadenz. Das gilt für jede Einzelperson, jede Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur.
Ein zweiter Grund für die Abrisslaune ist: Deutsche sind gerne Gesinnungsethiker. Gleichheit, Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen. Bereits Max Weber hat den Gesinnungsethiker im Jahr 1919 so beschrieben: Er fühle sich nur dafür verantwortlich, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die Motive und Ergebnisse seines Handelns. Hermann Lübbe hat diesen Gedanken 1987 mit dem Untertitel eines nach wie vor sehr lesenswerten Buches aufgegriffen: „Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“. Es geht vielen Deutschen bzw. ihrer Elite nicht um eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung. Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der „political correctness“ und der „educational correctness“ mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus, mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der Pädagogik.
Drittens: Eigentlich entspringt solche Gesinnung einem egalitären, sozialistischen Denken. Nun aber kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit absondern, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an „Bildung“ soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ und damit verdinglicht. Das ist Neoliberalismus, ja Kapitalismus, Ausbeutung pur. Es hat sich dies schon lange vor Pisa angekündigt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1961, hat die OECD, die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist.“
Dabei ist die Ökonomisierung von Bildungspolitik nicht wirklich volkswirtschaftlich zu Ende gedacht. Man braucht kein Freund einer ökonomischen Betrachtung der Bildungspolitik zu sein. Hier ist es aber legitim, über die Opportunitätskosten einer von der OECD permanent eingeforderten Überbewertung von Gymnasium/Studium und einer Vernachlässigung der beruflichen Bildung nachzudenken, das heißt, nachzudenken, was es uns kostet bzw. was uns entgeht, wenn wir die berufliche Bildung weiter so vernachlässigen wie zuletzt. Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Überakademisierung sein, weil sie einher geht mit einem gigantischen Fachkräftemangel. Man schaue sich einmal an, dass wir seit 2011 ziemlich genau ebenso viele Studienanfänger haben wie junge Leute, die eine berufliche Bildung anfangen. Eine gewaltige Schieflage! Denn dort, wo man in Europa die niedrigsten Abiturienten-Quoten hat, gibt es zugleich die besten Wirtschaftsdaten: nämlich in Österreich, in der Schweiz und eben in Deutschland.
Ein wichtiges bildungspolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar vermeintliche Pisa-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote, die deutlich über derjenigen Deutschlands oder gar der süddeutschen Länder liegt. Im Juli 2016 gab es in Deutschland eine Quote an arbeitslosen Jugendlichen von 7,2 Prozent, in den schulpolitisch vermeintlich vorbildlichen Ländern dagegen Quoten um 20 Prozent: in Schweden mit 20,2 und in Finnland mit 21,7 Prozent. (Baden-Württemberg bzw. Bayern hatten übrigens eine Quote von 2,7 bzw. 2,8 Prozent). Länder mit gegliederten Schulsystemen, vergleichsweise niedriger Studierquote und dualer Berufsbildung liegen also erheblich besser. Warnende – und zwar namhafte – Stimmen zur Vernachlässigung der beruflichen Bildung gibt es durchaus. Im April 2014 veröffentlichte der Wissenschaftsrat seine Stellungnahme mit dem Titel „Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung.“ Darin warnt er vor vordergründigen Image- und Prestigegesichtspunkten. Aber es dringt nicht durch: Der Mensch scheint für viele immer noch beim Abitur zu beginnen.
Ein vierter Kardinalfehler „progressiver“ Pädagogik ist schließlich deren Infantilisierung durch Psychologisierung. Für die Psychologie und ihr Image ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie. Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnisse her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden.
Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den „Helikoptereltern“ rundum „gepampert“.