Tichys Einblick
Keine Nicht-Reform-Prämien

Was wird aus dem ESM?

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte einmal: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen - und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“

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Als Wolfgang Schäuble noch Finanzminister war, hatte er mit dem sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) Großes vor. Er erklärte in einem Interview:

„Wir müssen Europa unterhalb der Schwelle von EU-Vertragsänderungen handlungsfähiger machen. … Das Primärrecht müssen wir dafür nicht ändern. Das könnten wir in der Euro-Zone auch mit einer Änderung des ESM-Vertrages hinbekommen“. Was wollte er „hinbekommen“?

Er wollte aus dem ESM einen „Europäischen Währungsfonds“ machen, der nicht nur subventionierte Kredite an überschuldete Mitgliedstaaten vergibt, sondern auch anstelle der Europäischen Kommission die Einhaltung der Fiskalregeln und der wirtschaftspolitischen Auflagen überwacht. Außerdem wünscht er sich einen „Euro-Finanzminister“, der über einen eigenen aus Mehrwert- und Einkommensteuer gespeisten Haushalt verfügt. Der ESM-Chef als Euro-Finanzminister?

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Der Geschäftsführende Direktor des ESM – ein Deutscher namens Klaus Regling – ist von diesen Plänen begeistert. Er möchte, dass der ESM nicht nur bei Verschuldungsproblemen, sondern auch bei Konjunktureinbrüchen intervenieren darf. Außerdem benötige sein Haus zusätzliche Kapazitäten in der Forschung und Überwachung. Auch die Deutsche Bundesbank unterstützt Schäubles Pläne. In einem gemeinsamen Zeitungsartikel mit seinem französischen Amtskollegen Francois Villeroy de Galhau hat Jens Weidmann ein Finanzministerium für die Eurozone gefordert. In ihrem Monatsbericht vom Juli 2016 hat die Deutsche Bundesbank außerdem angeregt, dem ESM zusätzliche Kompetenzen zu geben:

„Es könnte in diesem Zusammenhang daran gedacht werden, die Rolle des ESM grundsätzlich zu stärken. Mit dem Antrag eines Mitgliedstaates auf Finanzhilfen beim ESM wird die Einschätzung zur weiteren Wirtschaftsentwicklung, zur Schuldentragfähigkeit und zum Finanzbedarf derzeit durch die Europäische Kommission im Benehmen mit der EZB erstellt, und dies ist auch für die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen vorgesehen. Diese Aufgaben könnten künftig auf den ESM übertragen werden.“ (S. 57).

„Im Falle einer Umschuldung … könnten Koordination und begleitende Aufgaben, wie etwa die Erfassung der bestehenden Ansprüche, auf den ESM übertragen werden, und dieser könnte auch mit der effektiven Abstimmung der Umschuldung mit einem Anpassungsprogramm und Finanzhilfen des ESM beauftragt werden. Mit Stärkung des Krisenbewältigungsmechanismus könnte darüber hinaus auch in Erwägung gezogen werden, dem ESM ergänzend die Funktion einer unabhängigen Fiskalbehörde zu übertragen. Dazu könnten ihm die bisher bei der Europäischen Kommission liegenden Aufgaben der Bewertung der Haushaltsentwicklungen und der Einhaltung der Fiskalregeln übertragen werden“ (S. 64).

Die französischen Vorstellungen hat Villeroy kürzlich präzisiert:

  1. Der ESM heißt in Zukunft „Europäischer Währungsfonds“.
  2. Der Chef der Eurogruppe soll als Vorsitzender des Gouverneursrats „Finanzminister“ der Eurozone werden.
  3. Der Fonds soll seine subventionierten Kredite nicht nur wie bisher bei Gefahren für die Finanzstabilität vergeben, sondern auch schon, wenn ein Land von einem negativen asymmetrischen makroökonomischen Schock getroffen wird oder mit einer „vorübergehenden politischen Unsicherheit“, einem plötzlichen „irrationalen“ Vertrauensverlust oder einer Naturkatastrophe konfrontiert ist.
  4. Der Kreditnehmer muss die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts einhalten, braucht aber kein zusätzliches Anpassungsprogramm zu akzeptieren.
  5. Der Fonds soll die Haushaltspolitiken der Euroländer im Rahmen der Krisenprävention überwachen.

Villeroy vertritt die Meinung, dass dafür keine Änderung der europäischen Verträge notwendig sei. Artikel 136 Z. 3 AEUV macht jedoch zur Bedingung für Euro-Finanzhilfen, dass sie unter „strengen Auflagen“ vergeben werden, „um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren“. Das Wesen eines asymmetrischen Schocks ist, dass er gerade nicht das gesamte Euro-Währungsgebiet, sondern nur einzelne Länder oder Teile des Währungsraums trifft. Er wird daher in der Regel auch nicht die Stabilität des gesamten Euro-Währungsgebiets gefährden.

Kritik der Vorschläge

Sollte der ESM mehr Macht erhalten? Zunächst zur Überwachungskompetenz. Die Haushaltskriterien des Maastricht-Vertrages gelten nicht nur für die Euroländer, sondern für alle EU-Staaten. Was ist mit den Ländern, die zwar der EU, aber nicht der Eurozone angehören? Der ESM ist da keine Lösung. Sollen die einen von der Europäischen Kommission und die anderen vom ESM überwacht werden?

Was die besonderen Verfahren der Haushaltsüberwachung in der Eurozone und die wirtschaftspolitischen Auflagen für ESM-Schuldner angeht, ist zu fragen, wieso der ESM ein besserer Kontrolleur sein soll als die Europäische Kommission. Schäuble meint: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“. Aber der ESM wird letztlich von seinem Gouverneursrat, den Finanzministern, dirigiert – also genau von denen, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben kein Interesse daran, gerügt zu werden oder gar Geldbußen zu zahlen. Ein Finanzminister hackt dem anderen kein Auge aus. Man würde die Böcke zu Gärtnern machen. Die Fiskalregeln können nur funktionieren, wenn die Sanktionen automatisch greifen. Dazu sind die meisten Regierungen der Eurozone aber – unter der Führung Frankreichs – nicht bereit. Damit ist schon Theo Waigel gescheitert.

Nun zu den wirtschaftspolitischen Auflagen, die den Empfängern von ESM-Krediten auferlegt werden. Ob sie eingehalten werden, prüft bisher die sogenannte Troika aus Kommission, EZB und IWF. Die Einsicht wächst, dass die EZB nie Mitglied der Troika hätte werden dürfen. Es ist nicht die Aufgabe von Zentralbankbeamten, die Wirtschaftspolitik demokratisch gewählter Parlamente und Regierungen zu kontrollieren.

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Der ESM ist als Kontrolleur ebenfalls ungeeignet, denn die Anreize der ESM-Beamten sind verzerrt. Die ESM-Bürokratie möchte Macht ausüben und Ansehen genießen. Das tut sie, indem sie Kredite vergibt. Außerdem erzielt sie auf diese Weise Zinseinnahmen, mit denen sie ihre Gehälter finanziert. Der Umfang der Kredite, die sie vergeben kann, ist desto größer, je lascher sie die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Auflagen kontrolliert. Denn wenn sie die Verletzung der Auflagen ahnden will, muss sie die Kreditprogramme abbrechen.

Dieses Anreizproblem ist aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sattsam bekannt. Zwar hat der IWF zum Beispiel im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abgebrochen (Urbaczka, Vaubel, Cato Journal 2013). Aber auf dreißig dieser 41 Programme folgte innerhalb eines Jahres das nächste Programm. Nur fünf Staaten erhielten nach dem Abbruch ihres Programms keinen Kredit mehr. Die Regierungen der Schuldnerländer kennen das Interesse der IWF-Beamten und nehmen die Auflagen daher nicht ernst. Sie bekommen ja so oder so bald einen neuen Kredit.

Wenn die IWF-Beamten dagegen in der Euro-Troika darüber mitentscheiden, ob die Auflagen des ESM eingehalten worden sind, haben sie kein Interesse, zu lasch zu sein, denn es geht ja nicht um Kredite des IWF, sondern des ESM. Auch in der Frage der Schuldentragfähigkeit hat sich der IWF als unbestechlicher Mahner erwiesen. Wolfgang Schäuble wollte den IWF anfangs nicht dabei haben, aber er hat seine Meinung geändert: „Die Frage war, machen wir es als Europäer, oder machen wir es mit dem Internationalen Währungsfonds? … Ich habe gesagt, das müssen wir als Europäer schon alleine schaffen. Angela Merkel fand, die Brüsseler Kommission kann die nötige Härte nicht aufbringen, so wie sie nun mal konstruiert ist. Die Kanzlerin hatte recht“ (FAS, 22.10.17). Selbst Schäuble kann also heute nicht dafür sein, den IWF aus der der Troika zu drängen. Im Gegenteil, da ESM, EZB und Kommission aus den genannten Gründen nicht geeignet sind, die Einhaltung der ESM-Auflagen zu überwachen, bleibt für diese Aufgabe eigentlich nur der IWF übrig.

Ist es sinnvoll, wie die Bundesbank weiterhin vorschlägt, den ESM bei Umschuldungen einzuschalten? Nein, denn auch hier gibt es ein gravierendes Anreizproblem. Da der ESM selbst ein Gläubiger der umschuldenden Staaten ist, sind seine Beamten daran interessiert, dass der ESM keine Forderungen abschreiben muss und dass die anderen Gläubiger auf einen möglichst großen Teil ihrer Forderungen verzichten. Sein institutionelles Interesse hindert den ESM also daran, als neutraler „Broker“ Umschuldungen zu organisieren. Effizient wäre die Einschaltung des Pariser bzw. Londoner Clubs, die auch sonst für Umschuldungen zuständig sind.

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Die verschiedenen Vorschläge zur „Weiterentwicklung“ des ESM sind daher nicht durchdacht. Das mag erklären, weshalb die FDP in ihrem Wahlprogramm die Forderung aufgestellt hat, dass „die Ausleihekapazität des ESM kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Da der ESM nicht auf EU-Recht, sondern auf einem gesonderten völkerrechtlichen Vertrag beruht, könnte die Bundesrepublik ihre Mitgliedschaft sogar wegen der grundlegenden Änderung der Umstände einseitig kündigen. Aber schon vor der Wahl schränkte er die FDP-Forderung ein: „Eine Weiterentwicklung des ESM halte ich für vorstellbar, wenn es um eine fiskalische Sicherheitsarchitektur geht. Die Kontrolle der Reformfortschritte in den Programmländern könnte an den ESM übergehen“ (20.06.17). In diese Richtung argumentierte während der gescheiterten Jamaika-Sondierungen auch der europapolitische Unterhändler Alexander Graf Lambsdorff: „Es geht darum, (den ESM) optimal zu nutzen. Ein Auslaufen steht im Moment nicht an. Aber die Frage ist: Wie machen wir ihn zu einem Instrument, mit dem Wirtschaftsreformen in ganz Europa vorangetrieben werden können?“ (Interview, Deutschlandfunk, 05.11.17).

Wenn man dem ESM jetzt zusätzliche Kompetenzen gäbe, die ihn langfristig als unentbehrlich erscheinen lassen, würde man jedoch seine spätere Abschaffung erschweren.

Wirtschaftspolitische Auflagen kann der ESM nur aushandeln, wenn er gleichzeitig subventionierte Kredite vergibt. Die Verbilligung der Kredite schwächt die Bereitschaft, Reformen zu ergreifen und Auflagen zu erfüllen. Außerdem wird man sich in Zukunft weniger scheuen, überhaupt erst einmal in eine Krise zu geraten. Deshalb ist der ESM alles andere als ein „Stabilitätsmechanismus“. Bei der subventionierten Kreditvergabe des Internationalen Währungsfonds ist es nicht anders. Je mehr IWF-Kredite einem Land noch zur Verfügung stehen, desto höher sind sein Haushaltsdefizit und seine Geldmengenexpansion (Dreher, Vaubel, Open Economies Review, 2004).

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat es einmal so formuliert: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen – und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“


Roland Vaubel ist emeritierter Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Er hat im November zu diesem Thema das folgende Buch veröffentlicht:

Das Ende der Euromantik – Neustart jetzt
Springer Taschenbuch (14,99 Euro) und e-book

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