Es gibt viele Gründe für ein Politikstudium. Einer dieser Gründe ist, dass man spätestens bei Erstkontakt mit der politischen Theorie beginnt Begrifflichkeiten des Alltags zu hinterfragen. Begrifflichkeiten, die man vorher im alltäglichen Diskurs selbstverständlich verwendet hat und dadurch erst ihre eigentliche Bedeutung erhalten, werden ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit beraubt und das ist eine wahnsinnig spannende Angelegenheit! Man spricht nicht mehr einfach von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Moral und Co. Stattdessen fragt man, worum es sich bei diesen Werten überhaupt handelt. Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Als ob man nicht auch ohne Politikstudium Dinge auf ihren Gehalt prüfen würde. Aber fragen Sie sich doch einmal selbst, was z.B. soziale Gerechtigkeit für sie bedeutet. Oder wie Freiheit in ihren Augen definiert ist. Plädieren Sie eher für einen negativen oder positiven Freiheitsbegriff und wie legt man fest, was gerecht und was ungerecht ist? Haben Sie auf Anhieb klare Antworten darauf? Dann nehme ich alles zurück. Haben Sie sich nicht, grämen sie sich nicht. Das ist normal, zeigt uns aber eben jene Selbstverständlichkeit auf, Begriffe zu verwenden, die wir oft gar nicht genau für uns definieren können und deren Bedeutung deshalb gar nicht richtig erfasst wird.
Ist uns das erst einmal bewusst, setzt jedoch ein Prozess ein, der schlussendlich dafür sorgt, dass plötzlich nichts mehr selbstverständlich ist. Jedes Wort ist nicht mehr einfach nur Wort und wird mehr oder weniger standardisiert benutzt. Die hohle Phrase, das einfache Dahersagen gilt nicht mehr. Das eigene Denken wird grundlegend auf die Probe gestellt und nicht selten erschüttert. Aber lässt man sich auf die Erschütterung ein, ist sie stets positiv im Sinne der Erweiterung des eigenen Horizonts zu sehen. Das gilt für ganze Theorien genauso wie einzelne Begrifflichkeiten Dabei sorgt die Erschütterung des eigenen Denkens schließlich dafür, dass man sich an immer mehr gedankliche Grenzen herantraut und sie überschreitet. Am Anfang wagt man sich an so etwas wie Gerechtigkeit und Freiheit, bis man irgendwann bei den Begrifflichkeiten landet, die oft noch viel selbstverständlicher erscheinen und es noch weniger sind. Einer ist die Moral.
„Moral?“ höre ich jetzt einige sagen. Was kann an Moral, an moralischem Handeln schon schlecht sein? Sorgt die Moral nicht dafür, dass wir zusammenhalten, dass wir hilfsbereit sind? Es widerstrebt uns, an einem Begriff, der so selbstverständlich positiv konnotiert ist, etwas Schlechtes zu finden. Aber fragen Sie sich auch hier einmal, was Moral überhaupt für Sie ist.
Der Moral wohnt die Intoleranz inne
Hier offenbart sich der diffuse Charakter und das Problem von Moral. Zweifelsohne ist sie, sofern sie überhaupt klar definiert werden kann, nämlich für jeden etwas anderes und dennoch wohnt ihr stets ein absoluter Wahrheitsanspruch inne. Welche Konflikte sich daraus ergeben können, wird nicht zuletzt ersichtlich, wenn wir die bekanntesten Formen von Moralvorstellungen, die Religionen, betrachten. Moral wirkt, das hat schon Niklas Luhmann hervorgehoben, potentiell desintegrierend, weil sie durch ihren ganzheitlichen Wahrheitsanspruch in der Kommunikation einen Angriff nicht auf ein bestimmtes Argument einer Person darstellt, sondern immer einen Angriff auf die ganze Person an sich, sofern diese Person eine andere Vorstellung von Moral besitzt.
Da ich davon ausgehe, dass es meinen Gott gibt, kann es deinen nicht geben. Du liegst falsch und mit dir dein ganzes moralisches Fundament. Der Moral wohnt die Intoleranz inne. Nicht verwunderlich also, dass Luhmann die Moral nah an den Streit und folglich auch nah an die Gewalt rückt. Moral führt nicht zu Einigung, sondern eher zu Kommunikationsabbruch, weil sie argumentativ ob ihres diffusen Charakters und ihres Wahrheitsanspruchs nicht angegriffen werden kann. Die Glaubenskriege der letzten Jahrhunderte belegen das.
Wenn sie sich mit einem Kirchenmann unterhalten und dieser argumentiert damit, dass es Gottes Wille ist, können sie ihm das nur schwerlich absprechen, weil sie dafür erstens belegen müssten, dass es Gott gibt oder nicht gibt und zweitens, wenn es ihn gibt, dass er es nicht so gemeint hat, wie ihr Gesprächspartner es behauptet. Treffscharf bemerkte Luhmann: „Mit Moral immunisiert man sich gegen die Evidenz des Nichtwissens, weil die moralisch bessere Meinung sich mit ihren eigenen Argumenten bestätigen kann.“. Damit zeigt er auf, was klar sein sollte: Moral hat im politischen Diskurs und als Grundlage politischen Handelns nichts zu suchen.
Zweifelsohne ist das auf den ersten Blick eine harte Aussage, weil sie dazu zwingt, sich von dem Glauben zu verabschieden, dass Moral oder Berufung auf Moral im politischen Diskurs und Handeln per se etwas Gutes ist. Ja, sich mit der Erkenntnis anzufreunden, dass sie sogar etwas Schlechtes sein kann, von dem wir in bestimmten Bereichen Abstand nehmen sollten, weil sie der weit verbreiteten Annahme zuwider mehr schadet als hilft.
Moral setzt ein, wo Argumente fehlen
Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass sich in politischen Diskussionen und Handlungen immer wieder auf sie bezogen wird. Nicht nur in privaten Diskussionen über Politik, sondern auch von Politikern, Journalisten und allen anderen, die in der politischen Debatte um ihre Meinung gefragt werden oder selbst politisch handeln. Der Grund ist einfach und bereits angesprochen: Was Luhmann mit der „Immunisierung gegen die Evidenz des Nichtwissens“ meint, ist nichts anderes als die Tatsache, dass Moral da ansetzt, wo die rationalen Argumente ausgehen. Deswegen wird sie so gern verwendet. In der Religion, genauso wie in der Politik.
Übertragen wir dies auf die Flüchtlingskrise, so lässt sich erahnen, dass dieser Umstand nicht zuletzt all jenen zu Gute kommt, deren eigene Weltsicht durch eben jene Krise gerade ordentlich auf die Probe gestellt wird. Es spricht alles dagegen, dass wir die Aufnahme weiterer Flüchtlinge kulturell und wirtschaftlich verkraften? Aber unsere Humanität, die Moral gebietet es doch! Wer will da schon widersprechen und sich dem Vorwurf aussetzen, kalt, herzlos und unmoralisch zu sein?
So ist die hiesige Flüchtlingskrise wohl das beste Beispiel dafür, weshalb Moral kein guter Ratgeber ist und die Frage aufwirft, ob Moral selbst letztlich immer moralisch ist. Denn nur weil mit der Moral argumentiert wird, heißt es nicht, dass den Menschen am Ende durch das aus der moralischen Argumentation abgeleitete Handeln mehr geholfen wird als durch jenes Handeln, was sich aus einer rational politischen Argumentation ergibt. Ja was ist, wenn das Argument der Moral sogar dafür sorgt, dass wir am Ende niemandem mehr richtig helfen können, dass Wut und sogar Hass auf Fremde ob des Verteilungskampfes und der verschiedenen Vorstellungen von Gerechtigkeit weiter zunehmen? Wie viel Moral kann man sich in der politischen Debatte erlauben? Und was, wenn uns Moral am Ende unmoralisch macht?
Ich lasse Merkel an dieser Stelle bewusst heraus, weil ich schlicht nicht daran glaube, dass die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage aus moralischen Gründen gehandelt hat. Auch die vor diesem Hintergrund aufkommende Frage, was Kirchen- und Verbandsvertreter von religiösen Vereinigungen in Polit-Talkshows zu suchen haben, soll hier nicht weiter vertieft werden. Nicht zuletzt, weil ich glaube, dass sie vor dem Hintergrund dieses Textes selbstklärend ist.
Nein, an dieser Stelle soll es im weitesten Sinne um die Helfermoral gehen. Um jene Moralvorstellungen, die dazu führen, dass sich Menschen in der Flüchtlingskrise engagieren. Was ist, wenn Helfen am Ende nicht wirklich hilft?
Und wenn Helfen am Ende nicht wirklich hilft?
Mit dieser Fragestellung bewegt man sich in den Augen Vieler durchaus auf dünnem – und da haben wir es wieder – unmoralischem Eis. Menschen dafür kritisieren, dass sie helfen? Das geht doch nicht! Helfen wird noch mehr als seine moralische Fundierung per se als etwas Gutes angesehen. Weil auch hier der Aktionismus im Vordergrund steht. Handeln ist besser als Nichthandeln und von außen kritisch kommentieren oder mit Bedacht darüber nachzudenken, ob und was genau getan werden sollte und von wem, eher verpönt. Würde es die vielen Flüchtlingshelfer nicht geben, wäre doch schon längst alles Krachen gegangen. Vor dem Hintergrund dieser Annahme erlaube ich mir zwei provokante Fragen:
- Ist dem wirklich so?
- Und wenn ja, wäre das wirklich so schlimm gewesen?
Dabei erscheint es wichtig zu betonen, dass hier Niemandes Moralvorstellungen kritisiert werden sollen. Wie jeder andere Mensch habe auch ich moralische Vorstellungen, die mich beeinflussen. Dieser Beeinflussung sollte man sich jedoch bewusst sein, um differenzieren zu können, wo sie angebracht ist und wo eher nicht. Es hier nicht im Sinne einer ethischen Theorie darum, Moralvorstellungen ihrem Inhalt nach als gut oder schlecht zu bewerten, sondern um einen Versuch, zu belegen, dass Moral in bestimmten Bereichen nicht Grundlage von Argumentation und Handlungen sein sollte. Zumindest, wenn es sich nicht um institutionalisierte und in geltendes Recht gegossene Moral handelt. Alltagsmoral ist nicht politische Ethik. Diese Unterscheidung ist elementar.
Ein kleines Gedankenexperiment zur Veranschaulichung: Was wäre denn passiert, wenn sich die Politik in den letzten Monaten nicht auf all die ehrenamtlichen Helfer hätte verlassen können? Richtig. Sie hätte handeln müssen – und das schneller und effektiver und vermutlich restriktiver, als sie es in all den letzten Monaten getan hat. Was wäre die Folge eines schnelleren, effektiveren, restriktiveren Handelns in der Flüchtlingskrise gewesen? Meines Erachtens wäre ein Großteil der aufkommenden Besorgnis, der Ängste, der Wut und teilweise des Hasses im Keim erstickt worden. Die Grande Peur, die die Menschen spätestens nach Köln ergriffen hat, wäre nicht aufgekommen und das schlicht aus dem Grund, dass die meisten Menschen nämlich keine Rassisten sind, sondern Leute, bei denen sich ob der gefühlten Handlungsunfähigkeit der Politik und der Ignoranz der Medien ein diffuses Gefühl der Angst eingestellt hat, welches sich mittlerweile fast tagtäglich aufgrund des immensen Politikversagens steigert und in manchen Fällen in Wut und irrationalen Hass umschlägt.
Die Frage, ob wirklich alles krachen gegangen wäre, würde ich vor diesem Hintergrund also verneinen. Es hätte lediglich dafür gesorgt, dass man von Seiten des Staates die Hilfe hätte professionalisieren und das gegebene Asylrecht hätte strikter anwenden müssen. Das beantwortet zugleich die zweite Frage, ob es wirklich schlimm gewesen wäre, wenn es so gekommen wäre. Vermutlich nicht.
Helfermoral und Helfersyndrom
Was wir stattdessen erlebt haben, ist eine auf Grundlage eines diffusen Moralbegriffes geführte Debatte, die jede rationale Herangehensweise und sachliche Argumentation, die die Dinge konsequent zu Ende denkt, als unmoralisch, kaltherzig oder gar rassistisch gebrandmarkt hat und es trotz Köln und all den anderen Dingen, die allmählich an die Oberfläche schwappen, in Teilen immer noch tut. Das Ergebnis ist evident: Keine konkreten Lösungen, dafür munteres Weiterstreiten und Uneinigkeit in Politik und Medien. Ein groteskes Schauspiel, bei dem der Bürger als eigentlicher Souverän dazu verdammt ist, von außen zuzuschauen.
Aber zurück zur Flüchtlingshilfe und der Frage, ob Hilfe wirklich immer hilft. So zeigt nicht zuletzt auch die fehlende Professionalisierung von Flüchtlingshilfe und die Herangehensweise von Politik und Helfern an das Thema der Integration, dass eine diffuse Moral auch hier kein Ratgeber sein sollte.
In den letzten Wochen häuften sich in der Presse die Berichte desillusionierter Flüchtlingshelfer. Was dabei vor allem herausstach, war die Helfermoral dieser Menschen. Einige sprachen sogar selbstkritisch von Helfersyndrom. Und das ist das Problem. Es spricht nichts gegen ein gesundes Maß an Helfermoral beim Einzelnen. Zweifelsohne wäre unsere Gesellschaft nicht dieselbe, wenn wir nicht auch jeder Züge in uns hätten, die dafür sorgen, dass wir Mitleid mit anderen empfinden und dass es zu unserem moralischen Anspruch gehört, dort zu helfen, wo unsere Hilfe gut tut. Schwierig wird es dann, wenn die Moral zum Helfen pathologisch wird.
Wenn sich daraus ein moralischer Anspruch ableitet, der z.B. im Falle der Flüchtlingskrise das Abwägen politischer und gesellschaftlicher Konsequenzen von Hilfe verhindert. Moral wird in diesem Fall zum Selbstzweck, zum unreflektierten Helfersyndrom, was mitunter vielleicht sogar mehr schadet als hilft. Es ist diese pathologische Helfermoral, die Deutschland aufgrund vielfältiger Gründe in weiten Teilen immer noch fest im Griff hat und die einen der Hauptgründe dafür darstellt, dass ich sage, dass wir das in Deutschland mit der Integration einfach nie vernünftig hinbekommen werden, so lange wir davon nicht abrücken.
Meine erste direkte Selbsterfahrung mit diesem moralischen Anspruch hatte ich in der Uni. Ich hatte damals selbst vor, in der Flüchtlingshilfe aktiv zu werden und ging deshalb zu einem Informationsabend einer neugegründeten Uni-Gruppe für Flüchtlingshilfe. Von all den Dingen, die uns an diesem Abend erzählt wurden, war es vor allem eine Information, die mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Es ging darum, dass die fremde Kultur den Leuten näher gebracht werden sollte. Mit fremder Kultur war dabei allerdings nicht die deutsche Kultur gemeint und mit Leuten auch nicht die Flüchtlinge. Gemeint war, dass wir Workshops besuchen sollten, die uns die kulturellen Gepflogenheiten der Flüchtlinge näher bringen.
Das mag dem ein oder anderen an dieser Stelle nicht verwerflich erscheinen. Für mich war es nach einigen Tagen Bedenkzeit der Grund, weshalb ich dort nicht aktiv geworden bin. Nicht, weil ich andere Kulturen nicht spannend finde oder gerne etwas darüber lerne, sondern weil ich es für einen grundsätzlich falschen Ansatz in Bezug auf die Integration von Flüchtlingen halte, dass man von Anfang an mehr Anpassung von den Helfern als von den Flüchtlingen selbst fordert. Integration funktioniert auch durch Integrationsdruck und der kommt durch diese Art von Hilfe nicht auf.
Dieses Problem ist in der Flüchtlingshilfe kein Einzelfall. Das Problem, dass Helfer Flüchtlinge zur Unselbstständigkeit „erziehen“ ist keine Seltenheit und kommt vor allem dort vor, wo Hilfe nicht professionalisiert ist und jeder nach seinem eigenen Gutdünken und auf Grundlage seiner Alltagsmoral handeln kann. Vor allem in der freiwilligen Hilfe zeigt sich hierbei zudem nur allzu oft, dass es in erster Linie vor allem um Selbsthilfe in Form der Beruhigung des eigenen Gewissens und Befriedigung des eigenen Helfersyndroms geht und nicht um adäquate Integration und angemessene Hilfe zur Selbsthilfe von Flüchtlingen. Das betrifft den Bereich der Sprache genauso wie die falsch verstandene Toleranz gegenüber kulturellen Eigenheiten, die sich manchmal auch darin äußert, dass man nicht versteht, weshalb die eigene Frau nicht geschlagen werden darf. Die Konsequenz sind ganze Einwanderergenerationen, die keinen Respekt vor der deutschen Kultur haben und einen regelrechten Integrationsunwillen an den Tag legen. Wieso auch sollten Einwanderer sich integrieren, wenn sie doch so durchkommen? Und warum sollten sie als Menschen, die derart stolz die eigene Kultur vor sich hertragen, Respekt vor einer Bevölkerung haben, die ihre Kultur so bereitwillig über Bord wirft?
Moral in Form von Schuldgefühl, schlechtem Gewissen und daraus erwachsener Vorstellung, Helfen zu müssen, darf keine Grundlage sein, weder für die Diskussion, noch für die Handlung in der Flüchtlingskrise. Als individueller Kompass im Hinterkopf ist sie zweifelsohne von Bedeutung, aber ihr Einfluss auf das eigene Denken gehört reflektiert. Eine Krise im Ausmaß der jetzigen Flüchtlingssituation löst man nicht mit Moral, die für jeden etwas anderes ist, sondern mit rationalen politischen Erwägungen, die die Konsequenzen in alle Richtungen aufzeigen und auf Grundlage dessen nach Lösungen suchen. Es ist dringend an der Zeit, uns zu fragen, ab wann Moral nicht mehr moralisch ist und welche Art von Hilfe wirklich hilft. Und vielleicht ist dieser Ansatz letztlich der Moralischste von allen.