Ist die Hamas eine Terrororganisation? Israel hat diese Frage immer bejaht, auch die USA und die Europäische Union stimmen zu. Im politisch-medialen Raum ist deshalb von „Terroristen“ die Rede. Wer seit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 eine andere Auffassung vertritt, macht sich verdächtig. Mit dem Wort „Kämpfer“ könnte das Leid der Israelis relativiert werden. Nicht selten wird zugleich Sympathie für die Sache der Islamisten unterstellt. Selbst Wissenschaftler beugen sich dem Druck und verbreiten unreflektiert das dominante Etikett.
„Der Terrorist des Jahrhunderts“
Im Zeichen der Barbarei ist es nicht unüblich, das eigene Entsetzen auf Begriffe zu übertragen, die dadurch emotional aufgeladen werden. Im April 1989 titelte Der Spiegel zu Adolf Hitler: „Der Terrorist des Jahrhunderts“. Die Formulierung stellt sofort richtige Assoziationen her, ist in typologischer Hinsicht jedoch falsch. Hitler war ein Staatsmann, der für schlimmste Verbrechen verantwortlich ist. Der Anführer einer Terrororganisation gebietet hingegen nicht über Armeen, er kontrolliert keine Gebiete und er ist auch nicht in der Lage, in andere Länder einzumarschieren. Dazu sind nur Staaten oder starke substaatliche Verbände fähig.
Es braucht also Abstufungen, um klarer zu sehen. Politische Akteure, zu deren Instrumentarium die Ausübung von Gewalt gehört, können auf drei Stufen unterschieden werden: Terroristen, Insurgenten (Guerilleros, Partisanen, Warlords) und Staaten. Kriminelle (Banditen, Piraten, Organisierte Kriminalität) fallen nicht in diese Aufzählung, da sie primär monetär motiviert sind. Zum Wesen des Terroristen gehören eine organisatorische Zellenstruktur und eine klandestine Vorgehensweise. Er versucht, durch medial in Szene gesetzte Anschläge politische Botschaften zu transportieren.
Erst wenn seine Organisation deutlich größer wird, sie Gebiete halten kann, Unterstützung in der Bevölkerung findet, staatliche Parallelstrukturen aufbaut und Waffen beschafft, mit denen sich Soldaten bekämpfen lassen, ist eine neue Stufe erreicht. Aus dem Terroristen wird ein Aufständischer.
Die Geschichte ist reich an Metamorphosen politischer Gewalt. Die Mitglieder der Rote Armee Fraktion waren Terroristen. Da ihr Anliegen bei den Deutschen nicht auf Sympathie stieß, konnte die Baader-Meinhof-Gruppe nicht den Status von Insurgenten erreichen. Ganz anders erging es Fidel Castro und seinen Revolutionären, die 1958 auf Kuba Diktator Fulgencio Batista besiegten. Kurz darauf wurden aus Guerilleros reguläre Soldaten. Die Taliban starteten ebenfalls als Insurgenten. Sie eroberten 1996 die Macht, kämpften nach dem Sturz von 2001 als Partisanen und riefen 2021 erneut das Islamische Emirat Afghanistan aus.
Die Al Qaida ist nie über das Niveau von Terroristen hinausgelangt. Im Gegensatz zum „Islamischen Staat“, der alle Stationen politischer Gewalt durchlaufen hat: von Guerilleros zu staatsähnlichen Strukturen und zurück. In Europa ist diese Organisation, die zwischenzeitig große Teile Iraks und Syriens kontrollierte, ausschließlich als Terrorgruppe in Erscheinung getreten. In Schwächephasen nehmen solche Formationen den Charakter von Bewegungen an.
„Islamistische Miliz“
Wie kann vor diesem Hintergrund ein umstrittener Akteur angemessen eingeordnet werden? Eine Beschreibung muss seinen typologischen Kern sowie die Schattierungen berücksichtigen. Die Hamas ist demnach eine politische Organisation sunnitischer Prägung, die in den Palästinensergebieten nach Einfluss strebt und langfristig Israel vernichten will. 2006 hatte sie bei den Parlamentswahlen die Mehrheit der Sitze errungen und kurzzeitig den Ministerpräsidenten gestellt. Nach dem Zerwürfnis mit der Fatah 2007 war es ihr gelungen, im Gazastreifen einen Unterbau zu errichten, der staatliche Aufgaben übernahm. Dieser könnte in den kommenden Monaten, je nach Durchschlagskraft des laufenden Krieges, weitgehend oder sogar ganz zusammenbrechen.
Selbst wenn es dazu kommt, würden die paramilitärisch operierenden Kassam-Brigaden nicht vollständig vernichtet werden. Vor Beginn der Kampfhandlungen sollen sie laut The Military Balance über 15.000 bis 20.000 Kämpfer verfügt haben. Diese Einheiten machen den Kern der Organisation aus. Deshalb kann die Hamas als „islamistische Miliz“ eingeordnet werden, zu deren Instrumentarium Terroranschläge gehören. Es hängt dann von ihrem aktuellen Zustand ab, ob sie auch als Partei in politischen Wahlen auftritt oder sogar in der Lage ist, in einem abgegrenzten Gebiet regierungsähnliche Aufgaben zu übernehmen.
Was die Kassam-Brigaden am 7. Oktober 2023 vor allem in den Kibbuzim und auf dem Musikfestival angerichtet haben, ist das Ergebnis eines Terrorakts. Zumal ganz gezielt zivile und nicht militärische Ziele angegriffen worden sind. Die pauschalen Zuschreibungen der israelischen Seite („Bestien“, „genozidal“, „schlimmer als ISIS“, „neue Nazis“) haben damit zwar einen wahren Kern, sie sind aber auch politisch motiviert. Dem Krieg im Gazastreifen werden viele Zivilisten zum Opfer fallen. Um die internationale Solidarität nicht zu früh zu verlieren, soll der Gegner als personifizierter Teufel dargestellt werden.
Die scharfe Kritik an der Hamas und ihrer antisemitischen Haltung ist berechtigt. Auch führte kein Weg am Einsatz von Bodentruppen vorbei. Zwar darf der politische Kontext nicht vergessen werden. Wenn Jerusalem von „Terroristen“ spricht, versucht es natürlich auch, im Subtext Palästinenser und ihre Anliegen pauschal zu diskreditieren. Ganz unschuldig an dieser Wahrnehmung sind die Bewohner des Gazastreifens und Westjordanlands aber nicht. Islamisten-Führer Ismail Hanija hätte Amtsinhaber Mahmud Abbas gemäß einer Umfrage vom September 2023 in einer Abstimmung um die Präsidentschaft in den Autonomiegebieten mit 58 zu 37 Prozent besiegt. In der Parlamentswahl wäre die Hamas auf 34 Prozent gekommen, die Fatah auf 36 Prozent.
Eine Terrororganisation hat keinen solchen gesellschaftlichen Einfluss und sie tritt auch nicht zu Wahlen an. Ihr wäre weder die mehrfache Überwindung des Sicherheitszauns gelungen noch hätte sie Grenzposten überrannt. Deshalb ist die politisch motivierte Verwendung vereinfachender Etiketten gefährlich. Denn sie können Entscheidungsträger dazu verleiten, die Möglichkeiten eines Gewaltakteurs zu unterschätzen. Genau das ist der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 7. Oktober 2023 passiert.
Was bedeutet das für die Zukunft? Die Verankerung einer schlagkräftigen Miliz in der Bevölkerung lässt die üblichen Antiterror-Maßnahmen ab einem bestimmten Punkt ins Leere laufen. Die direkte Bekämpfung im Gazastreifen wird der Hamas zwar massiv schaden, aber nicht ihr politisches Programm aus der Welt schaffen. Ganz gleich also, wie erfolgreich die Angriffe der israelischen Streitkräfte sein werden: Das Problem wird sich militärisch nicht vollständig lösen lassen.
Martin Wagener ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin