Tichys Einblick
Macron zu Gast bei Orban

Warum der deutsch-französische Motor auch Polen und Ungarn unbedingt braucht

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron besucht heute Ungarn. Er hat nicht nur eine realistischere Vorstellung von den eigenen nationalen Interessen, sondern auch von den Notwendigkeiten und Möglichkeiten in der EU als die Berliner Politik. Von Daniel Landeck

Emmanuel Macron

IMAGO / PanoramiC

Am heutigen Montag besucht der französische Präsident Emmanuel Macron die ungarische Hauptstadt Budapest, um sich dort mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dessen Kollegen der Visegrád-Gruppe zu treffen. 

Es ist nicht nur der Zeitpunkt, der interessant ist – nach Bildung einer deutschen Regierung und Mitten im französischen und ungarischen Wahlkampf – , sondern auch der Umstand, dass Mitteleuropa für Frankreich ganz offenbar eine steigende Bedeutung hat. Denn Emmanuel Macron ist nicht der erste Präsidentschaftskandidat der vor den französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 nach Budapest eilt: seine Herausforderer Éric Zemmour und Marine Le Pen waren auch schon da.

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Und eigentlich ist dies überhaupt nichts Besonderes, denn Frankreich ist nicht nur eines der größten und stärksten Länder Europas, und nachdem das Vereinigte Königreich die EU verlassen hat, die einzige Atommacht des Kontinents, sondern auch ein Land, welches seit jeher betreibt, was für fast alle Staaten der Welt normal ist und nur in Deutschland höchstens in den Hinterzimmern der Wirtschaftsbosse ein bisschen verschämt gedacht und dann auch ausschließlich in den Wirtschaftsbeziehungen umgesetzt wird: Interessenpolitik, Geopolitik.

Frankreich hingegen macht aus seinen Interessen keinen Hehl. Neben dem Selbstbewusstsein einer ehemaligen Weltmacht, welche bis heute weite Teile Afrikas bestimmt und enormen Einfluss in Europa hat, gibt es einen Bereich, in welchem Frankreich nach wie vor unangefochten ist: Das Land betreibt mehr als 50 Atomkraftwerke, ist Atomwaffenmacht und hat nicht die geringste Absicht, seinen Platz an der strahlenden Sonne aufzugeben. Kein Land der Welt hat einen so hohen Anteil an Nuklearenergie an seiner Stromerzeugung wie Frankreich, und kein Land der Welt verteidigt seine politischen Interessen so vehement über das Atomwaffenoligopol wie Frankreich. Nicht zuletzt auch über den UN-Sicherheitsrat.

Wenn Frankreich heute in Ungarn mit der Visegrád-Gruppe zusammentrifft, trifft sich damit auch die Atomenergie-Interessenvereinigung. Betrachtet man den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung dieser Länder, erkennt man ganz eindeutig eine Abhängigkeit von Atom-Strom: Frankreich 70%, Slowakei über 50%, Ungarn etwas unter 50% und Tschechien etwa 35%. In Deutschland liegt dieser Wert bei etwa 10%.

Man kann über Atomstrom und Atomwaffen ganz sicher verschiedener Meinung sein. Und manches spricht auch gegen die Verwendung dieser Technologie. Aber sicher ist auch, dass der vollkommen überstürzte, kopflose Atomausstieg, wie ihn Deutschland beschlossen hat, sicherlich nicht einer an der Realität orientierten Energieversorgungssicherheit Genüge trägt. Im Übrigen zeigt auch das Stromaustauschsaldo, dass Deutschland auf französische Kernenergie angewiesen ist. Egal, wie man zur Atomkraft steht, wenn man Energieversorgungssicherheit in Europa gewährleisten will, kommt man nicht ohne Atomstrom aus. So ärgerlich es ist und so sehr eine Diversifikation der Abhängigkeit wünschens- und erstrebenswert wäre: ohne Atomstrom gehen in Europa die Lichter aus.

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Da ist es wohl kaum reiner Zufall, das Frankreich eine ganz andere Politik verfolgt als Deutschland. Und dies nicht nur in Bezug auf Atomtechnologie oder in den Wirtschaftsbeziehungen. Während Deutschland, auch insbesondere mit seiner neuen Ampel-Regierung, sehr ideologie-basierte Politik betreibt, basiert Frankreichs Außenpolitik auch in der europäischen Politik auf Interessen. Frankreich fordert nicht umsonst eine strategische Unabhängigkeit Europas.

Frankreich übernimmt in Kürze die EU-Ratspräsidentschaft. Dies ist für jeden Staat eine wichtige Möglichkeit, sich politisch auf europäischer Ebene zu profilieren und seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft Europas darzustellen. Und Emmanuel Macron ist von jeher entschlossen, einen eigenen Beitrag zur Weiterentwicklung der EU beizutragen. Er will auf jeden Fall in die Geschichte der EU eingehen. Das bezeugte er schon mehrfach. Seine wichtigste Initative war vielleicht die Grundsatz-Rede an der Pariser Sorbonne-Universität 2017. 

Präsident Macron stellte lapidar fest, was viele in der EU schon lange denken: „Das Europa, wie wir es kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient, aber allein Europa kann uns eine Handlungsfähigkeit in der Welt geben angesichts der großen Herausforderungen dieser Zeit.“ Und neben vielen Vorschlägen, die er machte, und welche sicherlich nicht von allen Mitgliedstaaten geteilt werden, stellte er jedoch auch fest, dass das größte Problem der EU die innere Zerstrittenheit ist: „Anstatt also all unsere Energie auf unsere inneren Spaltungen zu konzentrieren, wie wir es nun
schon viel zu lange machen, anstatt unsere Debatten in einem europäischen Bürgerkrieg zu verlieren, müssen wir eher darüber nachdenken, wie wir Europa stärker machen in der Welt, wie sie ist“. Das Deutschland auf diese Rede nicht einmal reagierte, spricht Bände. 

Kurz vor seinem Besuch in Budapest stellte Emmanuel Macron seine Pläne für die im Januar 2022 beginnende französische Ratspräsidentschaft vor. Auf Fragen von Journalisten antwortete er, dass für ihn Viktor Orbán zwar ein politischer Gegner, aber auch ein europäischer Partner sei. Und genau da ist der Unterschied zwischen deutscher und französischer Europapolitik. Während die EU die heilige Kuh der Deutschen ist, ist sie für alle anderen nur das, was sie eigentlich ist: ein politisches Konstrukt, gegründet, um die Staaten Europas durch freiwillige Kooperation zu einen und zu stärken. Man muss nicht in allem einer Meinung sein, aber man muss sich auf Augenhöhe begegnen und dort kooperieren, wo es möglich ist.

Die EU war niemals als ein Superstaat oder eine gegen die Mitgliedstaaten gerichtete Organisation gedacht. Und außer den Deutschen wäre wohl niemand bereit, sein Heimatland gegen eine von Brüssel gelenkte Zentrallösung zu tauschen. Die EU soll den Mitgliedstaaten dienen und nicht umgekehrt. Die EU ist kein Allheilmittel. Hier liegt der Kern des Problems: Während die Brüsseler Bürokraten und einige EU-Fanatiker mit Volldampf an einer „ever closer Union“ arbeiten, also die EU über alles stellen, wollen die meisten Mitgliedstaaten und ihre Bürger lediglich dort eine freiwillige, enge europäische Zusammenarbeit und starke Kompetenzen auf EU-Ebene, wo es einen wirklichen Mehrwert bring, wo es Europa stärker und besser macht. Und wo diese Kompetenzen freiwillig abgetreten wurden.

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Es ist im übrigen ein grundlegend falsches Bild, welches davon ausgeht, die Mitgliedstaaten hätten mit ihrer Mitgliedschaft in der EU ihre Souveränität an eine höhere EU-Ebene abgetreten. Vielmehr haben sie einige Teilbereiche ihrer Souveränität in eine gemeinsame, einstimmige Instanz, den Rat delegiert. In allen anderen Bereichen gilt nach wie vor das gute, alte, bewährte Subsidiaritätsprinzip, also dass jede politische Entscheidung so nah an den Bürgern stattfinden sollte wie möglich. Und in sehr vielen Fragen ist und bleiben dies der Nationalstaat oder die darunter angesiedelten politischen Entscheidungsebenen. Es kommt ja nicht einmal in Deutschland jemand auf die Idee, die Bundesländer abzuschaffen, egal ob zugunsten des Bundes oder der EU. Die EU – und Europa allgemein noch viel mehr – kann nur stark sein, wenn die sie tragenden Staaten stark sind und es ihr gemeinsames Interesse ist, in einigen Bereichen zusammen stark zu sein. 

Emmanuel Macron tut also gut daran, weder Polen noch Ungarn und schon gar nicht Deutschland als Feinde der EU zu betrachten, wie es die deutsche öffentliche oder besser veröffentlichte Meinung so gern tut. Weder Polen noch Ungarn sind gegen die EU. Sie wollen aber eine EU, die mit ihnen und nicht gegen sie arbeitet. Man kann Europa nur in Partnerschaft auf Augenhöhe gestalten. Wenn es mehr sein soll als ein Zwei-Takt-Motor, wenn Europa auch gut laufen soll, benötigt es neben einem starken Motor, der laut brummt, auch weitere Bauteile. Die Visegrád-Region und Mitteleuropa allgemein können so etwas sein wie das Fahrgestell, also die tragenden Teile des Fahrzeugs. Tragende Teile haben die Funktion, den Antrieb, die Karosserie und die Nutzlast zu tragen und gegen äußere Krafteinwirkungen zu stabilisieren. Gerade auch letzteres ist ohne Polen und Ungarn kaum denkbar. Das hat Präsident Macron verstanden und das sollten andere auch, wenn sie nicht nur eine zentralere EU, sondern ein besseres Europa wollen.


Daniel Landeck ist Leiter des Brüssel Büros der Fidesz-Stiftung, der Stiftung für ein Bürgerliches Ungarn. Er schreibt hier seine persönliche Meinung.

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