Tichys Einblick
Eine historische Gestalt mit vielen Facetten

Walther Rathenau zum 150. Geburtstag am 29. September

Rathenau war eine vitale, komplexe Persönlichkeit. Seine Begabungen, Fähigkeiten, Interessen und seinen starken Ehrgeiz bündelte er mit einem beeindruckenden Gestaltungswillen und setzte ihn ein in wirtschaftlicher, politischer und künstlerischer Verantwortung.

Hulton Archive/Getty Images

Schon für seine Zeitgenossen zeigte Rathenau verschiedene Gesichter, die sie schwer in Einklang bringen konnten. Heute scheint sich der Vorgang im historischen Rückblick zu wiederholen. Wie kann es sein, dass sich ein Monarchist für die Republik totschießen lässt, ein Jude gegen seine eigene Religion polemisiert und ein liberaler Großkapitalist auf Sozialreformen in der Wirtschaft drängt? Die kaum noch übersehbare, im Detail sehr ergiebige Rathenau-Literatur versieht ihn deshalb regelmäßig mit Etiketten wie „zwiespältig“ oder gar „schillernd“, „paradox“. An solchem Eindruck hat auch der in Moskau aufgefundene Nachlass nichts grundsätzlich ändern können.

Literaturkennern ist Rathenau aus dessen „raffinierter Persiflage“ (Ernst Schuling) in der Figur des Dr. Paul Arnim in Robert Musils opulentem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von 1930 begegnet. In Wahrheit war Rathenau eine vitale, komplexe Persönlichkeit, der seine Begabungen, Fähigkeiten, Interessen und seinen starken Ehrgeiz mit einem beeindruckenden Gestaltungswillen bündelte und in wirtschaftliche, politische und künstlerische Verantwortung transportierte. Der alle partikularen Loyalitäten und Bindungen (Familie, Betrieb, Amt, etc.) umgreifende Horizont seiner Aktivitäten war, schlicht gesagt, sein Land. Das Auge des heutigen Betrachters ist dafür trübe geworden, findet an Golo Manns emphatischer Beschreibung „er war der heißeste Patriot und einer der ganz wenigen geistig schöpferischen Staatsmänner der Epoche“ kein Vorbild mehr. (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jh., 1958)

Ein Blick auf die Sachlage.
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Schon früh musste Rathenau in die Fußstapfen seines Vaters Emil treten, welchem es gelungen war, aus einer Hinterhoffabrik (im heutigen Berliner Wedding) Weltunternehmen aufzubauen, wie die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft AEG, die Berliner Elektrizitäts-Gesellschaft und die Telefunken GmbH. Sohn Walter avancierte, nach naturwissenschaftlichen und philosophischem Studium mit Promotion, zu Leitern der elektrotechnischen Werke in Neuhausen/Schweiz und Bitterfeld in den Jahren 1889 bis 1899. Von 1900 bis 1902 gehörte er zum Vorstand der AEG, danach war er von 1902 bis 1907  Geschäftsinhaber der „Berliner Handelsgesellschaft“, einer Bank. Irgendwann saß er in etwa hundert Aufsichtsräten.

Parallel dazu betätigte er sich spektakulär als Schriftsteller. Er forderte einerseits die Juden (die Rathenaus waren eine längst säkularisierte Familie) auf, sich kulturell an die modernen deutschen Lebensformen anzupassen; andererseits kritisierte er die Ausschließung von Juden vom Staatsdienst. Eine Reaktion auch auf das ihm verweigerte Offizierspatent nach seiner Einjährig-Freiwilligen-Dienstzeit beim kaiserlichen Heer. Als überaus erfolgreicher Buchautor problematisierte er die „Entseelung“ im technischen Großbetrieb, und er entwarf radikale gemeinwirtschaftliche Modelle der Wirtschaftsordnung. Wenig Resonanz fanden seine Appelle, endlich Führungskräfte aus der Wirtschaft zu politischen Entscheidungen heranzuziehen. Er selbst war nur in inoffizieller Mission in Deutsch-Ostafrika unterwegs.

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Die wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten erfüllten ihn mit Sorge. Er glaubte, sie durch eine europäische Zollunion unter deutscher Vorherrschaft entschärfen zu können. Er schrieb dazu 1913: „Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Hass der Nationen der schärfste Stachel genommen … Das ist nicht der Weltfriede… aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.“ Als der befürchtete Ernstfall im August 1914 eintrat, suchte er in der Kriegszielfrage – vergeblich – mäßigend auf den Reichskanzler Bethmann-Hollweg einzuwirken.: „Das Endziel wäre der Zustand, der allein ein künftiges Gleichgewicht Europas bringen kann: Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung gegen England und Amerika, gegen Russland andererseits politisch und wirtschaftlich gefestigt. Das Opfer, das wir zu bringen hätten, bestände im Verzicht auf französischen Landerwerb und in Ermäßigung der Kontribution.“ .

Mit Kriegsbeginn übernahm Rathenau die Organisation der Rohstoffabteilung im Kriegsministerium; die Behörde hatte er selber vorgeschlagen. Er löste die Aufgabe glänzend, eine offizielle Anerkennung blieb nach seinem Rücktritt im Mai 1915 verletzenderweise aus. Er hielt aber Kontakt mit führenden Militärs, vor allem (bis zum späten Bruch) mit Ludendorff. Während des Krieges äußerte sich Rathenau zurückhaltend, um dann ausgerechnet kurz vor der Novemberrevolution zu einer „totalen Mobilisierung aller Kräfte“ aufzurufen, man müsse aus einer Position der Stärke in die Friedensverhandlungen gehen. Solche Sprünge verwirrten die Öffentlichkeit. Er selbst vermerkte lakonisch: „Die Alten sahen in mir die Revolution, die Jungen in mir die Reaktion.“

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Nach einigem Zögern berief ihn die neue sozialdemokratische Reichsregierung 1920 in die Sozialisierungskommission, hatte er sich doch in Theorie und Praxis in Sachen Planwirtschaft ausgewiesen. Zwar zerschlugen sich Rathenaus Hoffnungen auf Umsetzung seiner ordnungspolitischen Konzepte schnell, doch begann damit seine eigentlich politische Laufbahn (er war inzwischen Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei geworden, der auch Theodor Heuss angehörte), gleichzeitig alle Positionen in der Wirtschaft niederlegend. An den Reparations-Konferenzen von Spa und London (1920/21) war er schon beteiligt. Im Jahr 1921 berief ihn Reichskanzler Joseph Wirth zum Wiederaufbauminister und bestimmte ihn zum Leiter der deutschen Delegation weiterer Konferenzen in Wiesbaden und Cannes. Im zweiten Kabinett Wirth übernahm er am 1. Februar 1922 das Außenministerium. Mit dieser exponierten Stellung betrat Rathenau vulkanischen Boden der noch gänzlich ungefestigten Weimarer Republik: die Haltung gegenüber dem Versailler Vertrag. Auf der Konferenz in Genua im April setzte er (gegen den Magnaten Stinnes) einen Verständigungskurs durch. Am Rande der Konferenz schloss er in Rapallo den ersten Vertrag mit Sowjetrussland; völlig überraschend, denn Rathenau war für seinen Westkurs bekannt. Die Gründe lassen sich im Nachhinein nicht mehr einwandfrei ausmachen.

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Jedenfalls zog sich Rathenau nunmehr endgültig den Hass rechtsradikaler und antisemitischer Kreise zu, die in ihm den „Erfüllungspolitiker“ par excellence ausmachten. Dabei ist die Bezeichnung nicht abwegig, sah er doch als Ökonom voraus, dass damit Deutschland besser fahren würde als mit heroischem Widerstand, wie das Jahr 1923 mit Inflation und Ruhrbesetzung zeigen sollte. Am 22. Juni 1922 erlag er den Folgen eines Attentats auf der Fahrt ins Auswärtige Amt. Reichspräsident Ebert erhob ihn zum „Märtyrer der Demokratie und der Republik“, ein Bild, das in seiner einseitigen Betonung der Staatsform die Schwierigkeiten mit der Bewertung von Rathenaus Lebensleistung verdeutlicht. Er empfand sich primär als ein Diener des Gemeinwesens, in welchen Aktivitäten er immer er auch involviert war, ob als Manager, Politiker, Maler oder Schriftsteller..

Diese Gebrochenheit in der Einschätzung zieht sich bis in die Gegenwart. Der Westen ehrte den Industriellen und Weimarer Politiker, der Osten den Russlandfreund und staatsozialistischen Theoretiker. Und heute? Die peinlichen Vorgänge um die Weiterfinanzierung der Rathenau-Gedenkstätte im Schloss Bad Freienwalde im Nordosten Berlins, seinem früheren Zweitwohnsitz, belegen, dass keine in sich einheitliche Rathenau-Lobby existiert, die sich geschlossen in der öffentlichen Meinung bemerkbar machte. (s. Internet und Lokalpresse). Daran wird auch die gerade erscheinende 70-Cent-Sonderbriefmarke gewiss nichts ändern.


Dr. Rainer Waßner ist Soziologe und Dozent i.R. an der Universität Hamburg. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Sozial- und Zeitgeschichte.

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