Im Märchen nimmt es mit dem Wolf ein böses Ende. Er hatte alle Scheu vor den Menschen verloren, sich die Großmutter einverleibt und schließlich auch noch ein naives kleines Mädchen mit roter Mütze vernascht. Zu guter Letzt wurde er mit Wackersteinen vergrämt, sodass er leider zum Opfer der Schwerkraft wurde und in den Brunnen stürzte. Alle waren glücklich und zufrieden, denn keiner hatte sich die Hände schmutzig gemacht. In Niedersachsen ist das Wolfsmärchen auf dem besten Wege, Wirklichkeit zu werden. Noch ist der Wolf nicht in den Brunnen gefallen, aber wenn er sich nicht benimmt, könnte es bald soweit sein. Eine nicht ganz ernst gemeinte Parabel mit Anleihen aus dem wirklichen Leben.
Der Wolf auf Wohlstandswanderung
MT6 ist ein Einwanderer. Er trägt ein zotteliges Fell, kommt von den Schießgebieten in einer Heideregion, die sich Munster nennt, und hat irgendwann auf verschlungenen Pfaden über die Grenze gemacht ins gelobte Land, wo Milch und Honig fließen. Seine Wolfseltern und einige seiner Brüder und Schwestern sind zurück geblieben, aber der Sohn sollte es besser haben. Sie haben ihm gesagt, dass er jetzt gehen müsse nach Westen. Dort sei das Land des Überflusses mit Menschen, die wohlgesonnen und verständnisvoll sind. Er müsse von Stund an nicht mehr mühsam einer flinken Beute hinterher hetzen oder sich im Winter von Mäusen und ähnlichem kargem Getier ernähren, um satt zu werden. Die Nahrung wachse dort buchstäblich vor dem Wald in Form von dummen, aber fetten Wolltieren.
Dort sei er in Sicherheit. Das Land sei von einer Spezies bevölkert, die sich Menschen nennt. Den Menschen sei er willkommen, denn sie lebten schon lange in Eintracht, Glück und Zufriedenheit, so dass sie sich jetzt nach Abwechslung sehnten. Nicht wenige, so die Elternwölfe, sähen in den exotischen Wolfseinwanderern eine Bereicherung ihrer Umwelt und Identität. Das seien die guten Menschen, wegen ihrer Lieblingsfarben auch Rotgrünkäppchen genannt. Andere – die Trolle – hätten Angst vor dem Fremden, das Wölfe nun einmal mit sich bringen. Aber die hätten nicht viel zu sagen und ihre Warnungen würden in den Wind geschlagen. Tonangebend seien die Leitmenschen.
Wie die Wölfe durch ständige Kommunikation in Erfahrung gebracht hatten, die über weite Strecken trägt, wurde von Leitmenschen dort extra ein Gesetz erlassen, dass ihn und seinesgleichen vor Unbill bewahrte. Wie es hieß, sei ihr größter Feind, der Jäger, kaltgestellt worden, indem das Entnehmen von Wölfen aus der Natur unter hohe Strafe gestellt wurde. Man habe die Wölfe über viele Generationen schlecht behandelt und wolle das jetzt wieder gut machen.
Die Zeitungen in dem Land des Überflusses waren begeistert und berichteten, dass jetzt alles noch besser werde mit der Umwelt und überhaupt. Man müsse nur wollen, dann könne man es schaffen. Menschen, die nicht so wollten, mussten leider mit dem Pranger Bekanntschaft machen.
Leitmensch Umweltministerium
Irgendwann hielten sich die Jäger aus der Sache heraus und überließen die Geschicke der Wölfe ausschließlich einem Leitmenschen, der ein großes Haus führt, das sich Umweltministerium nennt. Dieser Leitmensch glaubt an das Gute im Wolf, weil ihm wahrscheinlich in der Kindheit das Märchen vom Rotkäppchen nicht vorgelesen worden ist.
Also machte sich MT6 auf und durchstreifte bald ein 351 Quadratkilometer großes Gebiet. Einige aus seiner Sippe waren mitgekommen, hielten sich aber zumeist zurück. Bald merkten sie, dass es einfacher war, ein Wolltier der Natur zu entnehmen, das zu langsam war, um wegzulaufen, als sich die Mühe zu machen, sich tüchtig für sein täglich Brot ins Zeug zu legen. Da entnahmen sie lieber Wolltiere, in drei Monaten 44 Stück.
Viele Freunde machten sie sich nicht mit ihrem Verhalten, wie man sich denken kann, doch die Schaf- und Rinderhalter konnten sich mit ihrem Groll nicht durchsetzen. Um sie zu beruhigen und ggf zu entschädigen, traten vom Leitmenschen bestellte Experten auf den Plan, um festzustellen, ob es sich bei den Übeltätern tatsächlich um Wölfe und nicht um einheimische Wolfsverwandte handelte, die sich seit vielen Generationen zu Haus- und Hofhunden entwickelt hatten.
Damit die Menschen keinen schlechten Eindruck von den Wölfen bekamen und um keine Vorurteile gegen sie zu schüren, unterließen es die Zeitungen möglichst, über schlimme Dinge auf den Weiden der Wolltierhalter zu berichten. Auch sonst traten täglich Experten in der Öffentlichkeit auf, die nicht nachließen, das hohe Lied vom guten Wolf zu singen. Man müsse ihn nur gezielt integrieren, das sei das Gebot der Stunde. Dann werde er sich schon einfügen und dem Land tausendfachen Gewinn bringen. Zum Beispiel könne der Wald wieder wachsen wie ehedem, weil nicht mehr so viele Rehe die Bäume anknabberten. Auf die bösen Vorfälle angesprochen, predigten sie ein ums andere Mal, dass sich nicht der Mensch ändern müsse, sondern der Wolf. Da beruhigten sich viele Menschen wieder und gingen fleißig, wie es ihre Art war, ihrem Tagwerk nach.
Doch meist reichte die Entschädigung nicht, und der Groll wuchs immer mehr. Forderungen von unbotmäßigen Menschen, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatten, nach strenger Begrenzung des Wolfszuzuges verhallten weitgehend ungehört. Der Wald und die Weiden seien zu groß, so hieß es, darum könne man keinen Zaun ziehen. Als ein verwegener Troll sogar forderte, sich im äußersten Fall mit Pulver und Blei der Wölfen zu erwehren, da brach ein schlimmer Streit aus. Dem schlimmen Troll wurde sein Wort so in den Mund gelegt, als wenn er unschuldige Zicklein hätte töten wollen.
Die Tage gingen ins Land. Als es einem Schafhalter unerträglich wurde, lud er eines Tages seine toten Wolltiere auf einen Anhänger und kippte ihn vor das Haus des Leitmenschen, der für Wölfe verantwortlich zeichnet. Auch das half nicht viel, denn die Leitmenschen hatten für viele Jahre das Sagen und mussten sich nicht sonderlich um die Sorgen der Wut-Menschen kümmern.
Eines Tages kam es dem MT6 in den Sinn, seinen Wald zu verlassen und sich bei den Menschen umzusehen. Einmal schlich er um einen Kindergarten herum, ein anderes Mal traf er eine Frau mit Kinderwagen und Hund mitten im Wohngebiet, dann wurden Bilder von ihm gemacht auf der Landstraße und anderswo. Er hatte jede Scheu vor den guten Menschen verloren und stellte fest, dass diese eigentlich noch langsamer waren als Wolltiere. Das war nicht so gut, denn besser wäre es gewesen, wenn ihm rechtzeitig Grenzen aufgezeigt worden wären.
Problemwolf
So war aus MT6 über Nacht ein Problemwolf geworden. Der Leitmensch der Rotgrünkäppchen musste sich rechtfertigen. Sicherheit für den Menschen stehe selbstverständlich an oberster Stelle, sagte er. Andererseits – leider, leider – könnten Angriffe auf Menschen nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden, sagte er. Das hatte man noch vor kurzem ganz anders vernommen. Allerdings gehe nach seiner Meinung von gesunden Wölfen in der Regel keine Gefahr aus.
Weil der Leitmensch ein Mann von Kultur ist, dem politische Korrektheit über alles geht, drückte er sich auch zu kritischen Dingen ausgesprochen gewählt aus. Wenn Vergrämungsmaßnahmen durch schwedische Experten keine Wirkung zeigten, meinte er, könne das „Entnehmen aus der Natur“ eine geeignete Maßnahme sein. Ein solcher Fall sei in Deutschland aber noch nicht eingetreten.
Allerdings gab es bereits 2006 einen Problembären, der auf den Namen Bruno hörte. Das heißt, er hörte eher nicht, denn Bruno scherte sich nicht um Ländergrenzen, tappte von Italien und Österreich unregistriert ins Bayrische und tat sich unter dem klammheimlichen Jubel von naturnahen Menschen an zahllosem Weidegetier gütlich. Selbst finnische Bärenjäger mit karelischen Elchhunden konnten ihn nicht fangen. Schließlich wurde er in Bayern der Natur entnommen, obwohl sich vorher sogar der Papst in Rom für Bruno stark gemacht hatte. So ist das mit der kirchlichen Fürsprache. Immerhin: An der Entnahmestelle errichteten Tierfreunde eine Art Altar und riefen zu Demonstrationen gegen die „Bärenmörder“ auf.
In Niedersachsen hat der Problemwolf noch keinen richtigen Namen, nur die Nummer MT6. Wenn es weiter so menschelt, ist aber auch das nur eine Frage der Zeit. Menschen sammelten jüngst demonstrativ 6000 Unterschriften pro MT6. Im Moment weiß niemand, wo er sich aufhält, weil er sein Halsband, das ihm die Menschen umgelegt haben, verloren oder abgeschüttelt hat. Sicher ist nur folgendes: Wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute.
Klemens Volkmann ist Redakteur im Ruhestand und hat viele Jahre in einer obersten Landesbehörde gearbeitet.