Tichys Einblick
Klare Priorität des Abendlandes

Von der Putinophilie zum Russenhass – eine Anatomie der europäischen Zahnlosigkeit

Russlandversteher und Russlandhasser treiben ungesunde Motive an. Dabei gibt es keinen Grund, eine fremde Kultur der eigenen vorzuziehen; andererseits dienen "Cancel culture" und unbedachter Militarismus der Selbstermächtigung im Inneren.
Von David Engels

IMAGO / ZUMA Wire

Europa rühmt sich gerne, der Kontinent von Frieden, Freiheit und Toleranz geworden zu sein: wie das späte römische Reich eine Art wohlwollende greise Elterngestalt, die lieber durch Vorbild und Güte wirkt als durch zugreifende Politik. Blickt man auf die Artikel der europäischen Presse und die Kommentarspalten der sozialen Medien in diesen letzten Jahren, entsteht ein ganz anderer Eindruck: Hass, Häme, Besserwisserei, Auftrumpfen, Schuldzuweisungen und Drohungen, wohin man nur blickt – lange scheint sie vergangen, die Zeit, als der europäische Bürger sich am Ideal des Gentleman orientierte und sich im öffentlichen Diskurs eher der Ironie als der Pöbelei bediente. Von der Eurorettung über die Migrationskrise, die Trump-Präsidentschaft und den Brexit bis zur Covid-Pandemie sind die Hemmschwellen immer niedriger geworden – nicht nur auf Seiten der jeweiligen Opposition, sondern ausdrücklich auch der Leitmedien und ihrer Verfechter.

Die öffentliche Bewertung der russischen Invasion der Ukraine stellt eine weitere Etappe auf diesem Weg dar und ist in dieser Hinsicht äußerst erhellend – nicht nur für die innere Verfassung der Russlandversteher, sondern auch der Russlandgegner. Und nur, um keine Missverständnisse hervorzurufen: Unter diesen Begriffen meine ich natürlich weder jene, die sich um ein objektives Verständnis der russischen Motivationen bemühen, wie es in der Tat unabdingbar für eine realistische europäische Außenpolitik ist, noch jene, welche aus gegenwärtigen oder vergangenen Gründen ein gesundes Misstrauen gegenüber dem eurasischen Großreich empfinden. Gemeint sind ausschließlich jene, bei denen Verständnis wie Gegnerschaft eine durch die Fakten nicht mehr rechtfertigte Dimension annehmen und somit in jeder Hinsicht kontraproduktiv für die einzige Sache ausfallen, die wirklich für uns zählen darf: die Verteidigung und Pflege der abendländischen Zivilisation, angesichts derer alle nationalen Alleingänge und Befindlichkeiten ganz in den Hintergrund rücken müssten.

Putinophile sehen in Russland einen „Deus ex machina“

Beginnen wir also mit den Russlandverstehern. Um angesichts eines unprovozierten mörderischen Angriffskriegs auf ein europäisches Nachbarland eher Sympathien mit dem Angreifer als mit dem Verteidiger zu äußern, egal, was die diplomatische Vorgeschichte sein mag, bedarf es schon starker Motivationen. Natürlich finden wir unter den Russlandverstehern zunächst die üblichen chronischen Querulanten und pathologischen Nein-Sager, welche sich schon aus Prinzip konträr zu allen Mainstreampositionen verhalten und offensichtlich ein gewisses Vergnügen daran empfinden, wenn ihnen ihre Provokationen endlich jene öffentliche Aufmerksamkeit garantieren, die ihnen im sonstigen Leben wohl fehlt.

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Während hier die Putinophilie gewissermaßen reflexhaft und letztlich inhaltlich beliebig auftritt und erst in einem zweiten Schritt aus rasch Angelesenem ideologisch untermauert wird, ist der Fall des überzeugten Russlandverstehers erheblich interessanter. Die wichtigste Motivation dürfte hier allerdings nicht die innige Liebe zur Putin’schen Politik oder zum gegenwärtigen Russland sein, sondern vielmehr der Hass auf den Westen – ein Hass, der sich nicht nur aus der durchaus verständlichen Ablehnung von US-Imperialismus, Brüsseler Bürokratie und Woke-Ideologie speist. Vielmehr liegt er oft genug begründet in einer tieferen Desolidarisierung mit dem Abendland in seiner Gesamtheit: Ob nun aus einem gewissen pseudo-proletarischen Anti-Elitismus oder aber aus der schmerzlichen Erkenntnis des bereits weit fortgeschrittenen Verfalls unserer Zivilisation stammend, wird dem Abendland jegliche Fähigkeit zur Selbstheilung oder doch wenigstens -stabilisierung abgesprochen und das Heil in der Fremde gesucht – beim großen „russischen Bruder“, der für die einen der „Deus ex machina“ ist, der die westeuropäischen Konservativen aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, für die anderen gar der künftige, durchaus willkommene Hegemon, der endlich wieder Recht, Ordnung und Tradition durchsetzen soll.

Natürlich handelt es sich in beiden Fällen um ein Fehlkalkül, da zum einen Russlands Interesse an den europäischen Konservativen streng auf der Praxis des „divide et impera“ beruht, während zum anderen die Erwartung, eine russische Hegemonie sei wirklich ein lebenswerter oder gar „konservativer“ Zustand für den europäischen Kontinent, wohl von kaum jemandem geteilt werden kann, der diese Herrschaft tatsächlich je erlebt hat – es sei denn als Folge einer Art Stockholm-Syndrom, denn bei allem Whataboutismus über die in der Tat bedenklichen Fehlentwicklungen der westlichen Welt hin zu Meinungsdiktatur und Überwachungsstaat haben Regimekritiker doch in Russland, wo der vielgefürchtete „Great Reset“ längst faktische Wirklichkeit geworden ist, höflich ausgedrückt einen erheblich schwereren Stand als im Westen.

Es bestehen gute Gründe, die russische Welt als eine der abendländisch völlig fremde Kultur zu betrachten

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Freilich: Vielleicht ist es gerade jener Autoritarismus dem politischen Gegner gegenüber, jene Bereitschaft zur brachialen Durchsetzung der eigenen Ziele, der für einige Europäer in ihrem tiefsten Inneren nicht etwa abschreckend, sondern anziehend wirkt: Wer selbst zum Opfer seiner Überzeugungen wird, ist nur allzu gerne bereit, sich in einen Zustand hineinzuwünschen, wo die Verhältnisse umgekehrt sein könnten – teils vielleicht in der durchaus ehrlichen Hoffnung, dadurch den eigenen Idealen zum Sieg zu verhelfen, teils aber sicherlich auch aus dem weniger ehrenwerten Motiv von Ressentiment und Rache. Denn ja, die bewusste Idealisierung von Gewalt und Macht, wie wir sie seit langem als Markenzeichen russischer und sowjetischer Politik kennen, findet in der nach außen hin zunehmend zahnlosen und pazifistischen abendländischen Spätzivilisation, dessen Restenergie nicht in das Schaffen, sondern das Umverteilen, nicht in das Erfinden, sondern das Ausnutzen, nicht in den Kampf mit äußeren Gegnern, sondern die Gängelung der eigenen Bürger fließt, durchaus Bewunderer, auch und gerade um ihrer selbst willen – eine Art Attraktivität der rohesten Form des Willens zur Macht, hinter dem auch ein Gutteil Exotismus steckt.

Denn wenn das Abendland von einem kulturmorphologischen Standpunkt aus sicherlich eine verbrauchte, sterbende Zivilisation ist, bestehen gute Gründe, die russische Welt mit Spengler als eine der abendländischen völlig fremde, sicherlich aber auch jüngere Kultur zu betrachten: Da mag für einige die Versuchung groß sein, sich den allesamt tragischen Entscheidungen unserer späten Zivilisation zu entziehen und das Heil in der Solidarisierung mit einem Russland zu suchen, das zudem zumindest langfristig durchaus auf der historischen Gewinnerseite, nämlich der Seite Chinas stehen könnte – eine psychologisch verständliche Entscheidung, die aber letztlich um keinen Deut besser ist als diejenige anderer Europäer, sich etwa zum Islam zu bekehren, und deren kulturelle Fahnenflucht sich ultimativ aus denselben Quellen speist wie der spiegelverkehrte Selbsthass der „woken“ Eliten, so dass verständlich wird, wieso wir auch auf Seiten der Linksradikalen eine ganz ähnliche Putinverehrung finden können.

Putingegner nehmen die Invasion zum Anlass, gegen den hauseigenen Konservatismus vorzugehen

Dies macht im Gegenzug aber klar, wieso auch manche Motive der pathologischen Putingegner oft alles andere als unproblematisch sind. Einmal mehr: Es geht hierbei nicht um jene, die sich energisch der Invasion der Ukraine entgegenstellen oder die nicht bereit sind, wesentliche Teile Europas gegen ihren Willen dem „Sicherheitsbedürfnis“ Russlands zu opfern, sondern um jene meist westeuropäischen „Aktivisten“, welche gestern noch den „Kampf gegen rechts“, gegen den Klimawandel oder gegen die Impfgegner zelebrierten und sich nun – und zwar aus demselben Affekt und mit demselben Gratismut – in eine neue Kampagne gestürzt haben.

Gerade die mittlerweile fast groteske Verdammung der russischen Kultur etwa des 19. Jh.s hat wenig mit einer echten Auseinandersetzung mit den tieferen ideologischen Gründen der russischen Invasion der Ukraine zu tun: Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, die zunehmend bedrohliche „cancel-culture“ der letzten Jahre habe hier einfach ein neues und praktischerweise wehrloses Ziel gefunden, um ihr kulturmarxistisches Agenda einer grundlegenden Verdammung aller kulturellen Schöpfungen „alter weißer Männer“ durchzusetzen: Wer aufgrund von Wladimir Putin Aufführungen von Tschaikowski „cancelt“, ist keinen Deut besser als der, der Statuen von Tadeusz Kościuszko mit BLM-Graffitis verunziert.

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Analog wird man auch bewerten müssen, dass die Putingegner letztlich in dieselbe Falle wie seine Verteidiger tappen und das gegenwärtige russische Regime, das wenig mehr ist als eine nur oberflächlich traditionalistisch und nationalistisch verbrämte Kontinuität des alten KGB-Staates, in die Kategorien des echten alten abendländischen Konservatismus zwängen und eben aus genau jenen (falschen) Gründen zu bekämpfen trachten, wie die anderen es verteidigen. Putin wird zur praktischen Projektionsfläche, um die berechtigte Kritik der Ukraine-Invasion untrennbar zu koppeln an den schon seit langem unternommenen Kampf gegen die innere rechte Opposition, deren Positionen durch Vermischung mit denjenigen Putins diskreditiert und unmöglich gemacht werden sollen: Der Hass auf Putin verbirgt nur schlecht den dahinterliegenden Hass auf den hauseigenen Konservatismus – und den Wunsch, ebenso mit diesem abzurechnen wie bald mit dem russischen Gegner.
Hinter dem Militarismus der Russlandgegner könnte der Wille zur politischen Selbstermächtigung stehen

Sehr bedenklich ist daher der zunehmend zu Tage tretende Militarismus notorischer Russlandgegner. Nicht etwa, weil einer gemeinsamen westlichen Aktion zur Hilfe der Ukraine nicht zuzustimmen sei, noch, weil der Westen nicht das Recht, ja gar die Pflicht habe, der nuklearen Drohung Russlands seine eigene Bereitschaft zur Nutzung seines Arsenals entgegenzusetzen, wenn er nicht ganz zum Opfer brutaler Einschüchterung werden will. Nein, sondern weil vielmehr der Eindruck sich aufdrängt, jene Aufrufe seien so undurchdacht, inkompetent und in so gravierender Weise auf einer völligen Fehleinschätzung des eigenen Wehrpotentials gegründet, dass das Resultat nur eine völlige Katastrophe sein kann – eine Katastrophe, die so offensichtlich scheint, dass man sich der Befürchtung nicht entziehen kann, sie sei manchen jener Hitzköpfe vielleicht gar nicht unlieb, da auch ihr Unbehagen am Zustand unserer Zivilisation zusammen mit ihrem Hass auf alle Andersdenkenden einen solchen Grade erreicht hat, dass eine Orgie der Zerstörung nicht als Katastrophe, sondern willkommener Anlass zu Abrechnung und Umverteilung gesehen werden könnte.

Unter dieser Perspektive mag in der Verdammung des so skrupellos machtpolitisch legitimierten großrussischen Expansionismus für viele Europäer, deren selbstgewählte Machtlosigkeit sich aufs Schönste mit der hochmoralisierenden US-amerikanischen Hegemonial- und Menschenrechtspolitik vermählt, auch ein Gutteil unbewusster Neid verbergen, und man geht wohl nicht fehl, in der Radikalisierung des Diskurses um Sanktionen und Militäreinsätze keineswegs nur die berechtigte Sorge um die Zukunft der souveränen Ukraine zu sehen, sondern auch einen willkommenen Anlass zur politischen Selbstermächtigung nach innen.

Der Leser wird verstanden haben: Es ging mir hier weder um eine Diskussion der politischen Motivationen der Russlandgegner wie -unterstützer, noch gar um die Skizzierung einer sowohl den Interessen des Abendlandes und seiner Nationalstaaten als auch den Gesetzen der Menschlichkeit gerecht werdenden konkreten Russlandpolitik (diese mag ein andermal geliefert werden), sondern vielmehr die Tatsache, dass sich sowohl in Kreisen der Russlandversteher wie auch der Russlandgegner eine politische Willensbildung vollzieht, deren Motive ebenso ungesund sind wie sie mit den tatsächlichen Ereignissen nur oberflächlich etwas zu tun haben, so dass aus ihnen auch nur höchst unglückliche Konsequenzen folgen können.

Niemand – ob Russland, China oder die USA – wird uns retten, außer wir Europäer selbst

Je zahnloser und verbrauchter Europa und die Europäer werden – ein Phänomen, das ganz besonders den Westen des Kontinents betrifft –, desto größer wächst auch ihr Hass; ein Hass allerdings, der nicht stark genug ist, sich in aller Offenheit eine ehrliche Bahn nach außen zu brechen und zur konstruktiven politischen Tat zu werden, sondern der nur noch in der inneren Zerfleischung ausgelebt werden kann sowie der Versuchung, andere politische Akteure zum ausführenden Organ der eigenen Ressentiments zu machen – auch, wenn am Ende nichts anderes steht als eine noch größere Machtlosigkeit als zu Beginn.

Wird es Europa endlich wieder gelingen, sich ebenso von dieser Tendenz zur Selbstzerstörung zu befreien wie von der letztlich feigen Hoffnung auf eine Rettung von außen? Niemand auf dieser Welt – weder Russland noch China, Indien, der Islam oder selbst die USA – kann und wird uns „retten“ und erneut zu unserer alten Größe verhelfen: Das können nur die Europäer selbst. Doch dazu brauchen wir große Disziplin, klare Prioritätensetzung, Verzicht auf kleinliche Streitereien, strategische Wendigkeit und vor allem einen kompromisslosen abendländischen Patriotismus – alles leider noch Zukunftsmusik …

Professor Dr. David Engels ist Senior Analyst am Instytut Zachodni in Poznań.

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