Am 26.09.2024 kam es im Thüringer Landtag zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem Alterspräsidenten des Landtags und mehreren Abgeordneten, insbesondere mit Abgeordneten der CDU. Es gab tumultartige Szenen, die eines Parlaments unwürdig waren. Die Sitzung wurde vertagt.
Die CDU-Fraktion beantragte beim Thüringer Verfassungsgerichtshof eine einstweilige Anordnung, die auch erlassen wurde. Am 28.09.2024 wurde die Sitzung fortgesetzt. In dieser Fortsetzungssitzung setzte die CDU-Fraktion eine Änderung der Geschäftsordnung durch. Anschließend wurde ein CDU-Abgeordneter zum neuen Landtagspräsidenten gewählt. War das Erzwingen einer Änderung der Geschäftsordnung durch die CDU-Fraktion wirklich demokratisch und sinnvoll? Vor allem stellt sich die Frage: War die Änderung der Geschäftsordnung am 28.09.2024 überhaupt verfassungsgemäß?
Der Sachverhalt
Zunächst möchte ich die Geschehnisse anlässlich der Konstituierung des 8. Thüringer Landtags im September 2024 schildern, ehe ich zur juristischen Bewertung der Vorgänge komme.
Am 1. September 2024 fand in Thüringen eine Landtagswahl statt. Die AfD erhielt 32,8 Prozent der Stimmen und wurde stärkste Partei, die CDU erhielt 23,6 Prozent. Etwa drei Wochen später, am Donnerstag, 26.09.2024, fand die konstituierende Sitzung des Landtages statt, die traditionell vom Alterspräsidenten, also dem ältesten Abgeordneten, geleitet wird. Das war in diesem Fall der Abgeordnete Jürgen Treutler von der AfD.
Treutler wollte die Sitzung in der Art und Weise, wie üblicherweise konstituierende Sitzungen eines Landtages ablaufen, leiten, also mit den Tagesordnungspunkten Rede des Alterspräsidenten, anschließend die Bestimmung von zwei Schriftführern, die Feststellung der Beschlussfähigkeit und sodann die Wahl des Landtagspräsidenten ohne Aussprache auf Vorschlag der stärksten Fraktion, in diesem Falle also gemäß dem Vorschlag der AfD. Die AfD hatte die Abgeordnete Wiebke Muhsal als Kandidatin vorgeschlagen.
Die CDU-Fraktion versuchte schon bald nach Beginn der Sitzung, dieses Vorhaben zu „torpedieren“. Sie wollte noch vor der Wahl eines Landtagspräsidenten die Änderung der Geschäftsordnung durchsetzen mit dem Ziel, dass nicht allein die stärkste Fraktion einen Vorschlag für den Kandidaten des Landtagspräsidenten machen durfte, sondern jede Fraktion. Treutler versuchte, dieses Vorhaben zu verhindern. Er weigerte sich, den Abgeordneten der CDU das Wort für einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung zu erteilen.
Mehrere Mitglieder der CDU-Fraktion fielen ihm ins Wort, es gab tumultartige Szenen. Besonders bösartige Zungen bei der CDU und anderen Fraktionen sprachen von „Machtergreifung“ und vom Alterspräsidenten als „Feind der Demokratie“. Schließlich wurde die Sitzung ergebnislos vertagt. Die CDU-Fraktion und ein CDU-Abgeordneter beantragten beim Thüringer Verfassungsgerichtshof eine einstweilige Anordnung. Der Verfasssungsgerichtshof war anscheinend auf die Möglichkeit eines solchen Antrags vorbereitet. Jedenfalls entschied er bereits innerhalb eines Tages und gab der CDU-Fraktion recht, dass der Alterspräsident des Landtages den Abgeordneten schon vor der Wahl des Landtagspräsidenten das Wort erteilen und auch Anträge auf Änderung der Geschäftsordnung entgegennehmen und darüber abstimmen lassen müsse.
Am Sonnabend, 28.09.2024, wurde die Sitzung des Landtages fortgesetzt. Der Alterspräsident befolgte die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofes und erteilte den Abgeordneten der CDU-Fraktion das Wort. Von dort aus wurde beantragt, die Geschäftsordnung des Landtages dahingehend zu ändern, dass nicht allein die stärkste Fraktion, sondern dass JEDE Fraktion einen Vorschlag für die Wahl des Landtagspräsidenten machen dürfe.
Die Sitzung des Thüringer Landtags vom 28. September 2024
Wie oben bereits dargestellt, erwirkte die CDU-Fraktion des Thüringer Landtags beim Thüringer Verfassungsgerichtshof eine einstweilige Anordnung gegen den Alterspräsidenten. In der Sitzung vom 28.09.2024 wurde auf Antrag der CDU-Fraktion die Geschäftsordnung geändert. Nach der geänderten Geschäftsordnung war plötzlich jede Fraktion berechtigt, einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten zu benennen. In der anschließenden geheimen Wahl wurde der Kandidat der CDU zum Landtagspräsidenten gewählt.
Die von der CDU herbeigeführte Änderung der Geschäftsordnung war nicht sonderlich sinnvoll. Darüber hinaus war die Änderung der Geschäftsordnung verfassungswidrig.
Diese juristische Bewertung mag viele Leser überraschen. Mancher Leser wird sich fragen, ob die Geschäftsordnung eines Landtages überhaupt verfassungswidrig sein kann. Ich werde daher die Bewertung, dass die Änderung der Geschäftsordnung vom 28.09.2024 verfassungswidrig war, begründen und gehe dabei in drei Schritten vor: In einem ersten Schritt gebe ich ein Beispiel für eine verfassungswidrige Geschäftsordnung, bei der sogar der juristische Laie auf Anhieb erkennt, dass eine solche Geschäftsordnung verfassungswidrig wäre. In einem zweiten Schritt befasse ich mich mit den Rechtsquellen unseres Rechts, da die Kenntnis dieser Quellen zum Verständnis der Argumentation erforderlich ist. In einem dritten Schritt befasse ich mich konkret mit der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags vom 28.09.2024.
a) Die Sitzplätze
Jeder, der schon einmal eine Plenardebatte des Bundestages oder eines Landtages verfolgt hat, weiß, was ein Abgeordneter während einer Debatte macht, wenn er nicht gerade eine Rede hält oder sich mit anderen Abgeordneten unterhält: Er sitzt. Jeder Abgeordnete hat einen eigenen Sitzplatz. Was hier auf den ersten Blick banal erscheint, ist in Wahrheit juristisch interessant. Haben Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal gefragt, ob und wo in der Verfassung geregelt ist, dass jeder Abgeordneter ein Recht auf einen Sitzplatz im Plenarsaal hat? Ich kann Ihnen die Antwort geben: nirgendwo. Weder im Grundgesetz noch in einer Landesverfassung ist ausdrücklich geregelt, dass jeder Abgeordnete einen Anspruch auf einen Sitzplatz im Plenarsaal hat.
Was würden Sie also davon halten, wenn der Thüringer Landtag – das ist hypothetisch, er hat es nicht getan – am 28.09.2024 folgenden Paragraphen X in die Geschäftsordnung eingefügt hätte:
„§ X
(Absatz 1) Jeder Abgeordnete hat einen Anspruch auf einen Sitzplatz im Plenarsaal.
(Absatz 2) Absatz 1 gilt nicht für die Abgeordneten der AfD. Die müssen stehen.“
Eine solche Regelung wäre eklatant verfassungswidrig, was jeder juristische Laie sofort erkennt. Aber warum eigentlich? Ich habe doch gerade dargelegt, dass die Verfassung gar nichts über die Sitzplätze regelt. Die Antwort lautet: Weil eine solche Regelung eklatant gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstoßen würde (Art. 3 Abs. 1 GG). Wenn alle Abgeordnete in der Bundesrepublik seit 1949 einen Sitzplatz im jeweiligen Parlament hatten und bis heute haben, kann man nicht willkürlich den Abgeordneten einer Partei ein solches Recht entziehen.
b) Die Rechtsquellen
Die erste, wichtigste und zahlenmäßig umfangreichste Rechtsquelle (über 95 Prozent) ist das geschriebene Recht, auch „kodifiziertes“ Recht oder „positives“ Recht oder einfach „Gesetz“ genannt. Jeder von Ihnen kennt es, beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Strafgesetzbuch (StGB) oder das Straßenverkehrsgesetz (StVG) mit der darauf beruhenden Straßenverkehrsordnung (StVO).
Die zweite Rechtsquelle ist das sogenannte Richter-Recht. Davon spricht man, wenn ein hohes Gericht eine neue Rechtsfigur erfindet, weil die Notwendigkeit für die Regelung eines Sachverhaltes besteht und der Gesetzgeber längere Zeit untätig bleibt. Im juristischen Jargon spricht man allerdings nicht von „Erfindung“, sondern etwas vornehmer von „Rechtsfortbildung“. In der Sache ist es aber dasselbe.
Auch für dieses Richter-Recht kann ich Ihnen zwei wichtige Beispiele nennen:
- Das eine ist der sogenannte „Wegfall der Geschäftsgrundlage“, der in den 1920er Jahren vom Reichsgericht kreiert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer Hyperinflation von mehreren tausend Prozent. Es war den Menschen daher unzumutbar, an den ehemals geschlossenen Verträgen zu den ursprünglich vereinbarten Preisen festzuhalten. Das Reichsgericht schuf daher die Rechtsfigur vom Wegfall der Geschäftsgrundlage, sodass die ursprünglich vereinbarten Preise nicht mehr galten, sondern wertmäßig den inflationsbedingt gestiegenen Preisen angepasst wurden oder der jeweilige Vertrag aufgelöst wurde.
- Das andere Beispiel für Richter-Recht ist der heute geltende Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“. Diese Rechtsfigur ist eine Rechtsfortbildung des Bundesverfassungsgerichts. Schon in den frühen Jahren seines Bestehens schuf das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsfigur und leitete sie aus dem Rechtsstaatsprinzip ab (grundlegend: die Entscheidung vom 15.12.1965, Az. 1 BvR 513/65, veröffentlicht in BVerfGE 19, 342 ff). Obwohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nirgendwo im Grundgesetz steht und „nur“ Richter-Recht ist, hat dieser Grundsatz Verfassungsrang (BVerfG a.a.O.). Inzwischen wurde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwar in vielen Gesetzen ausdrücklich geregelt. Der Sache nach bleibt er aber Richter-Recht von Verfassungsrang. Selbst wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wieder aus allen Gesetzen herausgenommen würde, bliebe er als verfassungsrechtliches Prinzip aufgrund Richter-Rechts bestehen.
Die dritte Rechtsquelle ist das Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht ist das durch ständige Übung angewandte und von der Überzeugung der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit getragene, nicht geschriebene Recht (so bereits das Reichsgericht in RGZ 75, 41; ebenso das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 22, 114 (121) und in BVerfGE 28, 21 (28 f.).
Es müssen also zwei Komponenten erfüllt sein: Zum einen muss eine Übung längere Zeit und wiederholt praktiziert worden sein. Zum anderen muss diese Übung von den Beteiligten als rechtlich verbindlich angesehen worden sein. Auch für dieses Gewohnheitsrecht kann ich Ihnen zwei Beispiele nennen: Über mehr als hundert Jahre musste jeder Jurastudent in Deutschland die Rechtsfiguren der „culpa in contra-hendo“ (Verschulden bei Vertragsverhandlungen) und der „positiven Forderungsverletzung“ lernen und beherrschen. Beide Rechtsfiguren waren, bis sie vor einigen Jahren bei der letzten Schuldrechtsreform kodifiziert wurden, nicht im Gesetz geregelt.
Das Gewohnheitsrecht, also die Tatsache, dass es Gewohnheitsrecht gibt, wird schon seit beinahe 150 Jahren vom deutschen Gesetzgeber anerkannt. In § 293 ZPO ist ausdrücklich geregelt, dass das Gericht über Gewohnheitsrechte Beweis erheben muss, wenn sie dem Gericht unbekannt sind.
Gewohnheitsrecht ist, worauf ich besonders hinweisen möchte, kein „minderwertiges“ Recht, sondern vollwertiges Recht, das ebenbürtig neben dem geschriebenen Recht und neben dem Richter-Recht steht. Gewohnheitsrecht kann sogar, ebenso wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (s.o.), das Verfassungsrecht, beispielsweise Grundrechte, einschränken!
Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor vielen Jahren entschieden (Beschluss vom 18.02.1970, Az. 1 BvR 226/69, veröffentlicht in BVerfGE 28, 21 ff.). In dem damaligen Fall war ein Rechtsanwalt durch eine Zivilkammer eines Landgerichts von der Verhandlung ausgeschlossen worden, weil er sich weigerte, eine Robe anzuziehen. In dem dortigen Bundesland gab es damals keine ausdrückliche schriftliche Regelung, dass ein Anwalt vor dem Landgericht eine Robe zu tragen habe. Der Anwalt klagte dagegen und erhob schließlich Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde zurück. In der Begründung führte es aus, dass die Pflicht des Anwalts, vor Gerichten ab der Landgerichts-Instanz aufwärts (also nicht vor den Amtsgerichten) eine Robe zu tragen, seit über 100 Jahren in Deutschland Gewohnheitsrecht sei. Das gelte auch in denjenigen Bundesländern, in denen die Pflicht zum Tragen einer Robe nicht ausdrücklich geregelt sei. In diesem Umfang werde die Berufsfreiheit des Anwalts nach Art. 12 Abs. 1 GG in zulässiger Weise eingeschränkt.
c) Das Vorschlagsrecht
Gehen wir nun in medias res. Das – alleinige – Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion eines Landtags, einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten zu benennen, war und ist Gewohnheitsrecht von Verfassungsrang in Deutschland.
Seit 1949, seit der Verkündung des Grundgesetzes, also seit 75 Jahren, war es immer das alleinige Recht der stärksten Fraktion, einen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten zu benennen. Das war in allen Bundestagen seit 1949 so und das war in allen Landtagen Deutschlands seit 1949 so. Es liegt also ohne jeden Zweifel eine Übung vor, die über längere Zeit und wiederholt praktiziert wurde.
Diese Übung wurde auch von allen Beteiligten als rechtlich verbindlich angesehen. Es gab darüber nie einen parteipolitischen Streit. Gerade in Thüringen wurde dies sehr deutlich. Bei der Landtagswahl in Thüringen 2019 war die Partei „Die Linke“ stärkste Partei geworden mit 31 Prozent (also ähnlich wie jetzt die AfD) und auch damals war die CDU nur zweitstärkste Partei mit 23,4 Prozent geworden (also ähnlich wie jetzt 2024). Damals veranstaltete die CDU-Fraktion im Landtag aber kein solches Spektakel wie im September 2024, sondern erkannte anstandslos das alleinige Vorschlagsrecht der Partei „Die Linke“ an, woraufhin die Abgeordnete von den Linken Birgit Pommer, ehemals Keller, zur Landtagspräsidentin gewählt wurde. Damals hatte sich die CDU-Fraktion noch an das Gewohnheitsrecht gehalten.
Die Tatsache, dass das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion von allen Beteiligten als echtes Recht angesehen wurde, kann man auch an der früheren Geschäftsordnung des Landtages erkennen. Noch in der Geschäftsordnung des 7. Thüringer Landtages, korrigierte Fassung vom 15.05.2024, Drucksache 7/10000, hieß es in § 2 Abs. 2 S. 1, dass die stärkste Fraktion – niemand sonst – ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin bzw. zum Präsidenten vorschlägt.
Auch in Sachsen, wo ebenfalls am 1. September 2024 eine Landtagswahl stattfand, wurde das Gewohnheitsrecht bei der Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten des Sächsischen Landtags beachtet. Die stärkste Fraktion, dort die CDU, benannte den Abgeordneten Dierks als Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten, der auch mit der Mehrheit gewählt wurde. Und entsprechend dem Kräfteverhältnis wurde auch ein Abgeordneter der AfD, nämlich der Abgeordnete Wendt, zu einem der Vizepräsidenten gewählt.
Es mag ja sein, wie von manchen Juristen eingewandt wird, dass bei den Landtagen, ebenso wie beim Bundestag, das Prinzip der Diskontinuität gilt, dass also grundsätzlich jeder Landtag sich eine neue Geschäftsordnung geben darf. Das ändert aber nichts daran, dass das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion seit 75 Jahren in Deutschland von allen Beteiligten als Gewohnheitsrecht anerkannt wurde. Ebenso wenig, wie der Thüringer Landtag den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in einer Geschäftsordnung hätte abschaffen können, konnte er auch ein solches Gewohnheitsrecht von Verfassungsrang nicht abschaffen.
Die Änderung der Geschäftsordnung war auch nicht sonderlich sinnvoll. Wenn die CDU das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion, also der AfD-Fraktion, akzeptiert hätte und wenn die Abgeordneten am 26.09.2024 in einer geheimen Wahl, wovon getrost ausgegangen werden kann, ebenso abgestimmt hätten wie bei der geheimen Wahl am 28.09.2024, dann wäre die Kandidatin der AfD eben nicht gewählt worden. Aber das wäre kein Weltuntergang gewesen. Denn anschließend hätten die Abgeordneten des Parlaments das tun können und müssen, was der Bürger von jedem Abgeordneten erwarten darf: nämlich miteinander reden.
Vielleicht hätte die AfD ja noch einen anderen Kandidaten präsentiert, der auch für die anderen Fraktionen akzeptabel gewesen wäre. Oder man hätte sich in anderer Weise verständigt. Zumindest hätte man der stärksten Fraktion im ersten Wahlgang das Vorschlagsrecht belassen müssen und ihr noch eine zweite Chance geben müssen, einen Kandidaten zu benennen. Wenn auch ein zweiter Vorschlag abgelehnt worden wäre, dann – aber erst dann – hätte man vor einem dritten Wahlgang die Geschäftsordnung ändern können. Wenn zwei Wahlgänge gescheitert sind, liegt es nahe, das Verfahren für den dritten Wahlgang zu ändern. Genauso sieht es beispielsweise Art. 70 Abs. 3 der Thüringer Landesverfassung für die Wahl des Ministerpräsidenten vor.
Aber von vornherein, noch vor dem ersten Wahlgang, der stärksten Fraktion das ihr zustehende Recht auf alleinige Benennung eines Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten abzuschneiden, war verfassungswidrig, verstieß gegen den Gleichheitsgrundsatz und wird durch nichts entschuldigt.
„Die AfD ist laut Verfassungsschutz erwiesen rechtsextremistisch“
Ich habe gerade formuliert, dass die Missachtung des alleinigen Vorschlagsrechts der stärksten Fraktion verfassungswidrig und durch nichts zu entschuldigen war. War es vielleicht doch entschuldigt, weil die AfD rechtsextremistisch und verfassungswidrig ist? Seit Jahren hört man doch in den öffentlich-rechtlichen Medien und von den Politikern der etablierten Parteien wieder und wieder, dass die AfD nach Angaben des Verfassungsschutzes erwiesenermaßen rechtsextremistisch ist.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich klarstellen, dass ich die Feststellungen des Thüringer Amtes für Verfassungsschutz nicht grundsätzlich in Zweifel ziehe. In den Details kenne ich sie gar nicht. Es klingt für mich zumindest plausibel, dass die AfD in Thüringen auch viele Rechtsextreme anzieht und an sich bindet.
Gleichwohl kann ich diesen Satz, dass die AfD nach Angaben des Verfassungsschutzes erwiesenermaßen rechtsextremistisch sei, nicht mehr hören. Denn er wird von den Medien und den Politikern der etablierten Parteien missbraucht und ist verfassungsrechtlich irrelevant.
Ja, Sie haben richtig gelesen. Dieser Satz ist verfassungsrechtlich unerheblich und hat in einem Rechtsstaat auf Dauer nichts zu suchen. Warum das so ist, zeige ich Ihnen an einem Beispiel.
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie wohnen in Erfurt, haben eine Arbeit und sind sozial integriert. In der Vergangenheit allerdings waren Sie ein „schlimmer Finger“ und wurden schon fünfmal wegen Diebstahls rechtskräftig zu einer Strafe verurteilt. Eines Tages wird in die Wohnung Ihres Nachbarn eingebrochen und es werden Schmuck und Gegenstände im Wert von 10.000 Euro gestohlen. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, kann aber keinen Täter finden. Zwei Wochen später klingelt es an Ihrer Tür. Dort steht ein Polizeibeamter, nimmt Sie fest und erklärt Ihnen, dass Sie jetzt eine Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen Diebstahls verbüßen müssen. Sie beteuern Ihre Unschuld (dieses Mal sind Sie wirklich unschuldig) und weisen dezent darauf hin, dass Sie noch überhaupt nicht durch ein Gericht verurteilt wurden. Der Polizist erwidert, das sei irrelevant. Sie seien nach den Erkenntnissen der Polizei erwiesenermaßen ein Dieb und der Polizeipräsident sei davon überzeugt, dass Sie auch in diesem Fall die Tat begangen hätten.
Hätte ein solches Szenario noch irgendetwas mit einem Rechtsstaat zu tun? Selbstverständlich nicht. Es ist das typische Szenario, wie wir es in Diktaturen und totalitären Regimen antreffen. Eine solche Verhaftung, wie geschildert, wäre allein schon deshalb grob verfassungswidrig, weil sie die Unschuldsvermutung missachten würde. Gemäß der Unschuldsvermutung gilt in einem Rechtsstaat jedermann als unschuldig, solange nicht ein unabhängiges Gericht rechtskräftig seine Schuld in einem Urteil festgestellt hat.
Wenn man noch ein wenig über die Unschuldsvermutung nachdenkt, bemerkt man, dass es sich bei ihr um einen klassischen Rechtssatz handelt mit einem Regel-Ausnahme-Prinzip:
Die Regel lautet: Jedermann hat das Recht auf persönliche Freiheit.
Die Ausnahme lautet: Dieses Recht endet, wenn die Freiheit durch Urteil eines unabhängigen Gerichts entzogen wird.
Nach den Bestimmungen des Grundgesetzes – und die sollten doch wohl maßgebend sein – verhält es sich mit den Parteien in der Bundesrepublik ganz ähnlich.
Die Regel lautet: Jede Partei hat das Recht, an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik mitzuwirken. Das folgt aus Art. 21 Abs. 1 GG sowie aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Bekanntlich darf nach Art. 3 Abs. 3 GG niemand allein wegen seiner politischen Anschauung benachteiligt werden.
Die Ausnahme lautet: Dieses Recht endet, wenn die Teilnahme an der politischen Willensbildung durch Urteil eines unabhängigen Gerichts entzogen wird. Nach dem Grundgesetz ist nur ein einziges Gericht für ein solches Parteiverbot zuständig, nämlich das Bundesverfassungsgericht (Art. 21 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 43 ff. BVerfGG).
Wir müssen in Deutschland endlich wieder rechtsstaatliche Maßstäbe im Umgang mit der AfD walten lassen. Das Amt für Verfassungsschutz hat lediglich die Aufgabe, politische Strömungen zu beobachten und der Regierung darüber Informationen zukommen zu lassen. Mehr nicht. Insbesondere ist das Amt für Verfassungsschutz kein unabhängiges Gericht, sondern eine weisungsgebundene, dem Innenministerium unterstellte Behörde.
Der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz entscheidet NICHT darüber, ob eine Partei verfassungswidrig ist, weil sie extremistisch ist und die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen will. Das ist allein die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, diese Frage zu entscheiden. Die Meinung des Amtes für Verfassungsschutz ist daher verfassungsrechtlich letztlich irrelevant. Ebenso wenig, wie ein Polizeipräsident über die Schuld eines Verdächtigen entscheidet, entscheidet auch ein Präsident des Verfassungsschutzes nicht über die Verfassungswidrigkeit einer Partei.
Ich habe oben mit Absicht formuliert, dass die Politiker der etablierten Parteien den Satz, dass die AfD nach Angaben des Verfassungsschutzes rechtsextremistisch ist, „missbrauchen“. Der seit Jahren praktizierte Umgang der etablierten Parteien mit der AfD ist nämlich rechtswidrig und verlogen.
Entweder die AfD ist verfassungswidrig. Dann sollen die zuständigen Stellen, also Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung, die allesamt von den etablierten Parteien dominiert werden, endlich einen Antrag auf Verbot der Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG stellen.
Oder die AfD ist nicht verfassungswidrig. Dann sollen die Politiker der etablierten Parteien endlich aufhören, die AfD zu diskriminieren und endlich anfangen, mit deren Politikern umzugehen, wie sie auch mit jedem anderen Politiker umgehen.
Die seit Jahren in Deutschland zu beobachtende Praxis, dass die Politiker der etablierten Parteien reihenweise einerseits die AfD diskriminieren und als „erwiesenermaßen rechtsextremistisch“ ausgrenzen, andererseits aber keinen Verbotsantrag stellen, ist erbärmlich und eines Rechtsstaates nicht würdig.
Ausblick
Mit den Geschehnissen im Thüringer Landtag vom September 2024 hat die Diskriminierung der AfD eine neue Qualität erreicht. Bislang wurde lediglich verbal von Haltungsjournalisten und Politikern der etablierten Parteien über die AfD hergezogen. Nun aber hat ein Landtag, das höchste Verfassungsorgan in einem Bundesland, die Legislative, ein der AfD zustehendes Recht in verfassungswidriger Weise zerstört. Wenn bislang jeder Abgeordnete sich darauf verlassen konnte, dass sein Mandat genauso viel wert ist wie das jedes anderen Abgeordneten und wenn bislang jede Fraktion darauf vertrauen durfte, dass sie für den Fall, dass sie die stärkste Fraktion wird, auch den Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten benennen darf, so wurde dieses Vertrauen nunmehr zunichte gemacht. Nach der Entscheidung des Thüringer Landtags vom 28.09.2024 sind die AfD-Abgeordneten eben nicht mehr gleichwertige Abgeordnete, sondern nur noch Abgeordnete „zweiter Klasse“.
Die Abgeordneten der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag sind vielleicht sogar stolz darauf, wie sie das alleinige Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion, also der AfD, von vornherein ausgehebelt haben. Aber sie wissen anscheinend nicht, was sie getan haben. In rechtlicher Hinsicht haben sie nämlich die Axt an die Verfassung gelegt und das Fundament des Staates beschädigt. Das Fundament eines jeden Rechtsstaats ist der allgemeine Gleichheitssatz. Wenn der Gleichheitssatz nicht mehr beachtet wird, wenn die Abgeordneten einer Partei völlig willkürlich schlechter behandelt werden als alle anderen Abgeordneten und wenn eine Fraktion im Parlament nicht mehr dieselben Rechte bekommt wie alle anderen Fraktionen, ist der Rechtsstaat am Ende.
Insoweit erlaube ich mir, den berühmten Rechtsphilosophen und ehemaligen Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878-1949) mit seiner Radbruchschen Formel aus dem Jahr 1946 zu zitieren:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen. Eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“ (aus dem Beitrag „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, SJZ 1946, S. 107).