Tichys Einblick
Fundamentalisten kennen keine Toleranz

Verbirgt sich hinter dem Flüchtlingsdebakel eine Systemkrise?

Zu den ideologischen Bausteinen des rot-grünen Meinungskartells, zur Blockade vernünftiger und international abgestimmter Lösungsbeiträge zur Flüchtlingskrise gehört die mit einer Prise Selbsthass angereicherte Selbstgerechtigkeit, die in fundamentalistischer Gesinnung wurzelt und in die Unfähigkeit zu toleranter Duldung abweichender Meinungen mündet.

Es war nicht nur die heftige Erkältung, die mir zu Beginn des neuen Jahres die Sprache verschlug. Meine Sprachlosigkeit hing ähnlich wie bei Wolfgang Herles, der Roland Tichy seinen zugesagten Kommentar zunächst schuldig bleiben musste, mit einer bisher nicht erlebten Fassungslosigkeit zusammen angesichts der grotesken und absurden Entgleisungen in der politischen Auseinandersetzung, wie wir sie seit den unseligen Vorfällen der Silvesternacht in zunehmender Zuspitzung erfahren haben.

Als ob Nebelkerzenwerferei, Spiegelfechterei, Unaufrichtigkeit, Widersprüchlichkeit, Abwiegelei und Heuchelei über Nacht zu allseits akzeptierten Verhaltensnormen des politischen Geschäfts avanciert seien, fielen die Protagonisten so hemmungslos übereinander her, dass die Minderheit derer, die vernünftige Lösungsbeiträge beizusteuern in der Lage gewesen wären, an den Rand der Wahrnehmung gedrängt wurden.

In Deutschland wird aus Gründen ideologischer Verblendung nicht wahrgenommen, dass die weltweite Diskussion um Migrationsfragen in vielen Ländern schon viel weiter vorangekommen ist. So vertritt der Oxford-Ökonom und Migrationsforscher Paul Collier seit Jahren den von UNHCR und Weltbank unterstützten Lösungsansatz, der Migrationskrise in regionaler Nachbarschaft der Herkunftsgebiete und durch Konzentration der internationalen Diplomatie auf Befriedung der Krisengebiete, verbunden mit der Vorbereitung auf rasche Rückkehr der Menschen in ihre Heimatländer Herr zu werden.

So verworren die Lage nach wie vor erscheinen mag, man muss nicht Politikwissenschaft studiert haben, um die historische Dimension der 2015 über uns hereingebrochenen Flüchtlingskrise zu erkennen. Diejenigen, die meinen, man hätte diesen Ausbruch vorhersehen können und sich auf ihn vorbereiten müssen, verkennen, dass historische Verläufe per definitionem der Vorhersehbarkeit ermangeln und dass es seit Menschengedenken keinen Zeitabschnitt gegeben hat, in dem es nicht irgendwo auf diesem Erdenrund mit Feuer und Schwert zur Sache gegangen wäre.

Konturen der Migrationskrise

Das Außergewöhnliche der Weltmigrationskrise 2015 ff besteht darin,

Hinzu kommt, dass Deutschland im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs ein Viertel seines Territoriums abtreten musste und die dort lebenden 14,5 Millionen Deutschen (nach Vertreibungsverlusten von zwei Millionen) im Zuge ethnischer Säuberungen aus ihren Heimatprovinzen vertrieben wurden und in dem vom Krieg total zerstörten Restdeutschland zusätzlich untergebracht werden mussten.

Den Nachwirkungen dieses Vertreibungstraumas ausgesetzt, das in einem Großteil deutscher Familien bis heute Spuren hinterlassen hat, werden die unbegrenzt einströmenden Flüchtlingsmassen mancherorts im Lande auch als Menetekel einer wieder heraufziehenden existenziellen Gefährdung wahrgenommen.

In der europäischen Nachbarschaft kommt die mehr oder weniger tief wurzelnde, oft historisch begründete Abneigung gegenüber einer als Identitätsbedrohung empfundenen Islamisierung hinzu. So hat die von der deutschen Bundesregierung betriebene Politik der offenen Grenzen bei unlimitierter Aufnahmebereitschaft sowohl zu einer Spaltung im eigenen Land, die quer durch die Parteien, Freundeskreise, ja, Familien geht, als auch zu einer Isolierung in Europa geführt. Eine Isolierung, die durch einen eigenmächtigen unsolidarischen Alleingang bewirkt wurde und daher schwerlich durch Appelle an die übergangenen Unionsmitglieder zur solidarischen Übernahme der inzwischen aufgetürmten Migrationslasten zu überwinden ist. Ein tragendes Element des Lösungsansatzes der Bundesregierung dürfte sich insoweit als Illusion erweisen.

Fehldispositionen des politischen Systems

Was aber schwerer wiegt, ist, dass die Flüchtlingskrise und die Frage, wie mit ihr umzugehen sei, eine Reihe von akuten Fehldispositionen unseres politischen Systems offenlegt, deren Gefährdungspotenzial für den sozialen Frieden und die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft mindestens so groß ist wie die Flüchtlingskrise selbst.

Zu diesen Fehldispositionen gehören:

Verkümmerung des Parlamentarismus

Der autoritäre Stil einer Präsidialdemokratie französischen Zuschnitts, der in unserer Verfassung keine Grundlage findet, hat gleichwohl im Amtsverständnis und Regierungshandeln der Kanzlerin Merkel soweit Niederschlag gefunden, als die politische Klasse hierzulande mit einer Mischung aus Staunen, Bewunderung und Argwohn zur Kenntnis nimmt, dass Demokratie offenbar auch ohne Einschaltung des Parlaments funktioniert. Jedenfalls sind seit Beginn der Merkel-Ära sämtliche weichenstellenden Einschnitte in der deutschen Politik am Parlament vorbei durch eigenmächtiges Regierungshandeln erfolgt.

Wenn im Ausland nach den Gründen der rätselhaften Gelassenheit gefragt wird, mit der die Bundeskanzlerin dem Druck der gesamten europäischen Polit-Elite gegen ihre Flüchtlingspolitik widersteht, dann liegt die Antwort in ihrem Selbstverständnis, einer Allparteien-Koalition vorzustehen, die jeweils an der Umsetzung jener Programme arbeitet, die ihrem eigenen Machterhalt am ehesten zu dienen geeignet sind. Dabei weiß Angela Merkel, dass sie als ewige Kanzlerin einer „Linken Einheits-Koalition“ aus linker CDU, linker SPD, den Grünen und den Linken jeden Wahlkampf schadlos zu bestehen in der Lage ist, zumal sie unabhängig von den Wahlergebnissen, mit denen die einzelnen Parteien aus den Abstimmungen hervorgehen, von einer stets komfortablen parlamentarischen Merkel-Mehrheit ausgehen kann.

Erosion des Rechtsstaates

Als Schüler war ich von der Definition der Rechtsstaatlichkeit in Ortega y Gassets Werk „Aufstand der Massen“ beeindruckt, das in der aufwühlenden Zwischenkriegszeit 1929 erschienen war. Der Rechtsstaat, so der spanische Philosoph, ist dort manifest, wo die politische Macht aus dem verfassten Recht erwächst. Wo aber die politische Macht sich ihr eigenes Recht schafft, ist der Unrechtsstaat verwirklicht.

Seit Jahren werde ich an diese Abgrenzung rechtsstaatlicher Verhältnisse von ihrem Gegenteil erinnert, wenn ich die großen Weichenstellungen der deutschen Politik in der Merkel-Ära Revue passieren lasse, die sämtlich ohne zustimmende Voten des Deutschen Bundestages von der Regierung exekutiert wurden:

Ist die Auflistung dieser Rechtsbrüche schon selbstredend genug, stellt sich nach den öffentlichen Verunglimpfungen ehemaliger Verfassungsrichter, die die Exekutive zur Umkehr zu Recht und Ordnung in ihrem Staatshandeln gemahnen, eine Frage, die in der europäischen Rechtsgeschichte schon einmal von tragischer Relevanz war: ob Deutschland angesichts seines autoritären Entscheidungshandelns in Europa überhaupt noch willens und in der Lage ist, als geachteter Partner der internationalen Rechtsgemeinschaft zu gelten.

Wie weit das Rechtsempfinden auf diesem Kontinent inzwischen korrumpiert ist, der der Welt einst seine in Jahrhunderten entwickelte Rechtskultur geschenkt hat, kann man an jeder Straßenecke erleben und jeden Tag auf den prall gefüllten Lokalseiten der Zeitungen nachlesen. Welch beredteres Zeichen einer Verwilderung der Sitten im Rechtswesen kann es geben, als dass bisher kein einziger Staatsanwalt in Europa angesichts der täglichen Meldungen über Todesopfer auf dem Fluchtweg übers Mittelmeer aktiv geworden ist, um die in Schlauchbooten an der griechischen Küste ohne ihre ertrunkenen Frauen und Kinder anlandenden muslimischen Väter in Gewahrsam zu nehmen und sie der fahrlässigen Tötung ihrer Familien anzuklagen.

Ausgeprägte Empathie-Versessenheit

Zu den ideologischen Bausteinen des rot-grünen Meinungskartells, das in der Blockade vernünftiger und international abgestimmter Lösungsbeiträge zur Flüchtlingskrise vereint ist, gehört eine nicht selten mit einer Prise Selbsthass angereicherte Selbstgerechtigkeit, die in fundamentalistischer Gesinnung wurzelt und in der Unfähigkeit zu toleranter Duldung abweichender Meinungen Ausdruck findet.

Das führt zu jenem Verhaltensparadoxon des Homo Neuroticus, das einerseits mit einer ins Pathologische gehenden Denunziationsbereitschaft gegen das eigene soziale Umfeld in Nachbarschaft und Bürgerschaft und andererseits mit einem ausgeprägten Hang zum Konformismus immer dann aufwartet, wenn es sich um Fremdartiges, wie Menschen, Kulturen, Religionen handelt, denen man zur Befriedigung des eigenen Schuldbegehrens an den Übeln dieser Welt seine abbittende Zuwendung zukommen lassen kann. Der wütende Ausbruch von Claudia Roth bei Sandra Maischberger gegen den AfD-Vertreter, der es wagte, den Schutz der Christen vor Verfolgung als eine vorrangige Aufgabe deutscher Flüchtlingspolitik anzumahnen, legt ein beredtes Zeugnis für die Totalentgleisung des politischen Diskurses unter rot-grüner Meinungsführerschaft ab.

Da die Teilhabe an der herrschenden Medienmacht nicht nur durch die Deutungshoheit über das politische Geschehen, sondern auch in der Abgrenzung der politischen Farben untereinander stattfindet, ist klar, dass gleich neben dem rot-grünen Feld der politisch korrekten Demokratie der schmutzigfarbene Hinterhof des Rechtsradikalismus beginnt.

Auf diese Weise merken Protagonisten wie Stegner, Augstein, Hofreiter, Peters und Co. überhaupt nicht, dass sie mit ihrem verquasten Politikstil statt den von der Sache her noblen Zielen der politischen Linken zu dienen, tatsächlich zu den nachhaltigsten Sponsoren des wiedererstarkten rechten Lagers avanciert sind. In dialektischer Lehrbuchmanier dürfte auf diese Weise das rot-grüne Meinungskartell unbeabsichtigt zur Lösung der Flüchtlingskrise desto wirksamer beitragen, je hemmungsloser es sich im „Kampf gegen Rechts“  in die Riemen legt.

Wolfgang Müller-Michaelis ist Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Honorarprofessor für Kommunikation und Medien, Leuphana Universität Lüneburg.

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