Tichys Einblick
Vor den Europawahlen

Unbestimmt, aber mächtig: Das EU-Parlament wird unterschätzt

Das EU-Parlament kann durch seine Ausschüsse und die Vermittlungsausschüsse zwischen ihm, dem Rat und der Kommission – der „Komitologie“ und dem „Trilog“-Verfahren – mehr bewirken als bekannt. Hier wird ganz unscheinbar ein Kontinent gelenkt. Von Jens Boysen

Europa-Parlament in Straßburg, 24.05.2024

picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Vor der – je nach Mitgliedstaat – zwischen dem 6. und 9. Juni stattfindenden Wahl zum EU-Parlament (vulgo „Europawahlen“) behelligen die teilnehmenden Parteien die Wahlberechtigten in gewohnter Weise mit Plakaten mit meist nichtssagenden Slogans – oft ohne Bezug zu den tatsächlich im Kompetenzbereich der EU liegenden Sachfragen – und den mehr oder weniger ansprechenden Konterfeis der nach Brüssel drängenden Politiker. Zugleich rühren sich, ebenfalls in bereits routinierter Weise, besonders seitens Vertretern und Anhängern der im weitesten Sinne „rechten“ Opposition – also jener Parteien, die (wohl außer der AfD) nach der Wahl den Fraktionen ID oder EKR angehören werden – Stimmen, die die „Europawahlen“ und das Parlament selbst als eigentlich irrelevant abtun, da einflusslos, kein „echtes Parlament“ und dergleichen.

Derlei Aussagen ziehen oftmals (sofern mit solchen ‚Unberührbaren‘ überhaupt diskutiert wird) die ironische Frage nach sich, warum man denn dann überhaupt Mandate in jenem Gremium anstrebe und ob es nicht höchst inkonsequent sei, „nach Europa“ zu gehen, wenn man es doch eigentlich abschaffen wolle. Jenseits der ewigen Diskussion um die Nichtkongruenz der Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“ legen diese und ähnliche Debatten aber durchaus gewisse Missverständnisse und Fehleinschätzungen offen, über die es sich kurz nachzudenken lohnt, bevor es ins Wahllokal oder an den Briefkasten geht (denn wählen gehen sollte man wie immer auf jeden Fall).

Die Gering- bzw. Unterschätzung des EU-Parlaments, denn um eine solche handelt es sich, beruht primär auf sehr alten Erinnerungen aus der Frühzeit des EP in den achtziger Jahren – und schon hieraus erklärt sich, allerdings fast ausschließlich auf der politischen Rechten, ein deutlicher Unterschied zwischen den Generationen. Damals, auch noch nach der ersten Direktwahl im Jahr 1979, besaß das Parlament der seinerzeitigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft tatsächlich einen eher formal-symbolischen Status als Beratungsorgan ohne nennenswerte Befugnisse. Daher diente es den nationalen Regerungen (und den hinter ihnen stehenden Parteien) mit Vorliebe dazu, solche Parteikader, die aus bestimmten Gründen zu einer Belastung geworden waren, dorthin wegzuloben; diese konnten dort viele Jahre für ein beträchtliches Salär (aktuell erhält ein Europaabgeordneter eine Grundvergütung von ca. EUR 8.000 plus Zulagen) wohlklingende Reden über europäischen Gemeingeist und Ähnliches halten, ohne – wofür sie nichts konnten – irgendeine echte Verantwortung tragen zu müssen. Geblieben ist aus jener Zeit, dass ein Großteil der neuen EP-Angehörigen von der Funktionsweise ihres Gremiums oder der EU als Ganzer wenig Ahnung mitbringt, denn nach wie vor ist die EU eher ein Randthema innerhalb der politischen und Allgemeinbildung.

Obwohl die Wahlen zum Parlament gerade das immer drängender empfundene „demokratische Defizit“ der damals nur von den nationalen Regierungen und den Beamten der Kommission gelenkten EWG mildern sollten, unterstrich es diesen Mangel durch seine Machtlosigkeit nur noch mehr. Daher wurde seine Aufwertung zu einem wichtigen Element des großen Reformplans der damals von dem Franzosen Jacques Delors geführten Kommission, der einschließlich der Idee einer gemeinsamen Währung bereits 1988 beschlossen wurde, also lange vor den demokratischen Umwälzungen in den kommunistischen Staaten und irgendeinem Gedanken an die deutsche Wiedervereinigung. In der Tat hat sich die Stellung des EP nach der Gründung der Europäischen Union im Jahre 1993 (Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht) erheblich verändert.

Mit jeder Novelle des EU-Vertrags in den Jahren 1999 (Vertrag von Amsterdam), 2003 (Vertrag von Nizza) und 2009 (Vertrag von Lissabon) wurden die Befugnisse des Parlaments erweitert, so dass heute das Legislativverfahren auf EU-Ebene mit wenigen Ausnahmen im sogenannten Mitentscheidungsverfahren stattfindet; dabei beschließen auf der Basis einer Initiative der Kommission der Ministerrat und das Parlament in drei Lesungen neue Direktiven oder Richtlinien – „Gesetze“ gibt es formal in der EU nicht, da sie (noch?) kein Staat ist. Aber das sind dann eben jene teils sinnvollen, teils aber als unnötige Regulierung und Gängelung empfundenen Rechtsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht überführen müssen. Und das Parlament ist darin mittels seiner eigenen Ausschüsse sowie der Vermittlungsausschüsse zwischen ihm, dem Rat und der Kommission – der sogenannten „Komitologie“ und dem „Trilog“-Verfahren – in hohem Maße involviert; außerdem kann es bei Bedarf die Kommission nach dem Vorbild des US-Kongresses „grillen“.

Auch jetzt noch ist zwar das EP der eingangs zitierten Sichtweise nach kein „richtiges“ Parlament: Es hat kein Initiativrecht, da die Kommission dieses eifersüchtig hütet; und weiterhin behalten sich die nationalen Regierungen ihre Prärogative in jenen Politikbereichen vor, die ihre im Grundsatz unveränderte Souveränität verkörpern und die erst durch die Gründung der EU 1993 überhaupt zu gemeinschaftlichen Aktionsfeldern geworden sind, nämlich polizeiliche Zusammenarbeit und Asyl sowie Außenbeziehungen und Verteidigung. Gerade diese sind freilich durch den Ukrainekrieg und die zu Tage getretene Schwäche der EU auf dem Gebiet der hard power unter erhöhten Integrationsdruck geraten.

Die Föderalisten bzw. Zentralisten wittern – in bewährter Junckerscher Manier – eine Chance, diese Krise zur Schleifung der genannten nationalen Reservatrechte zu nutzen und das gesamte Aufgabenspektrum des bisherigen „Staatenverbundes“ EU zu vergemeinschaften. Alternativ hierzu will eine Strömung innerhalb der konservativen Kräfte, die eine solche globalistische Lösung nicht wünscht, aber in einer bloßen Rückverlagerung der Kompetenzen auf die einzeln viel zu kleinen Mitgliedstaaten auch keine Lösung im Sinne einer geopolitischen Stärkung der EU sieht, zwar die außen- und sicherheitspolitischen Bereiche integrieren und damit auch den europäischen Institutionen unterstellen, im Gegenzug aber die kultur- und sozialpolitischen Übergriffe der Union ins Innenleben der Mitgliedstaaten im Sinne von Globalismus und wokeness begrenzen.

Unabhängig vom politischen Standpunkt meint jedenfalls angesichts der geschilderten Entwicklung „Brüssel“, ob nun geliebt oder gehasst, schon lange nicht mehr allein die Kommission oder gar die nationalen Regierungen, sondern ebenso das EP. Und das sogar in besonderem Maße, da das Parlament seitens der europäischen Integrationsforschung zu den „föderalistischen“ bzw. „vertiefungsfreudigen“ Institutionen gerechnet wird, zusammen mit der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (einem präzedenzlos ‚aktivistischen‘ Gericht, das seit Jahrzehnten durch seine Jurisdiktion die Befugnisse der Gemeinschaft bzw. der Union ausgeweitet hat).

Hinzu kommt als eher politischer denn formalrechtlicher Faktor die in Jahrzehnten gewachsene „linksliberale“ bzw. in jüngerer Zeit „linksgrüne“ Grundtendenz der Mehrheit der Parlamentsangehörigen. Dieser Prozess, der sich in den meisten nationalen und internationalen (oder wie in diesem Fall supranationalen) parlamentarischen Versammlungen beobachten lässt, beruht zum einen auf der generischen Neigung Linker zu Themen wie Internationalismus, Minderheitenschutz oder Ökologie und der damit einhergehenden Bereitschaft, den eigenen Nationalstaat in einen weiteren Kontext einzubinden oder sogar zu schwächen. Unterstützt hat dies aber ein kategorischer Fehler, den die im bürgerlichen Sinne „rechten“ Kräfte in dieser ganzen Zeit begangen haben, nämlich die Fehleinschätzung von Politik als eines ‚weichen‘, nachrangigen Aktionsfeldes.

Jahrzehntelang nach dem Krieg galt in den aufstrebenden westlichen Industriegesellschaften der Satz, dass die „besten Leute“ nicht in die Politik gingen, sondern in ‚harte‘ Bereiche wie die Wirtschaft, wo sie seinerzeit nach dem Leistungsprinzip bezahlt wurden und sich zugleich mit den Niederungen der Partei- und Öffentlichkeitsarbeit nicht abzugeben brauchten. Diese komfortable Haltung beruhte freilich auf dem Gentleman’s agreement, dass die Parteien jene produktiven Lebens- und Arbeitsbereiche schützten und selbst großen Wert darauf legten, in Parlament und Öffentlichkeit mit präsentablem Personal, also Personen mit Lebens- und Berufserfahrung aufzutreten.

Als seit den späten 1960er Jahren die Volksparteien nach und nach diese Kontrollmacht einbüßten, konnten sich in den Parlamenten, wie zuvor in den Parteien, immer mehr an einer regulären Berufskarriere desinteressierten bzw. dazu unqualifizierten oder charakterlich ungeeigneten Personen sammeln und schließlich ganz legal eine Situation eintreten, in der sich die fachlich Klügeren, aber politisch Unklugen von den intellektuell und bildungsmäßig Unterlegenen, aber politisch Gewieften regieren lassen müssen. In der EU ist das nicht anders. Die in den letzten Jahren allen Verfahrensfehlern und direkten Rechtsbrüchen zum Trotz zwischen den Mehrheitsfraktionen des EP und der Kommission herrschende weitgehende Harmonie beruht auf weltanschaulicher Gemeinsamkeit, die – schon lange vor dem Krieg in der Ukraine – die EU zu einer Art Maßnahmenstaat gemacht hat, in dem das formale Recht je nach Situation beachtet oder ‚kreativ‘ uminterpretiert wird. Das heißt nicht, dass nicht der Großteil der Abgeordneten ehrlich bemüht ist, die Interessen ihrer Wähler zu repräsentieren; aber am Ende entscheiden wie daheim in den Mitgliedstaaten die Parteiapparate.

Im Prinzip kann den Souveränisten, die eine Rückverlagerung bestimmter Kompetenzen auf die nationale Ebene, insbesondere unter die Kontrollmacht der nationalen Parlamente anstreben, an einer verstärkten Legitimierung des EU-Parlaments etwa durch eine echte Kontrolle der Kommission kaum gelegen sein. Insofern müssen sie ihre Tätigkeit dort damit begründen, dass sie zwar sehr wohl diese demokratische Bürgervertretung auf der europäischen Ebene mitgestalten wollen, aber zugleich jede Zentralisierung und faktische Entmachtung der Mitgliedstaaten ablehnen – letztere sind schließlich laut EU-Recht die „Herren der Verträge“.

Im selben Zusammenhang muss auch das Verhältnis der souveränistischen Parteien zu ihren nationalen Regierungen gesehen werden, denen sie in einer Art Hassliebe verbunden sind, da diese scheinbar ‚lediglich‘ eine Rückführung der Kompetenzen auf die nationale Ebene vollführen müssten, um die erwähnten Föderalisierungspläne zu durchkreuzen, es aber seltsamerweise zumindest bislang nicht tun. Allerdings ist die Rolle des Ministerrats wesentlich ambivalenter: Er könnte jeden Entwurf der Kommission schnell ‚killen‘, wenn er wollte. Aber neben den internen Machtspielen der Regierungen ist der Ministerrat seit jeher das ideale Vehikel für sie, die den Rat ja in seinen verschiedenen themenbezogenen Zusammensetzungen beschicken, um die eigenen Parlamente und die eigene Öffentlichkeit (ausgenommen deren euroenthusiastischen Teil) bei der Durchsetzung unangenehmer Entscheidungen zu umgehen und später ggf. alles auf „Brüssel“ zu schieben.

„Brüssel“ sind sie aber zu hohen Anteilen selbst, und das sollten viel mehr Bürger begreifen, als es bisher der Fall ist, ebenso wie die Tatsache, dass das EP der einzige zumindest formaldemokratische Teil des EU-Mehrebenensystems ist. Seine Boykottierung, sei es aus der beschriebenen Unterschätzung oder aus jenem Trotz heraus, der sich auch bei Wahlen innerhalb des Nationalstaats beobachten lässt, führt stets nur zur Fremdbestimmung durch die anderen. Für die konservativen Parteien wiederum führt kein Weg daran vorbei, sich wie schon einmal im 19. Jahrhundert ihren vorausgeeilten „liberalen“ Konkurrenten in den Formen, der Strategie und der kühlen Interessenabwägung anzupassen. Kompromissunfähiger Idealismus wäre wie so oft auch hier ein schlechter Ratgeber. Ausgerechnet die politische Rechte, die sich so gern auf Bismarck bezieht, muss die Realpolitik wieder lernen, und dazu gehört eine strategisch geplante, arbeitsreiche Präsenz im Europäischen Parlament sowie genügend Wähler, die das verstehen.

Dr. Jens Boysen ist Historiker, Slawist und Europawissenschaftler, seit 2011 in Warschau ansässig, Dozent für Internationale Beziehungen am dortigen Collegium Civitas.


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