Seit dem 9. Oktober rollen türkische Panzer in den Norden Syriens ein. Vorgebliches Ziel der Offensive sind die kurdischen Selbstverteidigungsmilizen YPG. In ihnen sieht die Türkei einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die sich seit Jahrzehnten im bewaffneten Kampf gegen die Türkei befindet. Tatsächlich läuft die Operation aber auf ein anderes Ziel hinaus: Die langfristige demografische Veränderung Nordsyriens, weg von einer multiethnischen und multireligiösen Region, hin zu einer sunnitisch-muslimisch dominierten Region unter Kontrolle der Türkei und mit ihr verbündeter Islamisten.
Die humanitäre Lage spitzt sich zu
Bereits in den ersten Stunden des Einmarsches starben die ersten Zivilisten. Wenige Tage später sind 130.000 Menschen auf der Flucht, das erste Krankenhaus vom Beschuss schwer beschädigt. Internationale Helfer ziehen sich vor den eskalierenden Kämpfen zurück. Die ersten Dörfer sind von den vorrückenden Truppen und mit ihnen verbündeten Milizen besetzt, die ersten Städte umzingelt. Die humanitäre Lage spitzt sich zu – und der Zenit ist noch längst nicht erreicht. Den Zivilisten in der Region stehen gefährliche Zeiten bevor. Kurzfristig sind sie unmittelbar von den Kampfhandlungen um sie herum bedroht. Die Versorgung mit Medizin, Lebensmitteln und Heizmaterial für den kommenden Winter wird schwieriger. Es wird schlimmer, je länger die Kämpfe dauern. Mittelfristig wird es für alle bedrohlich, die Erdogans türkisch-islamischer Herrschaft entgegenstehen. Das betrifft in erster Linie Kurden, die in der Region traditionell zuhause sind. Es betrifft aber auch viele andere ethnische oder religiöse Minderheiten.
In der bewaffneten Opposition gewannen bald Islamisten die Überhand. Christen aus islamistisch kontrollierten Landesteilen wurden vertrieben. Viele flohen ins Ausland. Je nach Schätzung leben noch 500 000 bis 750 000 Christen in Syrien. Viele fanden in den religiös liberalen Kurdengebieten Schutz.
Christen und Kurden sollen vertrieben werden
Was ihnen nun bevorsteht, lässt sich aus der Lage in Afrin schließen. Türkische Truppen und verbündete islamistische Milizen griffen die früher mehrheitlich kurdische Stadt im Nordosten Syriens im Januar 2018 an. Sämtliche Christen und viele jesidische Kurden mussten fliehen. Die Kontrolle über die Stadt wurde den Islamisten überlassen. Inzwischen ist sie mehrheitlich arabisch-sunnitisch. Faktisch herrscht Scharia-Recht. Das scheint der Plan zu sein, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für das gesamte Gebiet um die türkisch-syrische Grenze verfolgt. Er möchte dort eine „Schutzzone“ einrichten. Die soll aber nicht dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen, sondern dem Schutz eines türkisch-nationalistischen Staates vor ethnischer Vielfalt an seinen Grenzen. Denn nachdem die türkische Armee und ihre islamistischen Verbündeten das Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht und Andersgläubige und ethnische Minderheiten vertrieben haben, möchte Erdogan dort Millionen von sunnitischen Arabern ansiedeln. Diese waren aus allen Teilen Syriens in die Türkei geflüchtet.
Christen und andere Minderheiten als Kollateralschaden?
Christen und andere Minderheiten wären ein Kollateralschaden in diesem Kalkül. Sowohl die Vertreibung in Syrien als auch die Zwangsumsiedlung aus der Türkei verstoßen gegen grundlegende Menschenrechte. Ethnische Spannungen sind garantiert, weitere Gewalt wahrscheinlich. Doch in der Region tickt noch eine Bombe, die weitaus größeren Schaden anrichten könnte. Ab 2014 begann der sogenannte Islamische Staat (IS), Territorien in Syrien zu erobern. Die sunnitischen Terroristen griffen dabei alle am syrischen Bürgerkrieg beteiligten Fraktionen an: Regierungstruppen, andere Islamisten und auch die YPG, die schon damals die kurdischen Gebiete verteidigten. Mit Unterstützung der USA gelang es nach und nach, die IS-Kämpfer zurückzuschlagen. Seit März dieses Jahres halten sie kein Territorium mehr. Der IS ist aus Syrien aber nicht verschwunden. Abgesehen von einer unbekannten Zahl Schläfer unter der lokalen Bevölkerung sind zahlreiche Kämpfer und ihre Familien in Haftlagern untergebracht. Die Schätzungen reichen von 6 000 bis 12 000 gefangenen IS-Terroristen und 70 000 bis 80 000 Familienmitgliedern. Die Lager, in denen sie leben, liegen über genau das Gebiet verstreut, das jetzt ins Fadenkreuz der Türkei geraten ist. Die Milizionäre, die sie bisher bewacht haben und die Hilfsorganisationen, die sie humanitär betreut haben, waren mit dieser Aufgabe bereits überfordert.
Europa muss gegen Erdogan handeln
Darum sind Deutschland und Europa gezwungenermaßen mehr als nur unbeteiligte Beobachter der türkischen Aggression. Mit der Drohung, syrische Flüchtlinge nach Europa ausreisen zu lassen, konnte Erdogan bisher tun was er wollte. Kritik oder Konsequenzen aus Brüssel oder Berlin musste er nicht fürchten. Diese Situation verschiebt sich nun. Nicht aus Menschlichkeit, nicht aus Solidarität mit Christen, Kurden oder anderen Minderheiten, sondern aus realpolitischem Eigeninteresse müssen Deutschland und Europa handeln. Denn wenn sie Erdogan weiter gewähren lassen, wird die Region auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe kommen und die Lage auch hierzulande gefährlicher.
Dieser Beitrag von Kamal Sido – Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker – erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
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