Kaum etwas erhitzt die schreibenden Gemüter im Moment mehr als ein von Oberregierungsrat Stephan Kohn aus dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) gefertigter Bericht. Er polarisiert extrem – wegen seines Inhalts, aber auch wegen der Verfahrensweise.
Da gibt es scharfe Kritik – die sich der offiziellen Linie des BMI anschmiegt und die “Außerdienststellung” des 57 Jahre alten Beamten rechtfertigt. Und da gibt es fast schon Jubelgesänge auf seinen Mut und Weitblick. Versuchen wir, der Sache auf den Grund zu gehen.
Was ist geschehen im Ministerium des Innern
Die Ministerien auf Bundesebene – nicht nur da – sind hierarchisch gegliedert. Auf der Referatsebene – in unserem Fall das Referat KM 4 “Schutz kritischer Infrastrukturen”, wo Kohn unter einem Referatsleiter als Referent arbeitet(e) -, gibt es mehrere Einheiten.
Der Dienstweg
Den Dienstweg einzuhalten bedeutet, dass jegliche Kommunikation über diese Leiter hinauf und herunter zu laufen hat. Also von Kohn über den (hier nicht genannten, erst kürzlich neu bestellten) Referatsleiter, zu Peters und Hammerl, und weiter zu Teichmann und dann zu Seehofer. Wichtig ist noch, dass das Referat KM 4 die Fachaufsicht über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn als nachgeordnete Behörde ausübt.
Interna im Netz
Nun ist eine umfängliche Arbeit (Deckblatt, achtseitige Kurzfassung und 83-seitiger Auswertungsbericht), die Referent Kohn auch unter Zuhilfenahme externer Fachkräfte in den letzten Wochen und Monaten erstellt hat, auf einmal im Netz frei zugänglich (hier bei Tichys Einblick und hier auf der Achse des Guten).
Er hatte diese – ebenfalls ein ganz normaler Vorgang – zur Abstimmung u.a. hausintern verteilt. Weil ihm die Brisanz der Untersuchung klar war, hat er – unter Berufung auf die Antrittsrede desselben vom März 2018 – darüber hinaus schon am 25. April 2020 ein Schreiben an Minister Seehofer gerichtet. Dieses wurde allerdings von dessen Büroleiter, Dr. Hübner, nicht sofort weitergegeben.
Inhalte der Kohnschen Arbeit
In schonungsloser Offenheit beschreibt Kohn die Dinge, die seiner Einschätzung nach in den letzten fünf Jahren und vor allem auch während der aktuellen Krise falsch gelaufen sind. Ausgehend von einer doppelten Gefährdungslage für unsere Gesellschaft und ihre Kritischen Infrastrukturen faßt er das Gesamtergebnis – Stand 24. April d.J. – in einem einfachen Schaubild zusammen (S. 76 des Auswertungsberichts; ebenso beziehen sich die nachfolgenden Seitenangaben auf den Bericht):
Nun konzentriert sich das Interesse sehr stark auf die niedrige bis sehr niedrige Einschätzung des Risikopotentials durch Covid-19 für die Kritischen Infrastrukturen. Diese widerspricht in der Tat der in den letzten Wochen praktizierten Politik mit der starken Einschränkung persönlicher Freiheiten und ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die jetzt eine noch weitergehende Lockerung befürworten. Sogar der Begriff “Fehlalarm” kommt im Kohnschen Vokabular vor (u.a. auf S. 5 der Kurzfassung).
Kein Schwarzes-Peter-Spiel von Stephan Kohn
Auffällig ist: Kohn betreibt in seiner gesamten Analyse kein Schwarzes-Peter-Spiel. Wenn er mehrfach kritisch die Bundeskanzlerin anspricht, hält er ihr auch zugute, dass das Analysewerkzeug eben nicht stimmig war. Das betrifft die Daten des Robert Koch-Instituts (RKI), wie auch die BMI-Lageberichte und den Krisenstab. Unterblieben sei eine brauchbare, systematische Gefahrenanalyse. Vor allem gäbe es keine irgendwie geartete Dokumentation der Kollateralschäden (S. 49).
Um dem abzuhelfen entwickelt er eine einfache Checkliste (siehe S. 24 – 25) für die Qualitätskontrolle einer Gefahrenbewertung und der dafür erforderlichen Prozesse für Einzel- (Teil 1 mit acht Fragen) sowie für Multi-Gefahrenlagen (Teil 2 mit weiteren drei Fragen).
Auswirkungen auf einzelne Kritische Infrastrukturen
Die Auswirkungen für die IT-Sicherheit: Im Monatsbericht April des ebenfalls zum Geschäftsbereich des BMI gehörenden Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) vom 22. April wird deutlich gemacht, dass die Resilienz im IT-Bereich gesunken ist und der Erfolg von Angriffen immer wahrscheinlicher wird.
“Die Auswirkungen von SARS-CoV-2 durchdringen mittlerweile alle Lebensbereiche und betreffen damit auch die Informationstechnologien. Die aktuelle Gesamtlage führt dazu, dass auch eine normalerweise gut aufgestellte Organisation sich von einem erfolgreichen Cyber-Angriff mit höherer Wahrscheinlichkeit nur schlecht oder gar nicht mehr erholen kann. Falls ein solcher Angriff auf eine für die Bewältigung der Pandemie wesentliche Organisation gelingt, können die daraus erwachsenden Konsequenzen beispiellose Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Wirtschaft haben.”
Eine vergleichbare Lagebeurteilung trifft auf die Trinkwasserversorgung zu.
Plausibilitätsprüfung der Gefährdung durch das Corona-Virus
Wie geht man mit der Gegenüberstellung von Sterbefällen für das Corona Virus und die 20 häufigsten Todesursachen um (S. 28 – 31). Gunter Frank hatten wir hier zitiert, ohne zu wissen, dass er zu den oben genannten externen Fachkräften gehörte. Er und die neun weiteren beteiligten Ärzte und Wissenschaftler haben ganz klar ihre Meinung artikuliert (auf der Achse des Guten vom 11.5.2020 dokumentiert).
Offene Fragen
Was in dem Bericht fehlt sind Aussagen zur internationalen Dimension. Warum verfolgen – bis auf Schweden – fast alle Länder in der Bekämpfung der Pandemie die gleiche oder zumindest eine ähnliche Strategie? Haben alle denselben Denkfehler begangen und/oder hat schon die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter dem Einfluß oder Druck Chinas die Weichen falsch gestellt? Oder wirkt ganz einfach eine Art Herdentrieb?
Spekulieren hilft hier nicht weiter.
Worauf es bei multiplen Gefahren ganz besonders ankommt
Kohn nennt als allerhöchste Priorität ein reibungsloses funktionieren der Kritischen Infrastrukturen, insbesondere der Stromversorgung (S. 68 – 69). Wir haben seit Ende Februar hier im Blog immer wieder auf die Zusammenhänge hingewiesen, auf die es jetzt letztendlich ankommt.
- Kritische Infrastrukturen: Von diesen hängt eine Vielzahl von Versorgungsfunktionen ab, wobei die Beeinträchtigung einzelner Infrastrukturen auch die Versorgungsleistungen anderer beeinflusst. Also Domino- oder Kaskadeneffekte auslösen können. Zudem ist der Betrieb auf hoch qualifiziertes und spezialisiertes Personal angewiesen, dessen Ausfall folgenreich sein kann. Beispielsweise im Bereich der Steuerung von Übertragungsnetzen für die Stromversorgung. Es gibt also “Nervenstränge” zwischen der Pandemie und einem großflächigen Stromausfall/Blackout, auch wenn dies zunächst weit hergeholt erscheinen mag.
- Im direkten Vergleich zur Pandemie kommen bei einem Blackout (siehe hier) auf die Menschen weit gravierendere Einschränkungen und vor allem ein noch viel höheres Maß an Unsicherheit hinzu. Unvermitteltes Auftreten, ohne Vorwarnung, lediglich rudimentäre Information und Kommunikation, kein Strom, keine Heizung – im Winter bitter, tote Wasserleitung und ohne funktionierende Verkehrsverbindungen, das kennzeichnet den Blackout zusätzlich. Ein Drittel der Bevölkerung kann sich nach Expertenmeinung nach vier Tagen nicht mehr selbst versorgen, zwei Drittel nach sieben Tagen. Es geht dann darum, den “Kipppunkt” hinauszuschieben, wobei schon nach 48 Stunden Eskalationen auftreten können.
- Im Hinblick auf eine mögliche Verschärfung der Lage ist es ratsam, mindestens einen ein- bis zweiwöchigen Vorrat anzulegen. Dazu zählen Getränke, insbesondere Mineralwasser, Lebensmittel (Konservendosen, Nudeln, Auf-Backwaren, Obst und Gemüse) sowie Hygieneartikel des täglichen Bedarfs (wie Toilettenpapier). Es geht darum, ein Polster zu schaffen, das einen täglichen Gang zum Supermarkt oder Discounter überflüssig macht.
- Komplexität meistern als Herausforderung: Es mag einfach erscheinen, politische und wirtschaftliche Entscheidungen an statistischen Daten festzumachen. Allerdings ist es allein schon schwierig, das hochkomplexe Geschehen einer Pandemie in seinen Zusammenhängen zutreffend statistisch zu erfassen, darzustellen und zu interpretieren. Aber nicht nur das. Der Umgang mit den Folgen und deren Bewältigung bilden eine mindestens ebenso große Herausforderung. Die erforderlichen Anpassungen und die notwendige Neuausrichtung stellen ebenfalls ein komplexes Geflecht an Aufgabenstellungen dar und erfordern ein interdisziplinäres Vorgehen.
In Bezug auf multiple Gefahren die Lage nutzen
Kohn stellt zwei Vorteile der gegenwärtigen Lage heraus (S.70): “Wir haben gerade Erfahrungen mit einer Krise gesammelt. Wenn wir diese Erfahrungen zeitnah aufarbeiten, können wir von den gemachten Fehlern noch lernen.
Nun muß Stephan Kohn das Ganze wohl distanziert betrachten, den gegen ihn wurde vom Dienstherrn ein Disziplinarverfahren eingeleitet (berichtet ebenfalls aus der Distanz unaufgeregt die NZZ v. 14.5.2020).
Was konkret zu tun ist
Am Ende seines, an der einen oder anderen Stelle unvollendeten Berichtes, gibt Stephan Kohn, übrigens ein Sozialdemokrat, detailliert Ratschläge, wo seiner Meinung nach umgesteuert werden muss (S. 78 – 82). Es bleibt zu wünschen, dass dies bei den politisch Verantwortlichen im BMI und in der Bundesregierung – aus welchen Gründen auch immer – nicht vollumfänglich auf taube Ohren stößt.
Dr. Jürgen Gneveckow arbeitete von 1987 bis 1999 im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, zuletzt als Regierungsdirektor. Im Anschluß daran war er sechzehn Jahre lang Oberbürgermeister der Stadt Albstadt. Heute betreibt er zusammen mit seinen beiden Söhnen das Sicherheitsportal „Preppo.de“.