Tichys Einblick
Erinnern an den Beginn des Jugoslawienkrieges

Srebrenica: Lügen und feiern

Bald also feiern wir wieder Gedenken. Wir drücken Mitgefühl aus und betonen, so etwas dürfe aber nie wieder vorkommen. Bernd Späth erinnert sich.

Srebrenica

Ich erinnere mich noch gut an den Beginn des Jugoslawienkriegs. Im Westen Europas hatten wir dem Zerfall des ehemaligen Tito-Staates zugesehen, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, was dort vor sich ging. Die Süddeutsche Zeitung hatte auf ihrer Seite 3 das Porträt eines gewissen Herrn Milosevic gebracht und ihn in beeindruckender Voraussicht als kalten Stalinisten und potentiellen Kriegstreiber beschrieben, dem auch der verkommenste machtpolitische Winkelzug zuzutrauen sei. Man hatte lesend den Kopf geschüttelt. – Nicht nur die Region, sondern auch die Denkweise erschien einem arg fern. Krieg? Bei uns in Europa? Davor bewahre uns die moralische Selbstgewissheit der 68er-Generation: Wir waren gegen Krieg, also war er damit ausgeschlossen.

Plötzlich war Krieg

Die ersten Bilder der Ereignisse zeigten erstaunlicherweise österreichische Gendarmen, die in Panik Schutz suchten und sich gegenseitig „Deckung!“ zubrüllten: Beim jugoslawischen Angriff auf das frisch geborene Slowenien hatten ein paar übereifrige Artilleriegeschosse die österreichisch-slowenische Grenze überschritten. Man geniert sich fast, es heute zu sagen, aber es hatte etwas Slapstickhaftes an sich. Bis plötzlich die ersten Leichen auf den Bildschirmen auftauchten. In einer Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen starrten wir auf das wächserne Gesicht des bärtigen Maschinisten einer Adriafähre. Eine MG-Salve hatte ihn im Bauch seines fahrenden Schiffes bei der Arbeit umgemäht. Einfach so. Und nun lehnte er tot mit dem Rücken an der Schiffswand. Man begriff nicht ganz, was das sollte, doch in allen Gesprächen über diese seltsamen Vorfälle war man der Meinung, nun sei aber Schluss sei mit lustig. Europa sei nicht Afrika, wo der Mensch schon rein gewohnheitsmäßig durch Kugeln sterbe.

Damals saß ich mit einem Mitglied des deutschen Generalstabs beim Lunch. „Caesareo“ in Bad Honnef macht bis heute die besten Fischmenüs, denen ich jemals begegnet bin. Wir trafen uns gerne dort, und stets bestellten wir ein „Menu surprise“, dessen fünf Gänge wir uns auf der Zunge zergehen ließen. Das Leben kann ja so schön sein! Zu Fischsuppe in Champagner drückten wir unsere Empörung über die ersten bekannt gewordenen Metzeleien aus. Wir waren einer Meinung, hier sei keine reguläre Armee am Werk, sondern bewaffneter Pöbel. Die ersten Politiker aus Deutschland und Brüssel hatten ihren Unmut ausgedrückt: Es klang alles ein bisschen nach „Du-du-du-du-du!“

Die Deutschen, durch eigene Metzeleien mehr als geläutert, hatten öffentlich diskutiert, ob die Europäer militärisch intervenieren sollten, um dem Abschlachten von Zivilisten – die Jeans, Nikes und Sweatshirts trugen wie wir – ein Ende zu bereiten. Die internationale Politik hatte erklärt, so etwas gehe leider nicht, weil es nicht den Vorschriften entspreche. Um seine Verantwortung für den Frieden zu demonstrieren, hatte man in verquerer Logik den Angegriffenen Waffen verwehrt, damit nicht alles noch schlimmer würde. Der junge CDU-Abgeordnete Schwarz hatte von Kindern berichtet, die man bei lebendigem Leib in den Ofen geworfen habe und war daraufhin heftig angefeindet worden. Irgendwann galt seine Behauptung als widerlegt und der Krieg damit als halb so schlimm. Die Außenpolitiker der europäischen Staaten logen sich frei. Rufe nach Luftangriffen der NATO wurden laut. Gebetsmühlenartig wurde uns erklärt, der Krieg sei aus der Luft nicht zu gewinnen.

Tote „Eisverkäufer“

Die EU entsandte sogenannte „Beobachter“, die ganz in weiß gekleidet waren und für die Verwaltung alles aufschreiben sollten. Sie sahen aus wie Sporttherapeuten auf dem Schlachtfeld, und bald schon erhielten sie für ihren lebensgefährlichen Job den Spitznamen „Eisverkäufer“. Als einer ihrer Hubschrauber abgeschossen wurde, lagen fünf tote Eisverkäufer mit verrenkten Gliedern an der Absturzstelle. Die europäische Öffentlichkeit, der sie diese perverse Alibimission verdankten, war voller Trauer: Europäische Beamte, in treuer Pflichterfüllung hingemeuchelt. Empörung loderte auf: In einem Fußballspiel nagelt man ja auch nicht einfach den Schiedsrichter um! – – Die Abendnachrichten zeigten eine bosnische Oma mit zwei Enkelkindern, die das Grab ihrer von Heckenschützen ermordeten Tochter besuchte, als aus den umliegenden Bergen auf die betende kleine Gruppe gefeuert wurde. Oma lag verwundet und vor Schmerzen brüllend am Boden. Die Kinder lagen hinter Grabsteinen, schrien und weinten verzweifelt. Europäische Politiker sagten sinngemäß: „Herrschaften, so geht ́s aber nicht!“

Wir aßen Lachs-Carpaccio in Mohndressing, – deliziös! Ich meinte, die europäische Öffentlichkeit würde schamlos belogen. Die Charakterlosigkeit der europäischen Politik würde dazu führen, dass widerlichstes Mittelalter auf unserem Kontinent einkehre: Abgeschlachtete Kinder, zu Tausenden vergewaltigte Frauen. Konzentrationslager. Teenagercafés, die ein einzelner Artillerieeinschlag in eine Blutlache mit Dutzenden junger Leichen verwandelte. In einem TV-Interview sprach sich der deutsche General a.D. Schmückle gegen eine NATO-Luftintervention aus, da ein solcher Krieg nicht aus der Luft zu gewinnen sei.

„Ich will keiner Entwicklung vorgreifen“ sagte der hochrangige Militär an meinem Tisch, der dank seiner Position auf der Hardthöhe über gute Informationen verfügte. „Aber eines kannst du mir glauben: Wenn wir als NATO den Einsatzbefehl kriegen, dann haben wir die in zwei Wochen gestoppt, und nach drei Wochen sind sie fertig.“ – „Und warum tut ihr es nicht?“ Er zuckte die Schultern. Ich bekam zu hören, in den Kreisen des Militärs (!) herrsche erheblicher Zorn darüber, dass die europäischen Demokratien dem Massenmorden tatenlos zusähen. Die Militärs seien sich einig, dass eine Beendigung der Blutbäder fast mühelos zu bewältigen sei. Aus der Luft natürlich. – In den Abendnachrichten erklärte der britische Außenminister, der Krieg sei aus der Luft nicht zu beenden.

Sportplätze zu Friedhöfen

Der bosnische Präsident Izetbegovic war zu sehen, wie er die UNO- Vollversammlung um Waffen anflehte. In Sarajevo wurden Sportplätze zu Friedhöfen umfunktioniert. Die Fernsehbilder zeigten eine Hausfrau aus Sarajevo, Mitte der Fünfzig, die vom Einkauf kam und auf dem Rückweg über die gefürchtete „Sniper-Alley“ musste. Ein Schuss peitschte auf und warf die Frau zu Boden. Sie war im Bauch getroffen, ruderte mit den Armen und schrie aus Leibeskräften, es ging einem durch und durch. In Brüssel forderte ein Berufseuropäer die jugoslawische Regierung gestreng zur Rückkehr zu internationalen Normen auf.

„Du musst dir das mal vorstellen“ erzählte mir später ein deutscher General: „Die überfallen ein ganzes Dorf. Dann trennen sie Frauen und Männer. Die Frauen werden ausnahmslos vergewaltigt, auch kleine Mädchen, und die Männer müssen dabei zusehen. Nachdem sie damit fertig sind, schlachten sie alle Männer in einer stundenlangen Prozedur ab, und die frisch vergewaltigten Frauen müssen zusehen. – Pöbel mit niedrigsten Instinkten.“ Verlautbarungen der europäischen Politik beschränkten sich auf Ermahnungen und die bedauernde Einsicht, Luftinterventionen würden bei dieser Art von Konflikt leider ohne jede Wirkung bleiben. Man werde aber weiterhin sehr streng dreinschauen.

Parallelen zum Syrienkonflikt natürlich rein zufällig

Um wenigstens einen Existenznachweis zu liefern, erklärte die UNO mehrere Städte zu sogenannten „Save Havens“. Mit anderen Worten: Man stellte ein Schild vor der Stadt auf, das Massenmördern sagte: „Wir müssen leider draußen bleiben!“ Srebrenica war nur einer dieser Bürokratenspielplätze. Es wurde überrannt von Verzweifelnden aus dem Umland, die ihrer feierlichen Schlachtung entkommen wollten. „Schießt auf Menschenfleisch!“ hatte der jugoslawische General Mlatko Radic seinen Bluthunden jovial in die Funkgeräte gebellt. „Ich will frisches Menschenfleisch!“

Die niederländische Operettentruppe, der man zum Schutz der Bevölkerung blaue Helme aufgesetzt hatte, war machtlos. Der niederländische Oberst Karrelmans war so dämlich, sich mit Mladic beim gemeinsamen „Prost!“ auf die anstehende Ermordung von 8.000 Männern fotografieren zu lassen und gab damit einen wunderbaren Watschenaugust ab, an dem die europäische Politik bis heute ihr eigenes Versagen abreagiert.

Bald also feiern wir wieder Gedenken. Wir drücken Mitgefühl aus und betonen, so etwas dürfe aber nie wieder vorkommen. Die Luftangriffe der NATO dauerten von Ende März bis Ende Juni 1999. Schon nach zwei Wochen war absehbar, dass die Jugoslawisch-Serbische-Mördertruppe chancenlos war. Angeblich verloren die NATO-Truppen keinen einzigen Mann durch Feindeinwirkung. Parallelen zum Syrienkonflikt sind selbstverständlich rein zufällig.

Gastautor Bernd Späth war 20 Jahre lang Geschäftsführender Gesellschafter einer Bonner Werbeagentur, die die Brüsseler EU-Kommission und die damals noch in Bonn ansässige Bundesregierung betreute. Seine Agentur führte unter anderem für die EU-Kommission den Europäischen Binnenmarkt von 1992 in Deutschland ein und entwickelte das Design der heute noch gültigen Krankenversichertenkarte. Späth nahm an fünf Arktisexpeditionen auf Spitzbergen teil und erreichte 1983 als erster Deutscher die Nordspitze der norwegischen Eismeerinsel über das Inlandeis. Er veröffentlichte bisher neun Romane und Erzählbande sowie mehrere erfolgreiche Theaterstücke. Sein neues Stück „Greisendampf“ hat am 3. April 2017 Premiere im Münchener „Schlachthof“.

Heute betreibt Bernd Späth eine eigene Coachingpraxis in München. Dazu arbeitet er als Schriftsteller und Theaterproduzent.

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