Am Sonntag hat in Dortmund ein außerordentlicher Bundesparteitag der SPD das „Regierungsprogramm“ für die Bundestagswahl 2017 beschlossen. Titel: „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit: Zukunft sichern, Europa stärken “. Umfang: 88 Seiten. Sprache: Deutsch. Sachlich bringt das Programm nichts Neues; überraschend ist aber ein sprachliches Merkmal: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands vermeidet das Wort Deutsche.
Programmschriften sind kommunikativ gesehen Appelle, sie sollen mobilisieren: Das SPD-Programm wendet sich an die Mitglieder der Partei, die „Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten“, und darüber hinaus an alle Staatsbürger. In Frankreich bezeichnet man diese als Franzosen, in Großbritannien als Briten, in den USA als (US)-Amerikaner. Und in Deutschland? Hier sind es Deutsche, aber im SPD-Programm werden sie nur einmal namentlich genannt, in der Forderung nach „Erleichterung der Stimmabgabe für Deutsche im Ausland“.
Ein Sprachforscher von einem anderen Stern, der anhand des SPD-Programms untersuchen müsste, wie die Bewohner des Landes Deutschland heißen, käme zu dem Ergebnis: Der Volksname (Ethnikon) ist Mensch(en). In der Tat: Das Wort kommt 118-mal vor, pro Seite ein- bis zweimal.
Das Programm nennt den Menschen an sich ‒ „Sicherheit ist ein zentrales Bedürfnis der Menschen“ ‒ und bestimmte Menschengruppen, insgesamt siebenundzwanzig. Am häufigsten sind junge Menschen (18-mal) sowie alle Menschen und Menschen mit Behinderung (jeweils 11-mal). Daneben treten u.a. auf:
‒ Menschen ohne Abitur
‒ intergeschlechtliche Menschen
‒ geflüchtete Menschen
‒ schutzsuchende queere Menschen
‒ Menschen mit familiären Einwanderungsgeschichten
‒ Menschen im globalen Süden
Mit alle Menschen ‒ „Wir wollen, dass alle Menschen an der Rendite der Energiewende teilhaben“ ‒ sind meistens nur die Menschen in Deutschland gemeint, also rund 1 Prozent der Weltbevölkerung.
Deutsche kommen, wie gesagt, im SPD-Programm nur einmal vor. Gibt es Ersatzwörter? Am ehesten die Formel Bürgerinnen und Bürger (25-mal), die hier allerdings nicht „deutsche Staatsbürger“ bedeutet, sondern „Einwohner in Deutschland“. Zehn Prozent dieser Einwohner sind Ausländer, aber das Wort wird im Programm nur dreimal verwendet, und zwar im Zusammenhang mit Kriminalität: Zum Beispiel will die SPD „Ausländerinnen und Ausländer, die schwere Straftaten begehen“ ausweisen.
Ein Deutschland ohne Deutsche, bewohnt vom Volk der Menschen ‒ wie ist diese Sprachwelt des SPD-Regierungsprogramms 2017 zu erklären? Die SPD ist die älteste deutsche Partei, sie war in ihrer 150-jährigen Geschichte nie nationalistisch, aber durchaus in der Nation verankert: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands lebt und wirkt im ganzen deutschen Volke“, beginnt das Godesberger Programm von 1959. „Wir Deutsche sind trotz allem eine Familie, eine Schicksalsgemeinschaft“, heißt es 1961 im Wahlprogramm unter Willy Brandt, und noch 1998, unter Gerhard Schröder, zog die SPD als „Wir deutsche Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten“ in den Wahlkampf ‒ und gewann.
Aber hat vielleicht in den letzten neunzehn Jahren ein Sprachwandel stattgefunden, der das Wort Deutsche verdrängte ‒ ähnlich wie den DDR-Bürger, der heute nur noch im geschichtlichen Rückblick vorkommt? Eindeutig nein: Die digitale Analyse großer Textmengen zeigt, dass pro 1 Million Wörter rund 1.400-mal der Volksname Deutsche(r/n) vorkommt ‒ und das ziemlich konstant seit 1950. Fazit: Zu den hundert häufigsten Wörtern gehört dieser Name nicht, aber zu den tausend häufigsten, also zum Grundwortschatz der deutschen Sprache.
Das tendenzielle Nullvorkommen von Deutschen im SPD-Programm liegt nicht am allgemeinen Gebrauch des Wortes. Der Text ist vielmehr in einer politischen Sondersprache geschrieben, worauf auch ein sofort auffallendes sprachliches Merkmal hinweist: Das grammatische „Gendern“.
Darunter versteht man die Verwendung der maskulinen + femininen Form zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Personengruppen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Soldatinnen und Soldaten usw. Neben diesen politischen Routineformeln bietet das SPD-Programm auch Neubildungen wie Pendlerinnen und Pendler oder für Haustiere fachkundige Halterinnen und Halter.
Sprachdidaktisch fällt allerdings auf, dass die Verfasser des Programms das Genderdeutsch nicht richtig können und zahlreiche „Fehler“ machen, wobei ‒ wie in der Standardsprache außer bei Anreden üblich ‒ eine Personengruppe, die aus Männern und Frauen besteht, nur mit der maskulinen Form bezeichnet wird: Analphabeten, private Investoren, ehrenamtliche Streitschlichter, abgelehnte Asylbewerber, u.Ä. Manchmal steht im selben Satz oder Absatz die gendersprachliche Form neben der standardsprachlichen: „Durch eine Auskunftspflicht der Vermieter stärken wir die Stellung der Mieterinnen und Mieter.“
Hinter dem sprachlichen Gendern und „Menscheln“ im SPD-Programm steht eine kommunikative Absicht: Durch das Gendern soll eine Personengruppe, die Frauen, plakativ hervorgehoben werden. Beim Menscheln hingegen lässt man eine andere Gruppe unauffällig verschwinden: die Deutschen, die sich im Gattungsbegriff Menschen auflösen.
Sprachlich kommt das SPD-Regierungsprogramm 2017 „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit“ zwar fast ohne Deutsche aus, aber es vertritt ein typisch deutsches Anliegen, das schon Goethe auffiel. In seinem Nachlass fand sich ein undatierter Zettel mit der Notiz:
Gerechtigkeit
Eigenschaft und Phantom [= Trugbild] der Deutschen
Goethe erfand auch für die Urheber von Trugbildern ein ‒ heute vergessenes ‒ Wort, das für die Verfasser des Programms gut passen würde: Nebler.
Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft.