Wer in Spaniens Hauptstadt am „Plaza Cibeles“ ankommt, egal ob mit dem Touri-Bus oder zu Fuss, könnte meinen, dass die Stadt besonders flüchtlingsfreundlich ist. Denn auf der alten Madrider Post hat die Bürgermeisterin schon im Jahr 2015 ein grosses Tuch aufhängen lassen. „Refugees welcome“ steht dort in grossen Buchstaben. Aber von Flüchtlingen ist in Madrid wenig zu sehen. Trotz aller Polemik um das geringe Engagement der Spanier bei der Krise im Mittelmeer ist das Tuch dort hängen geblieben und wenn das Sieger-Team von Real Madrid im Brunnen auf dem „Plaza Cibeles“ auslassend vor laufenden Kameras den Champagner fliessen lässt, geht diese Nachricht „Refugees welcome“ rund um die Welt. Es ist ein falsches Bild, was Spanien da verbreitet.
Hunderte von hilfesuchenden Nordafrikanern landen derzeit wieder im Tagesrythmus an den andalusisischen Küsten und erschrecken Touristen. Aber für die Regierung ist es kein grosses Thema. Dabei hatte Spanien das Problem der Immigrantenströme über das Meer in den vergangenen Jahr durch eine Grenzverstärkung in den Exklaven Ceuta und Mellila und wirtschaftlichen Hilfen für Marokko weitgehend im Griff. Aber durch das aktuelle aggressive Vorgehen Libyens gegen die Flüchtlingsströme, haben sich die Schlepperbanden von dort nach Marokko verlagert. Auf Druck der EU und gegen Milliardenbeträge gehen die Libyschen Warlords gegen Schlepper vor; auch das Einsammeln durch Rettungsschiffe sogenannter NGOs unmittelbar vor der Küste wird zunehmend unterbunden. Jetzt wird Spanien wieder bevorzugtes Ziel. Gemäss der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gelangten in diesem Jahr bereits mehr als 8000 Menschen illegal an die andalusischen Küsten und weitere Tausende werden in den kommenden Wochen erwartet.
Spanien: Tolerant, aber auch ignorant
Die spanische Geschichte zeichnet sich durch Eroberungszüge aus, aber auch durch das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionen. Trotz des brutalen Terroranschlags islamistischer Fanatiker am 11. März 2004 in den Madrider Nahverkehrszügen, sind die Spanier nicht feindlich eingestellt gegenüber der arabischen Welt. Es gibt keinen gewalttätigen Rassismus, auch nicht gegen Muslime. Aber diese scheinbare Toleranz paart sich mit einer gefährlichen Ignoranz, die dafür sorgt, dass viele Probleme mit den Flüchtlingsströmen komplett ausgeblendet werden, wie zum Beispiel die Situation vieler Auffanglager und Übergangseinrichtungen in Spanien, in denen es kein Refugee Welcome gibt, sondern faktisch Abschreckung.
Als der Investigativ-TV-Journalist Jordi Evolé 2016 eine sehr realistische mehrstündige Reportage in die Kinosäle und auf die spanischen Fernseh-Bildschirme brachte, in der er darstellte, dass die Hilfsorganisationen, die im Meer die Flüchtlinge retten, das Problem noch verschlimmern, gab es einen Aufschrei in der Gesellschaft. Millionen von Menschen wurden Live-Beobachter der dramatischen Fahrten und Überlebenskämpfe der Menschen auf hoher See. Evolé machte mit seiner Reportage von einem Hilfsboot auf dem Meer klar, dass Spanien nicht einfach wegschauen kann und dass die Problematik sehr komplex ist: „Wir sind unserer Geschichte verpflichtet. Wir selber waren und sind Einwanderer. Die Spanier müssen aktiver und effizienter bei der Lösung dieser Krise mitarbeiten. Wir dürfen nicht nur Feuerlöscher sein.“
Bisher stösst Evolé bei der konservativen spanischen Regierung jedoch auf taube Ohren. Genau im gleichen Jahr, wo die die Madrider Bürgermeisterin Manuela Carmena das Plakat „Refugees welcome“ aufhängen liess, verpflichtete sich das Land gegenüber der EU, rund 17 000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei kommend in Spanien aufzunehmen. Bisher sind davon jedoch erst rund 1400 auf der Iberischen Halbinsel angekommen. In der Deutschen Botschaft entschuldigt man sich damit, dass die Spanier zwar wollten, aber die Flüchtlinge nicht bleiben. Die treibe es nach Deutschland.
Spanien bietet keine sozialen Hängematten
Kein Wunder, denn Spanien bietet keine soziale Hängematten, was das Land uninteressanter macht und auch Rassismus von vorne herein reduziert. Als die Arbeitslosigkeit ab 2009 in Spanien auf 25 Prozent anstieg, sind viele der Einwanderer wieder zurück in die Heimat gekehrt, weil Spanien keine Sozialleistungen anbietet. Es gibt Arbeitslosengeld für eine kurze Zeit, aber kein Hartz IV, Wohn- oder Kindergeld. Das sorgte auch dafür, dass die Spanier anders als in Deutschland oder Frankreich nicht das Gefühl hatten, dass ihnen etwas weggenommen wird, als Ende der 90er Jahre massiv Wirtschafsflüchtlinge ins Land gelangten, davon viele auch übers Meer.
Nach acht Jahren in Europa und einigen Jahren in Spanien kehrte deswegen auch der 45jährige Moustapha Amar wieder zurück in den Senegal. Er gründete in Dakar die Organisation Ascode (Association pour le co-développement), die sich für Investitionen vor Ort engagiert: „Wir leisten Aufklärungsarbeit, damit nicht noch mehr ohne Plan das Land verlassen.“ Amar selber kam nicht über das Meer. Seine Familie ist nicht arm. Er blieb nach einem Touristenvisum in Frankreich hängen. Von dort ging es nach Bilbao, wo er später mit anderen Senegalesen in einer kleinen Wohnung lebt: „Dieser Traum von Europa, der viele Afrikaner ins Meer treibt, ist falsch.“
Deutschland kann von Spanien lernen
Auch ihn erschreckt, dass durch die Restriktionen bei der Visa-Vergabe inzwischen auch immer mehr gebildete Afrikaner wie er über das Meer nach Europa kommen, zum Beispiel aus Ländern wie Nigeria. Studierte, die wesentlich mehr in ihrem eigenen Land verdienen könnten, wären dort stabile und weniger korrupte Regierungen an der Macht. Auf die Aufklärung diesen Widerspruchs weist auch die Caritas hin, die sehr engagiert bei der Flüchtlingshilfe in Spanien ist: „Die meisten leben in Spanien schlechter als in ihrem Land.“ Denn auf eine geregelte Arbeit können Einwanderer trotz eines spanischen Wirtschaftswachstum von drei Prozent nicht hoffen, die haben ja noch nicht einmal viele Spanier. Die spanische Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 18 Prozent, die Gehälter bewegen sich im Durchschnitt zwischen 800 und 1500 Euro netto im Monat, bei durchaus mit Deutschland zu vergleichenden Lebenshaltungskosten.
Auch deswegen hat die spanische Regierung während der vergangenen Krisenjahre die Löcher in seinen Grenzen zum Meer gestopft, dabei floss auch Geld: „Wir haben in den vergangenen Jahren mit Ländern wie Mauretanien, Marokko und Senegal Wirtschaftsabkommen abgeschlossen, worauf diese Regierungen die Schleuser stärker kontrolliert haben als bisher. Die Sogwirkung, auch wenn in den vergangenen Monaten die Zahlen wieder leicht steigen, hat seitdem deutlich nachgelassen“, sagt Javier Morrillas, Professor für irtschaft an der Madrider Katholischen Universität San Pablo CEU.
Merkel wird falsche Christlichkeit vorgeworfen
Während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in den spanischen Gesellschaft vielfach Bewunderung für ihr „schnelles und mutiges Handeln“ bei der Krisenbewältigung erfährt, werden die offenen deutsche Arme für die Millionen von Flüchtlingen dagegen von vielen spanischen Ökonomen scharf kritisiert: „Das war Wahnsinn, was sie gemacht hat“, sagt Morrillas. Die Pastorentochter verstehe Brüderlichkeit falsch: „Das war nicht christlich, das war dumm.“ Vor allem ihre Aktionen, die Grenzen durchlässig zu machen, der fragwürdige Deal mit der Türkei, ohne Abstimmung mit der EU im Herbst 2015 hat in Spanien auch so manchen Politiker der regierenden Volkspartei PP verägert, auch wenn darüber keiner offen reden will, denn „mit Merkel darf man es sich als Spanier nicht verscherzen“, heisst es aus spanischen Regierungskreisen.
Denn dass das Land heute wieder wächst und in diesem Jahr ein neuer Investitionsboom bei Immobilien und erneuerbaren Energien ausgelöst wurde, ist auch Deutschland und Merkels Einfluss zu verdanken. 2012 wurde das spanische Bankensystem mit EU-Mitteln gerettet. Aber dennoch: Lösungen oder Alternativen, wie man das Massensterben im Mittelmeer aufhalten kann, werden von den Spaniern als „Danke schön“ für diese Solidarität nicht auf den Tisch gelegt. „Einfach nur still zu sein, reicht nicht. Damit fällt Spanien unter die Kategorie der europäischen Länder, die gerne Leistungen der EU entgegennehmen, sich aber nicht solidarisch oder aktiv bei der Krisenbewältigung zeigen. Es ist eine Schande, wie alleine Griechenland und Italien mit dem Problem darstehen“, sagt der spanische Schriftsteller und politische Aktivist Leon Arsenal. Vielleicht versteht auch die Madrider Bürgermeisterin bald, dass plaktive Fernsehnachrichten wie „Refugees welcome“ ihr langfristig eher schaden werden.
Die Autorin Stefanie Claudia Müller ist Korrespondentin für Deutsche Medien in Madrid und Autorin des Buches „Menorca, die Insel des Gleichgewichts“.