Wenn in den kirchlichen Besinnungsstunden, die sich um diese Jahreszeit häufen, der Flüchtlinge gedacht wird, dann dauert es nie lange, bis das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zur Sprache kommt. Es findet sich im Lukas-Evangelium und berichtet von einem Mann, der auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen war, halb tot geschlagen wurde und schwer verletzt am Rand der Straße liegen blieb. Etliche Passanten gingen vorüber, ohne sich um den Mann zu kümmern, bis dann der Samariter kam. Er hob den Verletzten auf, verband seine Wunden und führte ihn ins nächste Gasthaus, wo er den Wirt bat, den Mann gesund zu pflegen. Mit dieser Erzählung beantwortet Jesus von Nazareth die Frage, wer denn der Nächste sei, den der Mensch lieben solle wie sich selbst.
Heute würde die Geschichte anders lauten, etwa so: Auf der Suche nach einem besseren Leben beschließt ein Mann in Damaskus, die Heimat zu verlassen. Bei einer der Schlepperbanden, die Menschen aus aller Welt zum Festpreis, all inclusive, nach Europa transportieren, kauft er sich einen Platz auf einem Schmugglerboot. Nach Zwischenstationen in Ägypten, Libyen oder Tunesien geht es aufs Meer hinaus, wo die humanitären Zwischenhändler mit ihren großen Schiffen darauf warten, die Reisenden an Bord zu nehmen und in einem der nächsten Häfen an Land zu setzten. Nachdem er die unvermeidlichen Formalitäten durchlaufen hat, besteigt der Syrer einen Zug in Richtung Deutschland. Dort angekommen, begibt er sich ins Ausländeramt und beantragt Bürgergeld.
Schlepper und Retter, Menschenrechtler und Menschenschinder arbeiten Hand in Hand. Gemeinsam haben sie aus der Nächstenliebe ein Geschäft gemacht. Der Nächste wird nicht mehr vorgefunden, er kommt mit dem Boot, der Bahn, dem Kleintransporter oder dem Flugzeug, steht plötzlich vor der Tür und verlangt Zuwendung. Er ist nicht mehr allein, er kommt in Massen, die Zahl der Nächsten, die das Wort Asylum über die Lippen gebracht haben, dürfte allein in diesem Jahr bei mehr als 300.000 liegen. Wer das geschafft hat, wird als schutzsuchend registriert, als schutzbedürftig anerkannt, als schutzberechtigt dauerhaft versorgt. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht hieß es im Grundgesetz, doch diese vier Wörter sind durch Ausnahmen und Auflagen, Sonderregelungen und Durchführungs-Verordnungen so stark verwässert worden, dass sie nicht mehr viel bedeuten. Nur Stunden nachdem ein neues, schärferes Reglement in Brüssel beschlossen worden war, ist es in Berlin wieder außer Kraft gesetzt worden. Faktisch gilt nach wie vor: Wer kommen will, der kommt. Wer da ist, darf bleiben. Wer bleibt, hat wenig zu befürchten.
Die Nächstenliebe ist anonymisiert und kollektiviert, mit einem Wort: verstaatlicht worden. Das widerspricht ihrem Wesen, organisierte Nächstenliebe ist ein Widerspruch in sich. Es ist denn auch kein Zufall, dass allenthalben, also nicht nur im Sprachgebrauch der Kirche, das Wort Nächstenliebe durch den Begriff Solidarität ersetzt wird. Der Unterschied ist beträchtlich, denn Solidarität ist ein Kampfbegriff, der seine Herkunft aus der Arbeiterbewegung nicht verleugnen kann. Der klassenbewusste Arbeiter solidarisiert sich nicht nur mit jemandem, sondern auch gegen jemanden; so auch die Kirche. Auch sie kennt und pflegt ihr Feindbild, das sich mit dem der herrschenden Parteien weitgehend deckt. Auch sie kämpft gegen Rassisten und Populisten, gegen Homophobe und Islamophobe, gegen Antiglobalisten, Antiziganisten und so weiter. Denn das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.
In der modernen Wir-Gesellschaft verwandelt sich der hilfsbedürftige Nächste in einen Anspruchsberechtigten, der auf Entschädigung pocht und Zahlung verlangt. Lieben muss man ihn nicht, kann man auch nicht. Liebe gedeiht in begrenzten, vertrauten, überschaubaren Verhältnissen; aber wo gibt es die noch? Sie haben sich aufgelöst und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung – Karl Marx hat wieder einmal Recht behalten. Ob die Hunderttausende, die Jahr für Jahr allein in Deutschland um Asyl nachsuchen, zu den Mühseligen und Beladenen gehören, denen die Kirche Aufmerksamkeit, Zuwendung und Hilfe versprochen hat, ergibt sich nicht aus den Akten. Aus denen ergibt sich nur ein Anspruch auf Zahlung, neuerdings auch auf Zahlkarte. Das individuelle Asylrecht ist heillos antiquiert, es passt nicht mehr in eine Zeit, in der sich ganze Völkerscharen, den Koffer in der einen, das Smartphone in der anderen Hand, auf Wanderschaft begeben haben.
Dieser Verdacht greift um sich. Er erklärt den Sinneswandel, der nicht nur in traditionell fremdenfreundlichen Staaten wie England und Italien, in Schweden, Frankreich oder den Niederlanden, sondern auch in einem klassischen Einwanderungsland wie den USA in Gang gekommen ist. Die Leute sind es leid, im Namen von Humanität und Nächstenliebe erpresst zu werden. Bleibt zu Hause, hat ein humanitär denkender Mann wie Mario Vargas Llosa seinen Landsleuten zugerufen. Statt dazu beizutragen, dass es anderswo schlechter läuft, sorgt lieber dafür, dass es zu Hause besser läuft! In Deutschland etwas ähnliches zu sagen, ist undenkbar. Wer es trotzdem riskiert, muss damit rechnen, von einem Regierungspräsidenten dazu aufgefordert zu werden, das Land zu verlassen.
Dr. Konrad Adam ist Journalist, Publizist und ehemaliger Politiker der AfD. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent und Kolumnist der Tageszeitung Die Welt in Berlin.