Die Verzögerung der Rechtsgewährleistung ist gleich ihrer Verweigerung (Iustitiae dilatio est quaedam negatio) lautet ein römisch-rechtlicher Rechtsgrundsatz. Dieser Grundsatz, der ursprünglich auf die einfache Verfolgung eigener Rechtsansprüche – also zum Beispiel Zahlungsansprüche von Privatleuten – gemünzt war, muss freilich in besonderer Weise in verfassungsrechtlichen Fällen gelten, in denen ein Verfassungsgericht berufen ist, in einer politischen Angelegenheit Schiedsrichter im Verfassungsleben zu sein, während die Politik, dies liegt in der Natur der Sache, natürlich weiterläuft und ihren Gang nimmt sowie Entscheidungen trifft und Zustände ins Werk setzt, die schließlich auch durch Aussprüche eines Höchstgerichts nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein werden.
Was wäre wohl ein Fußballschiedsrichter wert, der sich nach einer höchstumstrittenen Situation die Entscheidung erst vorbehält, um dann nach dem regulären Abpfiff zu erklären: „Klar, das wäre ein Elfmeter gewesen – aber nun ist das Spiel eben vorbei.“ Und wenn dann auch noch öffentlich bekannt wäre, dass dieser Schiedsrichter von den Eigentümern des so begünstigten Vereins regelmäßig zu festlichen Essen eingeladen wird („zum besseren Kennenlernen“), bei denen man auch fachliche Vorträge, zum Beispiel über „Gegenwartsfragen des Schiedsrichterwesens am Beispiel des Elfmeters“ hört?
Dass es so etwas gelegentlich wirklich gibt, zeigt etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Juni 2022 (2 BvE 4/20 u.a.). Bei dieser ging es um Äußerungen der Bundeskanzlerin Merkel bei einem Staatsbesuch in Südafrika im Februar 2020, die dann auch auf der Homepage des Bundeskanzleramts veröffentlicht worden waren. Hier hatte die Bundeskanzlerin erklärt, die seinerzeitige Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen sei „unverzeihlich“, da dieser auch mit den Stimmen der AfD-Fraktion gewählt worden war, und müsse „rückgängig gemacht“ werden.
Am Rande: Diese dann im Ergebnis erfolgreiche Klage der AfD-Bundespartei war technisch eigentlich die falsche Klage, die aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles dennoch zum richtigen Ergebnis führte. Dies deswegen, weil es im Kern um einen Übergriff der Bundeskanzlerin auf verfassungsmäßige Wahlen im Thüringer Landtag ging, in die die Bundeskanzlerin sich nicht einzumischen hat. Richtige Rechtsschutzform wäre eigentlich der Bund-Länder-Streit, den das Bundesland Thüringen, vertreten durch seine Regierung (die zu diesem Zeitpunkt nur noch aus dem Ministerpräsidenten Kemmerich bestand, der keine Minister berief), zum Bundesverfassungsgericht hätte erheben müssen. Da dies nie geschah, sprang die AfD-Bundespartei in die Bresche und machte eine Verletzung eigener Rechte, nämlich des Rechts auf parteipolitisch neutrale Behandlung durch Staatsorgane, geltend.
Und insofern war der Fall – obwohl die Bundeskanzlerin „nebenher“ natürlich immer auch Parteipolitikerin ist und in dieser Eigenschaft auch sehr wohl zum Beispiel geharnischte Wahlkampfreden halten darf – hier glasklar. Denn nicht nur, dass die Bundeskanzlerin sich (entgegen aller diplomatischen Gepflogenheiten) im Ausland über innere Angelegenheiten Deutschlands geäußert hatte, und im Ausland und auf Staatsbesuch eben immer Bundeskanzlerin ist und niemals Parteipolitikerin. Sondern auch, dass ihre Äußerungen dann auch noch auf der Homepage des Bundeskanzleramtes veröffentlicht wurden, was sie eben klar als Äußerungen der Bundeskanzlerin und nicht der Parteipolitikerin kennzeichnet.
Obwohl hier die richtige Entscheidung des Rechtsfalles – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den gleich gelagerten Fällen Wanka (2 BvE 1/16) und Seehofer (2 BvE 1/19) – auf der Hand lag, ließ das Bundesverfassungsgericht sich nach Klageerhebung deutlich über zwei Jahre Zeit mit der Entscheidungsfindung. Als die Entscheidung schließlich erging, war die seinerzeitige Bundeskanzlerin seit der Bundestagswahl am 26. September 2021 bereits seit elf Monaten nicht mehr im Amt. Das Bundesverfassungsgericht betrieb hier also zugunsten der langjährigen Bundeskanzlerin, deren Verfassungsverstoß vollkommen offensichtlich war, „minimalinvasive Chirurgie“. Das Urteil hatte insofern noch nicht einmal formale, sondern allenfalls historisch-rekursive Wirkung. Es tat auch ohne Betäubung nicht weh.
Eine ähnliche Vorgehensweise zeichnet sich unter Umständen nun auch im Hinblick auf die von zwei TE-Lesern eingereichte Wahlprüfungsbeschwerde wegen der von TE aufgedeckten, zahlreichen Wahlfehler im Rahmen des „Berliner Wahlchaos“ im September 2021 ab. Klagegegner ist der Deutsche Bundestag. Denn während der insofern zuständige Verfassungsgerichtshof von Berlin bereits im November 2022 die gleichzeitig mit der Bundestagswahl stattgefunden habenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen insgesamt für ungültig erklärte, woraufhin diese im Februar 2023 wiederholt wurden (mit der Folge eines Regierungswechsels), hat der Deutsche Bundestag am 10. November 2022 entschieden, dass die Bundestagswahl in Berlin nicht insgesamt wiederholt werden müsse, sondern nur in 431 – von 2.256! – Berliner Wahlbezirken (= Wahllokalen). Und dies, obwohl doch aufgrund der mangelnden Wahlvorbereitung durch die Senatsverwaltung für Inneres bei den gleichen Wahlen in den gleichen Wahllokalen mit den gleichen Wahlhelfern am gleichen Tag genau dieselben Fehler gemacht worden sind! Hiergegen richtet sich die Wahlprüfungsbeschwerde der beiden TE-Leser.
Die Wahlprüfungsbeschwerde, die innerhalb von zwei Monaten nach dem entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestages erhoben werden muss, ging frist- und formgerecht am 5. Januar 2023 beim Bundesverfassungsgericht ein (2 BvC 15/23).
Da wir seither weiter nichts gehört haben, erkundigte ich mich – als Prozessbevollmächtigter der beiden TE-Leser – am 14. April 2023 (also mehr als drei Monate nach dem Eingang der Wahlprüfungsbeschwerde) beim zuständigen Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts nach dem Sachstand. Immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht die in Berlin (ganz oder eben teilweise) zu wiederholenden Bundestagswahlen Ende März 2023 in einem anderen Zusammenhang einmal öffentlich erwähnt. Dabei ging es um das von den Mitgliedern der Bundestagsfraktionen der FDP, der Grünen und der Linkspartei im Herbst 2020 angestrengte Normenkontrollverfahren gegen die seinerzeitige Reform des Bundestagswahlrechts (2 BvF 1/21). Die genannten Fraktionen fühlen sich durch damals ins Werk gesetzte Veränderungen des Wahlrechts – nach denen vor allem nicht alle „Überhangmandate“ vollständig durch „Ausgleichsmandate“ kompensiert werden müssen, wodurch große Parteien wie CDU/CSU und SPD, die sich dies gemeinsam so ausgedacht hatten, bevorteilt werden – benachteiligt.
Inzwischen ist jedenfalls den Abgeordneten der Grünen und der FDP ihre seinerzeitige Klage peinlich und sie wollen eigentlich nichts mehr von ihr wissen. Denn mittlerweile sind sie selbst Teil der Regierungsmehrheit und haben in dieser Eigenschaft unlängst noch sehr viel durchgreifendere (und außerdem verfassungswidrige) Veränderungen des Wahlrechts auf Bundesebene beschlossen. Ziel ist es hier offenbar vor allem, die CSU perspektivisch zu vernichten. Denn diese könnte nach dem neuen Wahlrecht selbst, wenn sie in Bayern 45 Bundestagsmandate über die Erststimmen direkt und deutlich gewinnt, unter Umständen dennoch nicht einen einzigen Bundestagsabgeordneten nach Berlin entsenden – wenn sie nämlich bundesweit (!) dennoch nicht auch auf 5 Prozent der Zweitstimmen kommt, was neuerdings das Erststimmenergebnis entwerten soll.
Es wäre also höchste Zeit, nun auch zu klären, ob die Bundestagswahl auch in Berlin insgesamt, und nicht nur in etlichen Wahllokalen, wiederholt werden muss! Und die in diesem Zusammenhang zu leistende Fleißarbeit ist eigentlich schon erledigt, das hat der Verfassungsgerichtshof von Berlin bereits getan, das Bundesverfassungsgericht könnte dessen Entscheidung jedenfalls im Hinblick auf die wesentlichen Tatsachen seiner eigenen Entscheidung über die Rechtsfolgen des Berliner Wahlchaos auch auf Bundesebene eigentlich zugrundelegen.
In meiner Sachstandsanfrage vom 14. April 2023 schrieb ich dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts:
„Mit der Wahlprüfungsbeschwerde wird die Wiederholung der Bundestagswahl im Bundesland Berlin aufgrund zahlreicher, inzwischen öffentlich allseits bekannter Wahlfehler verlangt. Die zeitgleich stattgefunden habenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen wurden aufgrund des Urteils des Verfassungsgerichtshofs von Berlin vom 16. November 2022 bereits am 12. Februar 2023 wiederholt.
Wir halten es daher für dringend geboten, die Legitimität auch der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zügig zu überprüfen, damit die unseres Erachtens auch auf Bundesebene erforderliche Wiederholungswahl in Berlin überhaupt noch einen Effekt zeitigt und nicht mit dem regulären Ende der Legislatur mehr oder minder zusammenfällt.“
Oder womöglich überhaupt erst nach dem Ende der Legislaturperiode festgestellt wird, dass der Bundestag während ihrer Dauer nicht richtig zusammengesetzt gewesen ist, aber nun ist sie eben vorbei. Denn wer will wissen, ob die derzeitige Legislaturperiode auf Bundesebene tatsächlich noch bis Herbst 2025 weitergeht? Derzeit erscheint es nicht ganz fernliegend, dass die FDP – die aus einem Landtag nach dem anderen fliegt – früher oder später die „Notbremse“ ziehen wird. Oder dass am Ende vielleicht gar die Grünen darauf kommen, dass ihre Beteiligung an der Bundesregierung Sympathien und Wählerstimmen dahinschmelzen lässt.
Auch auf die Sachstandsanfrage hörte ich zunächst nichts; am 27. April (nachdem ich mich bereits telefonisch bei der Geschäftsstelle des Zweiten Senats telefonisch erkundigt hatte) erreichte mich schließlich eine Antwort der Geschäftsstelle des Zweiten Senats, die auf den 21. April datiert war. Die Geschäftsstelle schrieb:
„auf Ihre Sachstandsanfrage vom 14. April 2023 wird mitgeteilt, dass derzeit noch nicht absehbar ist, wann eine Entscheidung in oben genannten Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren ergehen wird.“
Aber hier und heute gilt mehr als je zuvor: Iustitiae dilatio est quaedam negatio. Die Wiederholungswahl auf Bundesebene für ganz Berlin muss nicht nur kommen, sie muss jetzt schnellstens kommen – allerspätestens im September 2023, also zur „Halbzeit“ der Legislatur. Also muss endlich eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts her!
Die gesamte Wahlprüfungsbeschwerde können Sie hier nachlesen.
Roland Tichy, Herausgeber von TE, hat eine Initiative gegründet, um die Wiederholung der Bundestagswahl in allen Berliner Bezirken einzuklagen. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau im Namen von zwei Tichys-Einblick-Lesern geführt. Die Finanzierung hat „Atlas – Initiative für Recht und Freiheit“ übernommen.
Unterstützen Sie bitte die Öffentlichkeitsarbeit dieses Vorhabens.
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