Tichys Einblick
Aktuelle "StopptCovid"-Studie

RKI: Wenn Maßnahmen wirken, bevor sie verordnet werden – weshalb braucht es dann noch eine Verordnung?

Medien berichten, dass laut RKI-Studie „die Maßnahmen wirksam“ waren. Man könnte fast meinen, dass das RKI den Zeitpunkt seiner Lobhudelei mit dem Urlaub des Gesundheitsministers abgesprochen hat. So sollte womöglich der Eindruck einer völligen Unabhängigkeit des RKI entstehen. Von Dr. Friedrich Pürner

IMAGO/Christian Spicker

In Abwesenheit des obersten Chefs lobt sich nun das RKI selbst. Wunderbar. Es ist Sommer – und damit geht nicht nur der Urlaub von Karl Lauterbach einher, sondern auch das gefürchtete Sommerloch der Journalisten. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn in Berlin ein als streunende Löwin identifiziertes Wildschwein, ein jammernder Lauterbach in Italien und ein lobhudelndes RKI die Journaille aktuell wild machen.

Man könnte fast meinen, dass das RKI den Zeitpunkt seiner Lobhudelei mit dem Bundesgesundheitsminister-Urlaub abgesprochen hat. So sollte womöglich der Eindruck einer völligen Unabhängigkeit des RKI entstehen. Was faktisch unsinnig ist, weil das RKI Karl Lauterbach untersteht und damit weisungsgebunden ist. Der Urlaub vermag daran nichts zu ändern. Aber das sind ja nur Petitessen. Man darf in diesen Zeiten eben nicht so kleinlich sein.

Grüße vor dem Sommerurlaub

Nun scheint die Hitze das RKI und deren Fachexperten erreicht zu haben. Es wirkt wie ein letzter Gruß vor dem Sommerurlaub der Mitarbeiter des RKI. Bloß keine Arbeit mehr durch unnötige Fragen der Bürger produzieren. Lieber zeigt man aktiv, dass alles in bester Ordnung ist. Arbeit getan. Bevölkerung beruhigt. Anders ist es nicht zu erklären, was das RKI in seiner neuesten Studie von sich gegeben hat. Womöglich hat Lauterbach selbst in der Kühle der italienischen Kirchen, die dem hitzegeplagten Minister Zuflucht, Motiv für einen Tweet und Gelegenheit für einen Schulterschluss mit der Kirche gewährten, an der „Studie“ rumgeschrieben. Vorstellbar wäre es.

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Dankenswerterweise schrieb man die Auswertung nicht in italienischer Sprache. Wobei. Solange die einleitende Zusammenfassung in deutscher Sprache verfasst worden wäre, hätten die meisten, die sich nun unkritisch darauf berufen, das gar nicht gemerkt. Vielleicht hätte die „Studie“ dann auch mehr Feuer gehabt. All dies sind unbelegbare Hypothesen. Ganz in Manier der „StopptCOVID“-Studie.

Während nun Südeuropa im Glutofen der Hitze schmilzt, veröffentlichte das RKI die Ergebnisse einer eigenen Studie. In dieser wurde untersucht, inwiefern die verordneten Maßnahmen einen Anstieg der Covid-19-Inzidenz bremsen konnten. Es sollten die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (NPI) wie Hygienekonzepte, Maskenpflicht, Abstand halten, Ausgangssperren, Schulschließungen usw. auf ihre Effekte untersucht werden. Endlich. Nach dem Ende der Pandemie und den vielen negativen Folgen ist das natürlich von Bedeutung und Interesse. Nicht auszudenken, bliebe das aus. Doch halt. Weshalb passiert das erst jetzt? Und wie kann es sein, dass wir immer zu hören bekamen, es gäbe keine Daten? Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage wurden die Maßnahmen dann getroffen? Und woher kommen die Daten jetzt?

Liebe Leser, das Ergebnis der Auswertung werden Sie bereits erahnen. Die Maßnahmen waren wirksam – schreibt das RKI. Oder eben Lauterbach aus der kühlen Kirche. Bravo RKI. Bravo Bundesgesundheitsministerium. Bravo Bundesregierung. Alles richtig gemacht. Und zwar derart richtig gemacht, dass das RKI mit seinen Fachexperten feststellt, dass die Maßnahmen bereits gewirkt haben, bevor diese überhaupt in Kraft getreten sind. Verrückt. Oder? Die für das RKI naheliegendste Erklärung ist die, dass bereits vor den Verordnungen eine Verhaltensanpassung der Bevölkerung erfolgte.

Mit anderen Worten, die Bevölkerung war von alleine so vernünftig, dass es die Verordnungen gar nicht gebraucht hätte. Nun ist es meist so, dass naheliegende Begründungen nicht immer die besten und die richtigen sind. Wer das geniale Buch von Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, gelesen hat, der weiß, was ich damit meine. Übrigens, dieses Buch ist ein Lesetipp für den Urlaub.

Waren die Kölner rebellisch?

Nur in Köln waren die Menschen wohl nicht so vernünftig. Denn Lauterbach twitterte noch am 31. Oktober 2020, dass in Köln die Restaurants voll wären, Abstände nicht eingehalten würden und offensichtlich ein lautes sowie fröhliches Treiben zu vernehmen wäre. Ganz so – mokierte er – als sei die Coronakrise zu Ende. Das konterkariert nun die Aussage des RKI. Stellte man nicht auf eine generelle Verhaltensanpassung der Bevölkerung vor den Maßnahmen ab? Ist die StopptCOVID-Studie auch an diesem Punkt nicht widerspruchsfrei? Oder waren nur die Kölner auf Spaß am Leben aus? Nur um es Lauterbach zu zeigen?

Zu klären ist natürlich auch, wie weit – also in Kilometer – diese NPI gewirkt haben. Denn erstaunlicherweise gab es im weit entfernten Schweden zur gleichen Zeit weit weniger Verordnungen. Und dennoch hat Schweden die Pandemie ganz klar als Sieger gemeistert. Vielleicht zeigt die Erkenntnis des RKI schlicht, dass die Verordnung keine mess- und beweisbaren Auswirkungen hatte. Für die Rechtfertigung der Maßnahmen ein denkbar schlechtes Resümee.

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Andererseits bedeutet die Aussage des RKI, dass es für eine Verhaltensanpassung kein Inkrafttreten einer Verordnung brauchte. Die staatlichen Restriktionen in Form von Verboten, Sanktionen und anderen Maßnahmenpaketen waren nicht erforderlich. Die Bevölkerung scheint mündig und verantwortungsvoll auch ohne eine Verordnung leben zu können. Der Leser der Studie, der bis Seite 49 gekommen ist, wird die Mutmaßung der Autoren finden, dass die Verhaltensanpassung der besonderen Rolle der Berichterstattung, der öffentlichen Diskussionen und ganz besonders der Ministerpräsidentenkonferenz zuzuschreiben ist. Erneut finden wir eine einfache Erklärung, mit der sich viele bereits zufrieden geben. Hauptsache, es erfolgt eine verständliche Erklärung. Dennoch – laut RKI – entschied sich die Bevölkerung ohne Verordnung, ihr Verhalten anzupassen.
Die Studie enthält ein Klischee des deutschen Urlaubers

Auch bei dem durch das RKI festgestellten Effekt der ersten Impfung zeigt sich ein ähnliches Muster. Auf Seite 32 der Studie ist die Aussage zu finden, dass die erste Impfung einen Effekt auf die Zahl der Neuerkrankungen hatte. Und zwar schon fünf Tage vor (!) dem Impfdatum. Sehr interessant. Und wie ist das nun zu erklären?, mag sich der Leser fragen. Auch hier hat das RKI eine einfache Antwort parat. „Dieser festgestellte Effekt könnte darauf hindeuten, dass sich Menschen schon in der Woche vor ihrer Impfung vorsichtiger verhalten haben, um sich nicht noch kurz vor der Impfung mit SARS-CoV-2 zu infizieren.“

Chapeau, liebes RKI. Diese Erklärung passt in jedes Klischee eines deutschen Urlaubers. Früh vorbereiten, dass ein schöner Tag auch zu einem solchen wird. Das Handtuch wird bereits um 6:30 Uhr auf der Liege in bester Lage positioniert. Damit es nicht so auffällig ist oder es nicht wegfliegt, wird noch ein Buch darauf gelegt. So ist er, der Deutsche. Stets gut vorbereitet. Eine Liege kann leider nicht fünf Tage im Voraus reserviert werden. Schade eigentlich.

Dass diese Erkenntnisse nun erst jetzt zu Tage treten, ist ebenfalls auffällig. Weshalb wurden Effekte der NPI nicht früher überprüft?

Saubere Daten fehlen – nur das Konglomerat hat einen Effekt

Somit wären wir wieder bei einem uralten Thema. Es fehlen und fehlten Daten. Zu jeder Zeit. Zu jeder Maßnahme. Und leider zu vielen von Politikern und Experten getätigten Aussagen. Nun im Nachhinein mit Modellen zu wedeln und nachträglich alles zu bestätigen, was man bestätigen möchte, ist unredlich. Doch warten wir ab, was nun das Gutachten der unabhängigen Gutachter über diese Studie sagen wird. Wer nun dachte, durchatmen zu können, da überprüft werde, der wird nun enttäuscht sein. Denn es wird sich zeigen, dass es weder eine Begutachtung noch unabhängige Gutachter geben wird. Schade. Denn so sollte es eigentlich laufen. Unabhängige Gutachter müssten nun diese Studie begutachten. Dann erst könnte sich das RKI und dessen politische Nabelschnur loben. Wer die „Studie“ gelesen hat, wird auch ohne große Erfahrung in der Studienlektüre erkennen, dass eine ordentliche und unabhängige Begutachtung weniger erfreulich ausfallen würde.

Wie komme ich nun zu dieser Einschätzung? Es ist einfach. Selbst das RKI geht offen mit Unwägbarkeiten und Herausforderungen in seiner Auswertung um. Nur eben nicht in der Zusammenfassung. Und diese Zusammenfassung ist das, was bei den Medien hängen bleibt. Am RKI arbeiten jedoch Experten, die wissen, wie man in einer Studie etwas zum Ausdruck bringt, ohne dass es beim ersten Blick auffällt oder einem später auf die Füße fällt.

Die Medien berichten, dass laut RKI-Studie „die Maßnahmen wirksam“ waren. Auch Lauterbach twitterte dies am 20. Juli 2023.

Was die Studie tatsächlich besagt, ist,

„(…), dass die Effektivität der Maßnahmen in den einzelnen Bereichen zur Kontrolle der COVID-19 Pandemie in Deutschland in unserem Modell nicht entkoppelt werden kann“ (Seite 38 der StopptCOVID-Studie).

Das bedeutet, dass nur für ein Konglomerat an Maßnahmen eine Effektivität gemessen werden konnte. Aber ist es nicht eher relevant, welche Maßnahmen für sich genommen nun tatsächlich wirksam waren? Denn klar ist, manche Maßnahmen sind grundrechtsintensiver und haben gravierendere Folgen als andere. Immerhin sagt uns der Bericht, dass harte Maßnahmen nicht unbedingt effektiver waren:

„Insgesamt konnten wir feststellen, dass weniger stark eingreifende NPI wie etwa Hygienekonzepte oder die Begrenzung der Personenzahl bei öffentlichen Veranstaltungen eine deutliche Wirkung zeigten. (…) Inwieweit die vollständige Schließung auch in einzelnen Bereichen mit der stärksten Reduktion der Ausbreitung verbunden war, ist im Rahmen unserer Analyse schwer zu beurteilen. In einigen Bereichen könnte ein deutlich eingeschränkter Betrieb mit strengen Auflagen ähnlich gute Ergebnisse wie eine Schließung erzielen“ (Seite 6 der StopptCOVID-Studie).

Regelungen beim Nachtleben waren effektiver als Masken

Spätestens mit dieser Passage ist klar, dass Grundrechtseingriffe durch Schließungen rechtswidrig waren. Das stellt das RKI indirekt fest. Denn für einen Eingriff in ein Grundrecht muss unter anderem das mildeste Mittel, das gleich geeignet ist, ergriffen werden. Schlüssige Hygienekonzepte und die Bereitschaft, diese umzusetzen, gab es ausreichend. Spannend also, dass Medien und Lauterbach diese Studie derart feiern.

Immerhin stellt die Studie auf Seite 45 fest, dass die Maßnahmen beim Nachtleben effektiver waren als die Maskenregelungen.

Das Virus war nicht so gefährlich – das ist die Story

Vergebliche Hoffnung
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Offen bleiben demnach Fragen, die konkrete Antworten fordern. Wie wirksam waren die einzelnen Maßnahmen tatsächlich? Alle nicht-pharmakologischen und natürlich auch die Impfung? Was hat zum Ende der Pandemie beigetragen? Was hat eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert? Die Studie hilft hierbei nicht weiter. Es scheint zu komplex oder zu herausfordernd, diese Frage zu beantworten. Es ist jedoch einfach. Es war das Virus selbst. Zwar hat es sich rasant ausgebreitet, jedoch war es viel weniger gefährlich als behauptet.

Die Menschen infizierten sich, wurden krank, gaben das Virus weiter und nach durchgemachter Erkrankung wurde ein sehr guter Schutz gegen einen schweren Krankheitsverlauf gebildet. Das war‘s. Das ist die Story. Das sollte das RKI berichten. Hierfür hätte es keine 64 Seiten gebraucht. Bei seichten (Liebes-)Romanen, die im Sommer gern gelesen werden, ist es nicht anders. Die Geschichte ist realitätsfern, lädt zum Träumen ein und füllt mehr Seiten, als notwendig wäre.

Weitere Fragen bleiben unbeantwortet

Fragen und Fallzahlen, über die das RKI allerdings berichten sollte, sind folgende: Woher die unerklärliche Übersterblichkeit kommt. Anstieg der Anzahl der depressiven Kinder und Jugendlichen. Zunahme der Fallzahlen zu Sprach- und Entwicklungsstörungen, vermehrte Fettleibigkeit und Essstörungen. Die hohe Fehlgeburtenrate. Berichte von Ärzten aus ihrer täglichen Praxis über rasant zunehmende Krebserkrankungen, vor allem bei Jüngeren. Zunahme der plötzlich und unterwartet versterbenden Menschen. Auch jüngere und sportliche.

Wie ist dazu die Datenlage? Wo ist und bleibt hier eine aussagekräftige Erfassung? Hier scheint die schlechte Datenlage willkommen zu sein. Gibt es keine aufschlussreichen Daten, muss man sich mit dem Elefanten im Raum nicht auseinandersetzen. So scheint das RKI vorzugehen. Womöglich haben die Maßnahmen gegen Covid, inklusive der Impfung, mehr Menschen geschadet als Covid selbst.

Doch diesen Fragen möchte man nicht nachgehen. Lieber hängt man in Italien ab und bejammert die dort üblichen Temperaturen im Monat Juli und huscht schnell in kühle Kirchen, um Fotos für Tweets zu machen. Derweil das abhängige RKI im scheinbaren Löwenheimatschutzgebiet Berlin die völlig überzogenen Anti-Covid-Maßnahmen huldigt und lobpreist. Dem Teil der Bevölkerung, der keine bleibenden Schäden erleiden musste, wird dies eine willkommene Aussage sein. Passt. Gut war‘s. Alles richtig gemacht. Wer möchte sich schon in seinem wohlverdienten Urlaub Gedanken machen, ob wir drei Jahre lang wie die Lemminge handelten. Das ist der Sommer im Jahr 2023. Schönen Urlaub.


Dr. Friedrich Pürner, MPH
Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe

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