Ein „Jahr der Populisten“ befürchtet der „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe. Laut Umfragen könnten mehr als 20 Prozent der Sitze an „rechtspopulistische” und „nationalkonservative” Parteien vor allem aus Mittel- und Osteuropa gehen – das wären 150 von 705 Sitzen. Vielleicht werden es auch mehr. Von einem drohenden „Rechts-Rumms“ tönt da die „Bild“-Zeitung (ein reißerischer Titel, den Bild alle paar Jahre einsetzt, wie zuletzt bei Österreichs Nationalratswahlen).
Die AfD wird wohl mit mehr als einem Dutzend Abgeordneten ins Europaparlament in Brüssel und Straßburg einziehen. Besonders zulegen dürften italienische Lega von Innenminister Matteo Salvini, die derzeit mit der polnischen Regierungspartei PiS Gespräche über eine Kooperation führt. In aktuellen Umfragen liegt die Lega in Italien bei 32 bis 34 Prozent; ihr werden mindestens 27 Sitze zugetraut. Die PiS (Recht und Gerechtigkeit) steht in Polen bei über 40 Prozent und könnte 25 Sitze, fast die Hälfte aller polnischen Sitze im EU-Parlament erobern.
In Frankreich hat Marine Le Pens Partei den angeschlagenen Präsidenten Emmanuel Macron überrundet. Sie liegt bei 24 Prozent, etwa 5 Prozentpunkte vor Macrons Partei. Le Pens Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung) dürfte damit 22 Sitze erhalten (geführt werden soll der RN im Europawahlkampf von dem erst 23 Jahre alten Geografiestudenten Jordan Bardella). In den Niederlanden wird der Islam-Kritiker Geert Wilders mit seiner Partei für die Freiheit wohl ein Siebtel aller Stimmen erhalten (eine Übersicht aktueller Umfragen gibt es hier).
Und nun blasen sie zum Sturm auf Brüssel. In der künftig 27-köpfigen Kommission könnten mehrere Vertreter EU-kritischer Regierungen sitzen. Düster orakelt das Hamburger Magazin, das seit dem Auffliegen der Relotius-Reportagen in einer Glaubwürdigkeitskrise steckt, eine Brüsseler Kommission „mit diversen Bremsern und EU-Kritikern würde die Union schwächen“.
Noch ist aber viel im Fluss. Unklar ist, wie sich der Brexit auf die Europawahlen am 23. Mai auswirkt. Gibt es Ende März einen chaotischen Brexit, der die Wirtschaft in England schwer schädigt, könnte die Stimmung gegen EU-Kritiker umschlagen. Läuft der Brexit halbwegs glatt, würde er wohl die Wahlentscheidungen auf dem Kontinent nicht groß beeinflussen. Allerdings geht die AfD ein hohes Risiko ein, wenn sie in ihrem Leitantrag mit der Idee eines EU-Austritts Deutschlands in fünf Jahren spielt. „Sollten sich unsere grundlegenden Reformansätze im bestehenden System der EU nicht innerhalb einer Legislaturperiode verwirklichen lassen, halten wir einen Austritt Deutschlands oder eine geordnete Auflösung der EU und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig.“
Mit dem Gespenst eines „Dexit“ (deutscher EU-Austritt) könnten die AfD-Hardliner gemäßigte Wähler verprellen – vermutlich würde eine radikale EU-Austrittspartei in Deutschland nicht einmal 5 Prozent der Wähler für sich gewinnen. Bei aller Kritik an der EU will doch – bis auf eine kleine Fraktion – die große Bevölkerungsmehrheit keinen Austritt, sondern Reformen des zentralistischen Brüssel-Europas. AfD-Chef Jörg Meuthen hält den Antrag für zu rigoros und hat einen Änderungsantrag gestellt. Die AfD müsse pragmatischer sein und Reformansätzen mehr Zeit geben. Meuthens Reformansatz zielt „auf grundlegende Strukturreformen hin zu viel mehr Demokratie, Dezentralität und Subsidiarität“, wie er in einem „Welt“-Interview ausführte. Das EU-Parlament geißelte er dort als „eine Institution, die seit Jahrzehnten die Zentralisierung aller Entscheidungen betreibt, und genau diese Zentralisierung verhindert Demokratie, weil die demokratischen Nationalstaaten entmachtet und immer mehr Befugnisse in das intransparente Zentrum verschoben werden.“ Mit einem solchen Programm erwartet Meuthen bis zu 18 Sitze im EU-Parlament.
Die EU-Freunde, zu deren lautesten der belgische Linksliberale Guy Verhofstadt zählt, hoffen durch ein Brexit-Chaos auf Rückenwind, um den EU-Kritikern die Stirn zu bieten. „Die rechtsgerichtete Kampagne, um Europa bei den EU-Wahlen 2019 zu zerstören, ist unterwegs. Es ist Zeit für die Pro-Europäer zurückzuschlagen. Seid ihr mit mir?“, twitterte Verhofstadt vor kurzem. Seine liberale ALDE-Fraktion, der die deutsche FDP angehört, könnte bei den anstehenden Wahlen auf bis zu 100 Sitze wachsen, weil sich Macrons Partei La République en Marche (REM) ihr anschließen will.
Spannend wird es aber, ob die diversen „Rechtspopulisten” und „National-Konservativen” im EU-Parlament sich zu einer gemeinsamen Fraktion durchringen können. Bislang sind sie sogar auf drei Fraktionen verteilt: EKR, ENF und EFDD.
Die EKR (Europäische Konservative und Reformer) dürften nach dem Ausscheiden der britischen Tories aus dem EU-Parlament stark schrumpfen. Fraglich ist, ob die polnische PiS dann dort bleibt. Vielleicht geht sie mit Salvinis Lega zusammen, die bislang in der „Europa der Nationen und Freiheit“-Fraktion (ENF) sitzt. PiS-Chef Jarosław Kaczyński hat diese Woche Gespräche mit Salvini geführt. Polens Außenminister Jacek Czaputowicz sprach von einem Treffen „auf höchster Ebene“, das ein Zeichen für eine „spezielle Beziehung“ sei.
Die ENF-Fraktion wurde bis 2017 von Marine Le Pen dominiert, bis diese ins Pariser Parlament wechselte. Die ENF kann auf mehr als 60 Sitze wachsen, zusammen mit der PiS könnten es fast 90 werden. Schrumpfen wird durch den Briten-Austritt wie die EKR auch die Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD), in der Brexit-Wortführer Nigel Farage bislang den Ton angab. In der EVP-Fraktion sitzt zudem noch Orbáns Fidesz-Partei, die einige Christdemokraten lieber heute als morgen dort ausschließen würden.
Auch in der Frage der Zuwanderungspolitik gibt es Unterschiede. Die osteuropäischen Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) lehnen eine Umverteilung von Migranten ab; Italiens Salvini hofft aber auf Entlastung und eine Abnahme von Migranten. Der kleinste gemeinsame Nenner der genannten „Rechtspopulisten” ist wohl, die EU zu einer „Festung“ auszubauen, die den Ansturm illegaler Migranten rigoros unterbindet. Das würde vielen Bürgern weit über diese Parteien hinaus gut gefallen.
Robert Mühlbauer ist Publizist zu politischen und wirtschaftlichen Themen.