Die Frage, was denn konservativ sei, scheint sich bestens für Rundfragen zu eignen. Periodisch wird sie gestellt, aber seit Armin Mohlers Polemik gegen den Gärtner Konservatismus von 1962 ist dabei nicht allzu viel hängen geblieben. Mohler antwortete damals auf die Frage nach dem Konservativen im „Monat“, Melvin Laskys Zeitschrift des Kongresses für kulturelle Freiheit, die bekanntlich von der CIA alimentiert wurde. Die war freilich so liberal, dass damals auch Christkonservativen wie Eugen Gerstenmaier oder ehemaligen Protagonisten der Konservativen Revolution wie Hans Zehrer das Wort erteilt wurde.
In der Zeitschrift „Indes“, welche im Jahr 2015 die gleiche Frage aufwarf, waren Konservative dagegen kaum mehr vertreten. Tatsächlich versuchten der durch den Mob an der Humboldt-Universität verschreckte Politikberater Herfried Münkler und der Spross der Bielefelder Schule Paul Nolte das Thema zu entschärfen. Nolte gab dabei den Kalauer zum Besten, sich als „linkskonservativer Liberaler“ zu bezeichnen, so ähnlich wie das weiland Joachim Gauck getan hatte.
Konservativität als harmlose Stimmung
Damit haben wir schon die erste Gefahr vor Augen: die der Entschärfung und Entpolitisierung. Während die politische Kategorie „rechts“ dadurch entpolitisiert wird, dass sie kriminalisiert wird, geschieht dies im Falle des Konservativen durch eine gezielte Verharmlosung. Konservativ sein ist dann ein Gefühl, eine Stimmung, die jeder irgendwie auch in sich trägt und die von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution, vulgo des Sozialstaates, bis zur Beschwörung einer „lebensklugen Mitte“ (so Jens Spahn) reichen.
Die Zerstörung des Begriffs ist dadurch noch wesentlich größer als bei dem rein funktionalistischen Verständnis, wonach konservativ alle bewahrenden Institutionen und Personenverbände seien, also etwa auch die kommunistische Orthodoxie. Oder dass Konservative vor allem humane Fortschrittsverzögerer seien. Denn hier, im Falle der Entpolitisierung, wird der Begriff seiner politischen Bedeutung entkleidet und erhält seine Trennschärfe allenfalls dann, wenn er gegen rechts mobilisiert werden soll. Ansonsten ist er belanglos, tut keinem weh, kann aber auch nicht zu einer Integrationsideologie avancieren, da er nichts Verbindliches enthält, keine Feindschaften kennt und keine Programmatik. Der Begriff tendiert dann dazu, eine Catch-all-Phrase zu werden, im Pluralismus der Gemütslagen und Stimmungen unterzugehen.
Kann und darf ein „progressiver“ Konservatismus „das Erbe der klassischen Sozialdemokratie und des klassischen Liberalismus“ annehmen? Meiner Meinung nach sollte ein solcher Konservatismus die genannten Fundamentalströmungen eher im Hegelschen Sinne aufheben, also bewahren, sistieren und auf eine höhere Stufe entwickeln. Denn in der Tat geht es derzeit an Universitäten, in Parlamenten und im Netz um die Bewahrung des Kerns bürgerlicher Freiheiten, um die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Und in der Tat geht es auch um die Anliegen des gemeinen Volkes und der arbeitenden Mittelschicht in weitem Sinne. Diese war unlängst vom Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger als Problemgruppe ausgemacht worden, da sie für Populismus anfällig sei, aber schlecht vom Erziehungsministerium, also den beauftragten staatlichen und halbstaatlichen oder alimentierten Agenturen des Staates gegen rechts zu erreichen sei.
Die dritte Gefahr ist ein Allgemeinplatz, überall anzutreffen, selten unterfüttert. Er besteht in der These, der Konservatismus habe keine Theorie und sei auch nicht theoriebedürftig. Die Konsequenz ist, dass jeder meint, drauflos spekulieren zu können und seine persönlichen Wünsche aufzuschreiben und darüber dann das Etikett „Common Sense“ zu kleben. Das ist auch bei dem erwähnten Duncker & Humblot-Band der Fall. Wie verhält es sich nun mit der These? Auch konservative Denker selbst haben sie ja vertreten. Der Nominalist Armin Mohler sah überall nur Konkreta, die „All-Gemeinheiten“ waren sein Horror.
Marx und Hegel der Konservativen?
Einen Karl Marx mit einer geschlossenen Theorie haben die Konservativen tatsächlich nicht, einen Hegel auch nicht? Das wäre ein großer Streit. Es gibt bekanntlich die Rechts- und Linkshegelianer und die These eines genuin liberalen Hegels, die etwa der Philosoph Ludwig Siep vertritt, hat auch viele Anhänger. Das Schwierige bei Hegel ist, das dialektisch-dynamische Element mit dem Telos und dem Ende dieser Bewegung zusammenzubringen. Im Endeffekt ist Hegel mit seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft in dem Sinne konservativ, dass er seine Gedanken auf die Wirklichkeit richtet, diese aber eben aus dem Geist grundgelegt wird (die Wirklichkeit wird also nach dem Geist zugerichtet, wie man spotten könnte). Ich möchte Hegel aber nicht zum konservativen Meisterdenker stilisieren. Vielmehr geht es mir darum zu erkennen, dass durchaus eine konservative Haltung, die Hegel später einnahm, als er über die Schrecken der Französischen Revolution erschauderte (hinter die er freilich anders als einige Romantiker nicht zurückwollte), mit einer Großtheorie zusammenpasst. Und wenn der Konservative von einer skeptischen, aber auch im Sinne Max Schelers auf die Sonderstellung des Menschen im Kosmos zielende Anthropologie ausgehen sollte, dann bedarf es ja schon auf diesem Feld der Philosophie und der theoretischen Grundlegung. Das setzt sich fort über die Staats- und Gesellschaftstheorie, über die Wirtschaftsphilosophie, die jenseits des Ordoliberalismus häufig ein kaum bestelltes Feld der Konservativen ist, und endet noch nicht bei der Rezeption der Naturwissenschaften. Wenn wir den Konservativen schließlich als einen auf die Transzendenz hin geöffneten Menschen vorstellen, dann ist hier gerade kein Eklektizismus gefordert, sondern eine stringente und ausdifferenzierte Auffassung von Religion.
Wir brauchen einen polemischen Begriff von Konservatismus
Ins Positive gewendet, brauchen wir also einen trennscharfen, polemischen Begriff von Konservatismus, wir brauchen eine entwicklungsfähige, auf die Veränderungen und Revolutionen reagierende Theorie – Revolutionen sind ja, siehe Burke, de Maistre oder de Bonald – Sternstunden des konservativen Denkens – und wir benötigen überhaupt eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters und eine Anthropologie, die auf die umstürzenden Erkenntnisse der Reproduktionsmedizin, Hirnforschung und Genetik reagiert und diese in eine soziologische Theorie des Digitalzeitalters und der Globalisierung integriert. Als vordringlich erscheint es ferner, durchaus eine konkrete konservative Programmatik zu entwerfen, sonst gerät man in die Defensive, in die Rolle des ständigen Aufhalters ohne Alternative. In der Wendezeit 1989/90 befanden sich die Konservativen bei der Diskussion über eine neue deutsche Verfassung durchgehend in der Defensive, anstatt offensiv eigene Alternativvorschläge zu den linken Forderungen nach einem Recht auf Arbeit und Ähnlichem zu formulieren.
Neben der Arbeit am theoretischen Fundament und an der programmatischen Ausgestaltung des konservativen Denkens sollte also ein spezielles Verhältnis zu Geschichte als Drittes hinzukommen und ausgearbeitet werden. Vornehm ist es, so Friedrich Nietzsche, ein Vorurteil für die Ahnen zu pflegen. Während sich die Gegenwart, zumindest die westliche, diese nur mehr in Verbrecherporträts imaginieren kann, ist die Empathie und Wertschätzung für die Vorfahren, die freilich nicht blind werden darf und mit einer kritischen Historie einhergehen kann, als Gegengift umso mehr zu pflegen. Alles andere ist Selbstzerstörung.
Wider die Kriminalisierung der europäischen Geschichte
Konservative Geschichtspolitik müsste gegen die allseitige Kriminalisierung der europäischen Geschichte opponieren, gegen die Hetze gegen die sogenannten „alten weißen Männer“– ein echter Rassismus – gegen die Zerstörung geistiger, religiöser und ästhetischer Traditionen.
Das Verhältnis zur Vergangenheit, das mir vorschwebt, kann man an der unlängst abgeschlossenen schöpferischen Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt illustrieren. Anders als die vorangegangene Rekonstruktion der Ostzeile auf dem Römerberg, die tatsächlich etwas Modellbauhaftes, etwas von Disneyland hatte, handelte es sich nun nicht um Mimikry, nicht um sklavische Rekonstruktion, sondern um einen Neuentwurf, der sich in Kubatur, Namensgebung und Anmutung an der im Bombenkrieg zerstörten Altstadt orientierte und dies unter Einbau von erhaltenen Spolien tat.
Ein heutiger Konservatismus ist angesichts eines dominanten linken und linksliberalen Zeitgeistes nicht mehr status-quo-orientiert und vordergründig staatstragend. Er steht in Opposition gegen die Political Correctness, gegen die linke Identitätspolitik und gegen Sprachdiktate. Diese setzen einem Wissenschaftler immer mehr zu. In geisteswissenschaftlichen Zeitschriften ist es bereits weithin – noch nicht überall – Usus, bedenkenlos zu gendern, das heißt Fehlschreibungen mit Genderstern zu verwenden, um generische Maskulina zu verändern und ein angeblich drittes Geschlecht zu adressieren, das in Wahrheit eine Störung einer winzigen Anzahl von Personen ist. Diese Zudringlichkeit dringt bis in den privaten Schriftverkehr ein. In Mails, ja selbst in Bewerbungen schreit einem die demonstrativ ausgezeichnete Fehlschreibung entgegen, die auch das Private und Geschäftliche politisiert und aggressiv auflädt. Hier darf es kein Mittun und keinen Kompromiss geben. Das ist ein Angriff auf die Sprache, die Natur, die Manieren.
Die Liste der konservativen Denker ist lang
Ein Konservatismus, der gegen diese und andere neue Konventionen rebelliert, wird damit anarchisch und unkonventionell. Er setzt auf alternative Sichtweisen, vergessene Einsichten und originelle Begriffe. In diesem Sinne wäre er progressiv. Er kann dabei auf herausragende Denker der Vergangenheit und Gegenwart zählen, denn zweifelsohne waren und sind Thomas von Aquin und Romano Guardini, Martin Heidegger und Max Scheler, Ernst Jünger und Botho Strauß, Carl Schmitt und Arnold Gehlen, Gerhard Ritter und Thomas Nipperdey, Michael Klonovsky und Uwe Tellkamp, Hermann Lübbe und Roger Scruton, Josef Ratzinger und Kardinal Sarah vieles, aber nicht links oder linksliberal.
Gekürzte Fassung der Festrede, die Professor Peter Hoeres (Universität Würzburg) anlässlich der Verleihung des Deutschen Schulbuchpreises an Klaus-Rüdiger Mai am 2. November 2019 in Würzburg gehalten hat. Zuerst erschienen am 7. November 2019 in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
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