Tomas Spahn hat Baerbocks Buch-Blamage mit spitzer Feder aufgespießt und dabei natürlich auch das Phänomen des „Ghostwriters“ aufgegriffen und kritisiert. Im Grunde, so sein Urteil, ist es eine Art Betrug des Politikers, mit einem „eigenen“ Buch, als Autor an die Öffentlichkeit zu treten, wenn in Wirklichkeit andere die Arbeit machen.
Das ist eine legitime, sogar naheliegende Bewertung. Aber sie wird der Realität des politischen Lebens nicht ganz gerecht, was Thomas Spahn sicher auch weiß. Denn zum Schreiben eines Buchs braucht es nicht nur das Talent – zum Formulieren ebenso wie zum klugen Nachdenken –, sondern auch eine Menge Zeit. Und zwar viel mehr davon, als ein Spitzenpolitiker normalerweise zur Verfügung hat.
Würde ein Spitzenpolitiker all diese Texte selbst vorbereiten wollen, käme er zu nichts anderem. Das kann nicht Sinn der Sache sein, denn schon ein „einfacher“ Landesminister oder Fraktionsvorsitzender wird mit jeder Menge Angelegenheiten befasst, in denen er sich mit verschiedensten, auch komplexen Sachverhalten vertraut machen und Entscheidungen treffen muss. Auf öffentliche Kommunikation weitgehend zu verzichten, ist aber auch keine reale Alternative, denn Bekanntheit und Aufmerksamkeit des Publikums im Allgemeinen und der Medien im Besonderen machen eine Karriere überhaupt erst möglich. Ohnehin kann die Bürgerschaft Transparenz, Aufklärung und Rechenschaft verlangen.
Also delegiert der Spitzenpolitiker das Verfassen von Texten, so wie er auch insgesamt auf jede Menge Zuarbeit angewiesen ist. Ein Minister, ein Fraktionsvorsitzender oder ein Parteichef haben typischerweise eine Handvoll engster Vertrauter und ungefähr sicher ein weiteres Dutzend Stabsmitarbeiter, die sämtliche Aufgaben koordinieren, Termine vorbereiten und eben Texte verfassen sowie politisch-strategische Beratung leisten. Das alles ist zwangsläufig, normal und kein bisschen ehrenrührig. Ein Spitzenpolitiker ist nur zum Teil als Einzelperson aufzufassen, zu wesentlichen Teilen ist er „nur“ das öffentliche Gesicht eines komplexen Apparats.
Deshalb führt es auf ein Abstellgleis, Frau Baerbock vorzuwerfen, sie habe sich eines Ghostwriters bedient. Wenn es danach ginge, dürfte kaum noch eine Politikerrede gehalten werden, denn Redenschreiber gehören zum Stab eines Spitzenpolitikers wie der Dosenpfand zu Jürgen Trittin und das Steinewerfen zu Joschka Fischer. Das Zauberwort heißt vielmehr Verantwortung: Die angebliche Autorin des Buches muss für jedes Wort in dem Machwerk Rechenschaft ablegen können. Jeder Fehler, der darin steckt, jede Peinlichkeit, jedes Plagiat: das alles ist ihr persönlich zuzurechnen.
Und mit Verantwortung ist an dieser Stelle nicht nur die allgemeinere „politische Verantwortung“ gemeint. Früher, als Minister noch zurückgetreten sind für peinliche Geschehnisse in dem von ihnen geleiteten Haus, schloss das eben auch Dinge ein, mit denen der Politiker in Person nie zu tun hatte, Affären aller Art. Sondern es ist eine ganz unmittelbare persönliche, individuelle Verantwortung, die daraus resultiert, dass man ein Buch unter seinem Namen herausbringt.
Ein guter Vergleichsmaßstab ist Philipp Jenninger. Der damalige Bundestagspräsident ist zurückgetreten, weil ihm eine Rede missglückt ist. Mehr war da nicht. Ob er den Text seinerzeit mehr oder weniger selbst verfasst hat, spielt nicht die geringste Rolle. Er ist prominent damit an die Öffentlichkeit getreten und sie hat ihm peinliche, missverständliche Formulierungen nicht durchgehen lassen.
Gemessen daran, muss Frau Baerbock selbstverständlich auch zurücktreten von ihrem allerdings ohnehin nicht existierenden Amt. (Gemessen daran, müssten ziemlich viele heutige Politspitzen schon längst …)
Die gezeigte Inkompetenz hat zwei Hauptaspekte, die hervorzuheben sind: Dieser unerfreulich häufige Typus heutiger Spitzenpolitiker lässt jede Fähigkeit zur Selbstkritik vermissen; das an den Tag gelegte übersteigerte Selbstvertrauen schließt die nicht nur wünschenswerte, sondern strikt notwendige Demut aus, die Bescheidenheit, das Pflichtbewusstsein, die man von einem Spitzenpolitiker erwarten können sollte. (Zugegeben, sehr altmodisch.) Und zweitens kann ein Spitzenpolitiker eben nur bestehen, wenn er ein paar kompetente, zuverlässige, vor allem ehrliche Berater um sich hat. Es ist zu befürchten, dass Frau Baerbock wie so viele andere hohe Tiere um sich herum nur noch Speichellecker und Jasager duldet oder vorfindet. Loyalität wird inzwischen in hohen Politik-Kreisen mit gewissenlosem Mitläufertum verwechselt: handwerklich geübt, aber servil – eine Parallele zum Haltungs-Journalismus, in dem ebenfalls nicht mehr kritisch-eigenständiges Denken gefragt ist, sondern gnadenloses Einhalten der Parteilinie.
Mehr als das bietet Baerbocks Buch selbst nicht: Parteilinie, krampfhaft auf „persönlich“ getrimmt – wie langweilig, von vornherein! Aber wenigstens müsste es handwerklich sauber sein, und ein klein wenig authentisch. Ob die Zeit nicht gereicht hat, ob der Ghostwriter schlampig war, das Verlags-Lektorat überfordert: es spielt keine Rolle. Es ist, so oder so, Frau Baerbocks Buch. Wenn sie ein solches, eigentlich lächerliches Mini-Projekt nicht souverän über die Bühne bekommt, wie will sie dann auch nur ein Landratsamt leiten?
Das ist aber noch nicht das ganze Fazit. Es liegt noch eine ganz besondere, böse Ironie über dieser Geschichte, und zwar genau deshalb, weil Frau Baerbock die erste grüne Kanzlerkandidatin der Weltgeschichte ist. Ihre Verteidiger haben in gewisser Weise recht: die Kritik an ihr ist womöglich nicht die gleiche, die einen Christdemokraten oder einen Liberalen, selbst einen SED-Spätkommunisten in prinzipiell ähnlicher Situation treffen würde. Aber das ist keine Ungerechtigkeit, sondern es ist allemal verdient: Denn es gehört eindeutig zum grünen Markenkern, dass man sich für schlauer hält, für aufgeklärter, für etwas Besonderes; dass man mit (dem Anspruch nach) wissenschaftlich fundierter Programmatik Politik machen will (um die Welt zu retten – welche Hybris!). Es ist die typische Besserwisser-Arroganz der „weltläufigen Eliten“, im grünen Fall gepaart mit reichlich dick aufgetragener Hypermoral, die den Vorgang so besonders macht.
Hochmut kommt vor dem Fall, sagt das Sprichwort, und Baerbocks Fall passt perfekt ins Schema. Denn ihr ganzes Wesen, ihr Auftreten, ihre übersprudelnde Anspruchshaltung sind mit dem Begriff „Hochmut“ eingerahmt. Das macht ihre in Serie begangenen Fehler überhaupt erst so interessant, und ihre fehlende Einsicht, ihre bockige Ignoranz treiben es noch auf die Spitze. Wie gesagt, sie kann keine Demut, und das rächt sich jetzt.
Es ist also, alles in allem, nicht unbedingt an sich schon peinlich, dass sie sich beim Buchschreiben hat helfen lassen. Es ist deshalb so peinlich, weil man annehmen darf, dass sie, die reichlich unbescheidene Beinahe-Doktorin des Londoner Völkerrechts, auch dann nicht fähig gewesen wäre, ein solches Buch zu schreiben, wenn man sie für ein halbes Jahr dazu beurlaubt hätte. Hätte sie das Talent dazu, dann hätte sie die Peinlichkeiten im Textverlauf auch schon beim raschen Korrekturlesen im Laufe eines freigehaltenen Wochenendes bemerken müssen. Sie hätte Rückfragen an den Ghostwriter gestellt. Sie hätte ihn aufgefordert, Quellen und Gewährsleute zu benennen.
Insofern ist Frau Baerbock leider typisch, für einen viel zu großen Teil ihrer Generation und für ihre Partei allemal. Sie auszuwechseln, ist unausweichlich. Aber das Problem des grünen Hochmuts, des selbstgerechten Alles-Besser-Wissens und der moralischen Herablassung gegenüber dem nur vermeintlich einfachen Volk wird uns erhalten bleiben. Immerhin, die Baerbock-Buch-Blamage hat diesen Sachverhalt exemplarisch beleuchtet, und dafür darf man durchaus dankbar sein.
Michael W. Alberts, Gastautor mit langjähriger Erfahrung in Politikberatung.