Tichys Einblick
100 Jahre Unabhängigkeit und Souveränität

Polen kann Europa helfen, wenn es um die Freiheit geht

Polen feiert den 100. Jahrestag der Wiedergewinnung seiner Unabhängigkeit. Professor Zbigniew Stawrowski über den Willen zur Freiheit und das Wesen der Demokratie im Gespräch mit Stefan Meetschen.

Jakub Szymczuk

Herr Professor Stawrowski, am 11. November feiert Polen das 100. Jubiläum der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Welche Bedeutung hat dieses Jubiläum für Ihr Land?
Nun, von diesen hundert Jahren waren wir nur fünfzig Jahre wirklich unabhängig, nämlich 1918 bis 1939 und von 1989 bis 2018. Um unsere Unabhängigkeit mussten wir fortwährend kämpfen. Gegen das kommunistische Russland und das nationalsozialistische Deutschland. Dennoch ist es ein wichtiges Ereignis, aber eben nur eine kurze Periode der ganzen polnischen Geschichte. Man muss, wenn man die Bedeutung dieses Kampfes um Unabhängigkeit verstehen will, mindestens auch die 123 Jahre davor, also die Jahre der Abhängigkeit kennen, in denen Polen von Russen, Preußen und Habsburgern besetzt war. Diese Jahrzehnte der Besatzung prägen die Mentalität vieler Polen weiterhin. Das kulturelle Gedächtnis, die politische Intuition. Man schaut mit einer gewissen Skepsis, vielleicht sogar Sorge nach Osten und nach Westen, besonders wenn die Kräfte, die dort walten, kooperieren. Die Deutschen sollten das, wenn sie über Polen reden, wissen.

Wie unabhängig ist das EU- und Nato-Mitglied Polen heute?
Ich weiß nicht, ob wir unabhängig sind, aber ich weiß, dass wir frei sind und frei sein wollen. Das ist ein subtiler Unterschied, ein wichtiger Unterschied. Wir stehen, wie die Deutschen, in vielen Beziehungen zu anderen Ländern Europas und der Welt. Aber wir können selbst darüber entscheiden, mit wem wir bis zu welchem Grad kulturelle und politische Beziehungen eingehen. Dieses Recht, selbst zu entscheiden, ist ein Zeichen von Unabhängigkeit und Souveränität.

Manche Europäer empfinden Polen zurzeit neben Ungarn als die größte Bedrohung für die Demokratie und Freiheit in Europa. Andere setzen gerade in dieser Hinsicht Hoffnung auf Ihr Land. Wer hat Recht?
Interessante Frage. Als politischer Philosoph beschäftigt mich, was Demokratie ist und ob wir wirklich in demokratischen Staaten leben – ich zweifle daran. Wir finden heute überall gemischte Systeme, gemischte Verfassungen; und der demokratische Charakter macht nur einen kleinen Teil davon aus. Eine entscheidendere Rolle spielt dagegen das oligarchische Element. Ich finde, die Frage nach der Freiheit ist deshalb wichtiger, weil für alle Menschen die Freiheit der Eckstein ihres Selbstbewusstseins ist. Alle Menschen wollen frei sein. Mein Standpunkt ist der, dass das, was in Polen geschieht, eine große positive Bedeutung für Europa hat und vielleicht auch für die Welt.

Warum?
Ich könnte den berühmten Satz des polnischen Papstes, geäußert nach dem Kollaps des Kommunismus, zitieren, dass wir Polen immer in Europa waren und unsere Erfahrungen für Europa einbringen können …

Und die Besetzung deutscher Höchstgerichte?
Die EU lässt gegen Polen die Muskeln spielen
Man hat in Brüssel wohl weniger Angst vor den Werten von Johannes Paul II. als vor den Werten von Herrn Kaczyński …
Meinen Sie? Wenn ich manche Kommentare aus Brüssel und Berlin höre, frage ich mich schon, ob hinter diesen Ängsten, die sich als europäische oder westliche Werte ausgeben, noch die christlichen Werte im Geiste von Johannes Paul II. stecken – die Werte Adenauers, Schumans und de Gasparis. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass im westlichen Europa eine größer werdende Ignoranz herrscht. Man benennt die polnische Regierung als eine Bedrohung für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Aber ist das wirklich so? Es ist doch bemerkenswert, dass die polnischen Gerichte nach dem Zerfall des Kommunismus keine gravierenden Änderungen eingeführt haben. Jetzt nach so langer Zeit werden bestimmte Dinge gemacht und dafür gibt es Kritik aus dem Ausland.

Für die polnische Justizreform gibt es auch Kritik von Polen …
Ja, von linksliberaler Seite, die auf Unterstützung aus dem Ausland setzt. Ich hoffe, wir Polen werden das schon intern klären können. Kein Land in Europa braucht einen gemeinsamen Führer, der die anderen Länder zu einer besseren Zukunft führen will oder von oben herab belehrt, was Solidarität bedeutet. Im Übrigen halte ich die europäische Kritik an der angeblich mangelhaften Rechtsstaatlichkeit Polens für eine große Heuchelei. Zeigen Sie mir ein Land Europas, in dem die Gerichte nicht von Parteien und Politikern besetzt werden. Ich fürchte, man misst hinsichtlich Polens mit zweierlei Maß.

Wie frei sind denn die Medien in Polen?
Eine solche Situation, wie sie bei den Silvesterausschreitungen in Köln vor fast drei Jahren stattfand, dass die öffentlich-rechtlichen Medien Deutschlands etwas zu vertuschen versuchen, was nicht ins angeblich pluralistische Bild passt, wäre in Polen absolut unmöglich. Hier hat jede Seite ihre Massenmedien, was für einen echten Pluralismus sorgt. Man kann also wählen. Regierungsprogrammpropaganda oder Antiregierungspropaganda. Ich betrachte diesen Kampf der zwei Seiten, die alle möglichen Nachrichtenmittel benutzen, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen, mit Distanz. Aber: ich kann ihn verfolgen, die pluralistische Situation existiert also wirklich. Vergleichbar vielleicht zu den USA, wo es ähnlich ist. Aber wenn wir schon von den polnischen Medien sprechen, dürfen wir ein Faktum nicht verdrängen: den großen Einfluss auf die Medien in Polen durch Deutsche. Über siebzig Prozent der polnischen Printmedien, besonders auf der lokalen Ebene, sind in Händen ausländischer, vor allem deutscher Firmen. Das wäre in Deutschland undenkbar.

Weniger Freiheit
EU-Parlament für mehr Disziplinierung
Im nächsten Jahr stehen die Europawahlen an. Fürchten Sie, dass Polen weiterhin von der EU „bestraft“ wird?
Die Leute, die derzeit den Kurs der Europäischen Union bestimmen, scheinen zum Teil von dem italienischen Kommunisten und Europapolitiker Altiero Spinelli inspiriert zu sein, der von einer supranationalen europäischen Integration und Föderation träumte – im Unterschied zu anderen Europa-Konzepten. Viele Bürger Europas wehren sich instinktiv gegen diese posthume Etablierung Spinellis als „EU-Gründungsvater“, was den Erfolg neuer sogenannter „populistischer“ Bewegungen und Parteien bis zu einem gewissen Grad erklären kann. Die Leute haben es satt, sich von abstrakten Ideologien in eine Richtung führen zu lassen. Man sieht es ja auch in Deutschland, wenn man die Wahlergebnisse der „AfD“ betrachtet. Wir können das natürlich kritisieren. Aber es ist ein Phänomen, das auf etwas Wichtiges hinweist. Etwas steckt dahinter! Die Leute akzeptieren nicht mehr diese schönen Geschichten „Wir marschieren zusammen in eine Richtung“.

Steckt dahinter vielleicht einfach nur die Angst, wie berechtigt auch immer, vor dem Islam, vor dem Verlust der christlich-humanistischen Identität des Kontinents, durch eine große Zahl von Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen?
Wir befinden uns also in einer dynamischen Situation, das ist klar. Die Leute spüren, dass zurzeit eine Migration in Gang ist, die das Potenzial hat, die Identität der Gesellschaften radikal zu verändern. Diese Radikalität wird als Bedrohung empfunden …

Vertreter des linksliberalen Establishments fühlen sich durch die mögliche Ausbreitung des Islams nicht bedroht. Sie empfinden muslimische Zuwanderer als Bereicherung …
Es gibt Ähnliches im Islam und bei den Linken. Allah repräsentiert im Islam keine väterliche Liebe, sondern eine Macht. Analog dazu ist die Beziehung unter den Menschen, zwischen dem, der Macht hat und dem, der machtlos ist, klar definiert: der eine muss dem anderen gehorsam sein. Für die Linken ist dieser Aspekt der Macht ebenfalls wichtig. Was wirklich zählt, ist Macht. Wer Macht hat, entscheidet über alles. Diese Einstellung zur Wirklichkeit mag einem Katholiken primitiv vorkommen, aber sie ist eben in manchen Köpfen vorhanden. Es kann auch sein, dass manche liberale Linke, die das Christentum als ihren größten Feind betrachten, den Islam als probates Instrument ansehen, um das Erbe, das bisher Europa getragen hat, Rom, Athen und Jerusalem, abzuwälzen. Das wäre eine gefährliche Strategie, wenn es so wäre. Ich halte es aber für möglich.

Europäischer Selbsthass statt rationales Denken und Wahrheitsliebe?
Wissen Sie, ich habe das Wirken von Frau Merkel immer mit Respekt und Einfühlung verfolgt. Sogar wenn sie solche unakzeptablen und einfach unbesonnenen Entscheidungen, wie „Herzlich Willkommen“ und „Nord Stream I und II“, traf. Es wäre aber schön, wenn ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin gelegentlich in der Enzyklika „Veritatis Splendor“ von Johannes Paul II. lesen würde. Eine Enzyklika, die in diesem Jahr 25. Jubiläum feiert. Es täte Deutschland und Europa gut. Wir können die Wahrheit schließlich nicht selbst erschaffen. Weder in der Politik, noch in der Gesellschaft und auch nicht in der Kirche. Eine zu große Unabhängigkeit vom klassischen Wahrheitsbegriff hat negative Folgen.


Professor Zbigniew Stawrowski lehrt politische Philosophie an der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität in Krakau, das Interview mit Dr. Stefan Meetschen erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.

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