Es war ein historischer Fehler, im Jahr 2011 aus emotionalen Gründen zu entscheiden, dass Deutschland aus der Kernenergie aussteigen soll. Anlass war der Tsunami in Japan, bei dem es fast in Fukushima zur Kernschmelze gekommen wäre, was allerdings vor Ort dank des Einsatzes der Experten verhindert werden konnte. Ca. 20.000 Menschen kamen durch die Flutwelle ums Leben, keiner verstarb allerdings an den Folgen des Reaktorunfalls.
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bediente damit zwar den Zeitgeist und die Medien. Alle waren geschockt von diesem Ereignis, das in Europa nicht stattfinden kann. Bei Abschaltung der Kernkraftwerke muss man die nicht mehr erzeugte Energie in anderer Form erzeugen. Kohlekraftwerke feierten fröhliche Urstände, erste Gaskraftwerke wurden gebaut.
Die Grundproblematik: Es fehlen 20.000 Kilometer Stromtrassen, und es fehlen vor allen Dingen die Speicher, die notwendig wären, um die Grundlast abzusichern, das heißt sicherzustellen, dass Wirtschaft, Industrie, Handel und Privathaushalte, Krankenhäuser und anderes mehr jederzeit verfügbaren Strom haben.
In gleichem Maße, wie die herkömmlichen Energiearten reduziert, die Erneuerbaren ausgebaut wurden, mehr Gas benötigt wurde, stiegen die Strompreise und auch schon vor dem Ukraine-Krieg die Gaspreise. Eine logische Konsequenz. Wenn ich ein Gut einerseits verknappe, steigt andererseits der Preis. Ergebnis: Es gibt kein Land in Europa, das so hohe Energiekosten hat wie Deutschland.
Kernenergie ist die Lösung
In Europa ist man da deutlich weiter. Die EU-Kommission hat bereits im November 2018 erklärt, dass zur Erreichung der Klimaziele von Paris neben Erneuerbarer Energien wie Wind, Sonne, Wasser und Biomasse „Atomkraftwerke oder fossile Kraftwerke mit Technologien zur Abscheidung und Lagerung von Kohlendioxid“ zwingend notwendig sind.
Die Internationale Atomenergiebehörde hat öffentlich deutlich gemacht, dass die Kernenergie beim Klimawandel Teil der Lösung ist, denn ohne Kernenergie würde sich der CO2-Ausstoß vervierfachen. Auch der zuständige EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hat vor wenigen Monaten öffentlich erklärt: „Dass die EU ohne Atomstrom CO2-neutral werden kann, ist eine Lüge.“ Und die OECD hat im April dieses Jahres den deutschen Atomausstieg aus ökologischen Gründen bedauert, in der FAZ nachzulesen.
Was machen die EU-Staaten?
Belgien: Der Atomausstieg war eigentlich für 2025 beschlossen. Er wird jetzt bis mindestens 2035 verlängert, da derzeit ca. 40 Prozent des belgischen Stroms durch AKWs erzeugt werden.
Estland: Estland deckt derzeit 55 Prozent des Energiebedarfs aus Kohle, ökologisch problematisch. Deshalb sind 68 Prozent der Bürger dort für die Einführung der Kernkraft.
Finnland: In Finnland ist aktuell ein Reaktor ans Netz gegangen. Und erstaunlich für Finnland, die Grünen dort haben öffentlich erklärt, dass die Kernkraft ein zentraler Baustein für die CO2-Neutralität sei.
Frankreich: Es gibt in Frankreich etwa 50 Kernkraftwerke, die für 70 Prozent des erzeugten Stroms verantwortlich sind. Frankreichs Präsident Macron hat aktuell ein Investitionsprogramm in Höhe von 30 Milliarden Euro angekündigt, um weitere kleinere Kernkraftwerke zu bauen.
Großbritannien: Die britische Regierung hat aktuell in Suffolk ein Kraftwerk mit zwei Reaktoren genehmigt. Sechs weitere sind geplant.
Niederlande: Ein Kernkraftwerk ist aktuell in Betrieb. Zwei neue sollen gebaut werden mit der Maßgabe, dass nur so das Klima positiv beeinflusst werden kann.
Polen: Polen plant aktuell vier Kernkraftwerke, die bis 2030 ans Netz gehen sollen. Zwei weitere bis 2043 sind angedacht.
Schweden: Schweden hat den beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie zurückgenommen und aktuell ein von Vattenfall gebautes Kernkraftwerk zur Energieerzeugung angemietet.
Spanien: Spanien hat sechs Kernkraftwerke mit insgesamt acht Reaktoren, die auch im Gegensatz zu ursprünglichen Planungen weiter betrieben werden sollen.
Tschechien: Der Anteil des Kernkraftstroms ist in Tschechien von einem Drittel auf 50 Prozent gesteigert worden. Sechs Anlagen gibt es derzeit, eine weitere ist geplant. Der tschechische Präsident hat Deutschland großzügigerweise angeboten, Kernkraftstrom liefern zu wollen, wenn es wegen der Energiewende in Deutschland zu Strommangel kommen werde.
Ungarn: Der russische Atomkonzern Rosatom hat den Auftrag erhalten, zwei Kernkraftwerke zu bauen.
Der Blick in die Welt
USA: In den USA ist gerade großflächig die Betriebslaufzeit der Kernkraftwerke von 60 Jahre auf 80 Jahre verlängert worden.
Argentinien lässt derzeit zwei Reaktoren von China bauen. China selbst hat etwa 50 Kernreaktorblöcke in Betrieb, die im Schnitt 8,3 Jahre alt sind. Zurzeit sind zwölf Kernkraftwerke im Bau. Ziel sei es, bis 2060 klimaneutral zu werden. Das gehe aber nur mit Kernkraft. Derzeit emittiert China als weltweit größter CO2-Produzent 12 Milliarden Tonnen CO2 jährlich von insgesamt 36 Milliarden Tonnen menschengemachten CO2.
Indien hat aktuell sechs Kraftwerke im Bau. 22 weitere sind geplant. Nach dem Fukushima-Schock ging in Japan der Anteil der Kernenergie deutlich zurück. Ziel ist es jetzt, durch neue Kraftwerke den Energiebedarf durch Kernkraft bis zum Jahr 2030 auf über 20 Prozent zu steigern.
Deutschland: Bürger intelligenter als so mancher Politiker
Je mehr Kernkraftstrom, desto weniger Verstromung ist aus Gaskraftwerken notwendig, und deshalb braucht man entsprechend weniger Gas, egal, woher es kommt. Aktuell reduziert das die Abhängigkeit von russischem Gas. Ein lohnenswertes Ziel.
Merkwürdige Habeck-Prüfung
Die Diskussion ist gerade in den letzten Monaten neu aufgeflammt. Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) hat am 7.3.2022 erklärt, dass nach Prüfung (!) eine Laufzeitverlängerung der drei bestehenden Blöcke nicht zu empfehlen sei. Zu dieser Prüfung könnte man sicherlich auch „Katzenwäsche“ sagen. Eine seriöse Prüfung sieht anders aus. Man könnte auch formulieren, es war ein bestelltes Gutachten. Es gibt namhafte Wissenschaftler, die deutlich machen, dass natürlich das Ganze technisch machbar und ökonomisch und ökologisch sinnvoll sei.
Ideologie statt Verstand
Man darf gespannt sein, wie angesichts steigender Preise die politische Debatte in Deutschland weitergeht. Deutschland wollte noch im Januar dieses Jahres den EU-Plan stoppen, Kernkraft als nachhaltig (!) einzustufen. Bundeskanzler Scholz (SPD) erklärte noch im Januar, dass Atomkraft nicht nachhaltig sei, und auch Umweltministerin Lemke (Grüne) kämpfte gegen die EU-Einstufung als nachhaltige Energie.
Bekannt ist, dass die EU Kernkraft als nachhaltig eingestuft hat, aber erstaunlicherweise auch Energie aus Gaskraftwerken, obwohl es sich ja auch dort um einen fossilen Rohstoff handelt, vermutlich eine Art „Kuhhandel“ auf der EU-Ebene, um den unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten einigermaßen gerecht zu werden.
Für Kernkraft 4.0
Viele, gerade Ältere, verbinden mit der Kernkraft noch die heftigen Debatten in den 80er Jahren um die Frage der Endlagerung, der Brennelemente, der Strahlungen, die objektiv vorhanden waren und sind. Doch die Welt hat sich weiterentwickelt. Die Technik hat sich weiterentwickelt. Die Kernkraftwerke, die es heute gibt, die im Bau sind oder in der technischen Planung, haben mit den alten Kraftwerken relativ wenig zu tun.
So gibt es beispielsweise den sogenannten Thorium-Reaktor, in dem statt Uran Thorium verarbeitet wird, das in der Erdkruste viermal so häufig vorkommt wie Uran. Das Berliner Institut für Festkörper-Kernphysik arbeitet am Dualfluid-Reaktor, der in der Lage ist, abgebrannte Brennelemente zu verwerten. China hat einen Druckwasserreaktor der dritten Generation entwickelt und gebaut. In Jülich wurde der Kugelhaufen-Kernreaktor entwickelt, bei dem eine Kernschmelze physikalisch nicht möglich ist und der heute in China gebaut wird. In Südfrankreich arbeiten 35 Einzelstaaten und die EU am Projekt ITER, bei dem es um Kernfusion geht, so dass eine Kernschmelze nicht möglich ist und ein Endlager nicht nötig.
Aber wer nicht auch die nächsten Jahrzehnte den Ölmultis, den Erdgasproduzenten die Kassen füllen will, der sollte einerseits, soweit es machbar ist, auf Erneuerbare als einen Teil des gesamten Passes setzen, aber vor allen Dingen auf Kernkraft. Sie ist CO2-frei, sie ist jederzeit verfügbar, und sie ist für den Bürger und die Industrie preiswerter als das, was wir derzeit haben, und die Preisspirale ist leider nach oben noch immer nicht beendet.
Sonderrolle Deutschlands
Deutschland sollte „Sina ira et studio“, also ohne Schaum vor dem Mund, rational einmal darüber nachdenken, warum fast alle anderen Staaten dieser Welt einen völlig anderen Weg einschlagen als wir, warum wir weltweit wegen unseres Sonderweges und der damit verbundenen ideologischen Ausschließlichkeit belächelt und bemitleidet werden, und ob es nicht sein könnte, dass andere Staaten vielleicht auch ein klein wenig recht haben könnten.
Dieser Beitrag des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Hans-Jürgen Irmer erschien zuerst im Wetzlar Kurier.