Von der Utopie des Friedens
Wollen wir angesichts des radikalislamischen Terrors tatsächlich den Frieden gewinnen und nicht nur mittels Aktionismus vom eigenen Versagen ablenken, dann müssen wir die skizzierten, klassischen Kriegszielszenarien sämtlichst zu den Akten legen. Neue Situationen erfordern neue Herangehensweisen. Und die Situation eines Weltbürgerkrieges, vor der wir jetzt stehen, ist neu. Was also ist zu tun?
Vielleicht müssen wir uns ein utopisches, scheinbar unerreichbares Kriegsziel definieren, das in der Lage sein wird, nicht nur Schlachten, sondern den Frieden zu gewinnen. Denken wir dabei wieder an Clausewitz, der den ewigen Zauderern und Besserwissern ins Stammbuch schrieb, dass man auch dann, „wenn man die Wahrscheinlichkeit des Erfolges gegen sich hat, man das Unternehmen darum nicht für unmöglich oder unvernünftig halten muss; vernünftig ist es immer, wenn wir nichts Besseres zu tun wissen“. Also definieren wir die Utopie eines Kriegszieles, um im Weltbürgerkrieg am Ende den Frieden zu gewinnen.
Nicht am deutschen Wesen die Welt genesen lassen
Zuvor jedoch müssen wir uns selbst definieren. Denn es deutet vieles darauf hin, dass die Europäer in den vergangenen einhundert Jahren entweder vergessen haben, was sie sind – oder es versäumt haben, sich selbst neu zu begreifen. Zwar haben sie die Europäische Union geschaffen – doch sie haben es nicht geschafft, sich als europäische Nation zu verstehen. Vielleicht aber müssen sie das auch gar nicht. Vielleicht reicht es aus, sich in der Welt des 21. Jahrhunderts als Schicksalsgemeinschaft zu definieren, in der der Einzelne ohne diese Schicksalsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb den Launen anderer, nicht der europäischen Wertegemeinschaft angehörender Mächte ausgeliefert sein wird.
Vielleicht reicht es völlig aus, wenn Balten, Polen, Deutsche, Franzosen, Spanier und all jene anderen Völker, die dem Kulturkreis der westeuropäischen Moderne angehören, verstehen, dass sie trotz regionaler Unterschiede und nationaler Egoismen allein auf sich gestellt den Frieden verlieren werden.
Soll es zur Erkenntnis einer wirklichen Wertegemeinschaft kommen, weil es dazu im eigenen Interesse der Europäer kommen muss, dann müssen allerdings auch die Deutschen begreifen, dass sie ihre europäische Sonderrolle aufzugeben haben. Sie können nicht länger als Engel einer übergeordneten Moral den Anspruch vertreten, die Welt am neuen deutschen Wesen der Ökoapostel und Weltpazifisten genesen lassen zu wollen. Die Deutschen müssen aufhören, sich im Taka-Tuka-Land der Pippi Langstrumpf ihre eigene Welt zu zaubern. Statt dessen müssen sie die Welt so nehmen, wie sie ist, und einen deutlichen Schritt zugehen auf ihre europäischen Partner. Das bedeutet aber auch der Welt selbstbewusst zu erklären, dass Deutschland nationale Interessen hat, die es in der Gemeinschaft der Völker deshalb durchgesetzt sehen möchte, weil es sie für vernünftig hält und andere davon zu überzeugen versteht.
One World – one people?
Zu klären aber bleibt vor allem: Begreifen wir uns als Deutsche, als Europäer und Nichteuropäer als „One World“? Wenn es so ist, dann sind wir auch „One People“. Und dann war die „Refugees welcome“-Euphorie dieses Sommers 2015 zumindest ehrlich. Dann aber stehen wir auch in der Pflicht, dieses „One World“ nicht nur dann zu leben, wenn wir uns dabei zu Hause mit dem wohligen Schauer der guten Tat ein gutes Gewissen scheinbar gratis erwerben. Dann müssen wir dieses One World auch leben, wenn es uns im Zweifel unerträgliche Opfer abverlangt. Tun wir dieses nicht, dann war das „Refugees welcome“ nichts als eine große Lüge und wir hätten besser daran getan, die Flüchtlinge zurück an die Küsten der Türkei und Nordafrikas zu schicken.
Nehmen wir einmal an, die breite Mehrheit der Deutschen möchte dieses One World ernsthaft leben. Nehmen wir sogar an, dass es uns ohne unseren Weltbelehrungs-Anspruch gelingen könnte, unsere skeptischen Nachbarn in Europa davon zu überzeugen, dass auch sie ein Teil der One World sind. Das mag zwar im Moment noch nicht sehr realistisch erscheinen – aber unterstellen wir es im Rahmen unserer Utopie einfach. Was ist dann zu tun?
Als erstes müssen wir begreifen, dass diejenigen, die wir als Opfer des Weltbürgerkrieges begreifen, sich nicht auf die Terrortoten in Europa beschränken. Wir müssen begreifen, dass nicht nur die Ezidi und die Christen in Syrien und im Irak viel länger schon ihren Blutzoll im Weltbürgerkrieg zahlen. Wir müssen begreifen, dass die ermordeten und versklavten Christen in Nordnigeria mehr sind als das Motiv einer wirkungslosen „Bring back our Girls“-Challenge. Wir müssen begreifen, dass die ungezählten Opfer des Terrors in Mali, Libyen und anderswo, aber selbst die längst verdrängten Toten im sudanesischen Darfur bereits seit Jahren unmittelbar in diesem Weltbürgerkrieg stehen. Wenn „Refugees welcome“ mehr war als ein Wohlfühlkick für Wohlstandsjunkies, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, nicht nur uns selbst und jenen, die sich zu uns durchschlagen konnten, zu helfen, sondern unsere Hilfe vor allem jenen zukommen zu lassen, deren kollektive und individuelle Existenz unmittelbar bedroht ist.
Wenn wir aus dem Weltbürgerkrieg des 21. Jahrhunderts einen Frieden gewinnen und uns nicht nur daran begeistern wollen, einige Schlachten militärisch erfolgreich abgeschlossen zu haben, dann müssen wir uns der Ursachen annehmen, statt nur die Symptome zu bekämpfen. Wir müssen diese Ursachen ohne Rücksichtnahme auf mögliche „Gefühle“ Dritter oder unserer selbst eindeutig benennen – und sie nicht länger unter bunt angemalten Pflastern verstecken wollen. Nur wer die Ursachen erkennt und benennt, kann Verantwortlichkeiten erkennen und die Verantwortlichen in die Pflicht nehmen, sich ihrer Verantwortung ohne Tabus zu stellen. Werfen wir deshalb einen entsprechenden Blick auf die Konfliktursachen und zeigen wir als Utopie Perspektiven auf, wie diesen im Rahmen einer One-World-Strategie näher zu kommen wäre.
Ursache 1 – Das koloniale Erbe
Von manchen gern als eigentliche Ursache benannt, von anderen als Schnee von gestern ebenso gern vergessen, bleibt dennoch die Erkenntnis, dass eine Ursache des Weltbürgerkriegs in der Politik der Kolonialmächte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden ist. Hierbei ist nicht die Unterdrückung und Ausbeutung indigener Völker und nicht einmal der Verrat an regionalen Verbündeten das Kernproblem, sondern die Hinterlassenschaft von künstlichen Staatsgebilden, die ohne jede Rücksicht auf ethnische, kulturelle und religiöse Gegebenheiten auf dem Reißbrett entworfen wurden. Auf eine solche Situation treffen wir in Nigeria ebenso wie im Irak, in Syrien und am Horn von Afrika.
Hier sind die Kolonialmächte von Gestern gefordert, sich endlich und abschließend von der Vorstellung zu lösen, dass die von ihnen gezogenen Grenzen für die Ewigkeit sind. Vielmehr ist es insbesondere die Aufgabe der Hauptverantwortlichen Frankreich und Vereinigtes Königreich, in jenen Ländern, die ihr koloniales Erbe sind, darauf hinzuwirken, dass unlösbar scheinende Konflikte auch durch Entflechtung der Konfliktparteien befriedet werden.
Vielleicht ist es sinnvoll, im Norden Nigerias einen eigenen Staat mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung zu etablieren – wenn dieser Staat die Gewähr dafür bietet, seine Minderheiten zu schützen. Selbst eine Umsiedlung von Teilbevölkerungen darf kein Tabu sein, wenn es die einzig sinnvoll erscheinende Möglichkeit ist, um den Frieden zu gewinnen.
Sicherlich ist es sinnvoll, die ohnehin nicht mehr existierenden Staaten Syrien und Irak neu zu ordnen. Ein Staat der Schiiten, ein Staat der Sunniten und ein Staat der Kurden sind ohnehin kaum noch aufzuhalten. Vielleicht auch war die französische Idee des Alawitenstaates gar nicht dumm – wäre sie seinerzeit nicht unter dem Aspekt des divide et impera entstanden. Gruppen wie Drusen, Juden, Maroniten und Eziden müssen – das ist die Verantwortung, die die früheren Kolonialmächte und ihre Partner zu übernehmen haben – innerhalb dieser Staatenbildung ihre Minderheitenrechte gewährleistet sehen.
Hier könnte der Begriff der „Schutzmacht“ neu belebt werden als ein Partner, der im Ernstfall bereit ist, die von den regional Beteiligten vereinbarten, gegenseitigen Rechte notfalls auch mit Waffengewalt zu garantieren. Wie sinnvoll solches sein könnte, wird derzeit im Südsudan demonstriert, wo eine derartige Schutzmacht für den Frieden das gegenseitige Massakrieren der gerade erst unabhängig gewordenen Stämme hätte im Keim ersticken können.
Ursache 2 – Regionale Expansionsansprüche
Wo nicht innerstaatliche Widersprüche die Ursache für Konflikte sind, sind es oftmals Machtgelüste staatlicher Eliten, die den Frieden verlieren lassen. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die Völker der Welt die Idee Woodrow Wilsons erneut aufgreifen und ein Völkerrecht definieren, welches nicht nur hehre Ansprüche deklariert, sondern konkrete Wege weist, wie in Konfliktfällen zu verfahren ist. Nichts hätte beispielsweise dagegen gesprochen, dass die ukrainische Krim sich Russland anschließt – wenn dieses das Ergebnis einer von den Vereinten Nationen nach eindeutig definierten Regeln durchgeführten, fairen und unabhängigen Abstimmung und nicht Resultat einer subversiven Usurpation gewesen wäre.
Wenn die Vereinten Nationen mehrheitlich einen Weg finden, regionale Konflikte vergleichbarer Art – und die Welt hat davon viele – auf einem rechtlich einwandfrei geregelten Weg zu lösen, dann wäre die UN ihren Aufgaben durchaus gerecht geworden. Sollte eine Mehrheit der Staaten sich dazu nicht verstehen können, so wäre zumindest dokumentiert, in welchen Ländern Eliten herrschen, die es nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker halten und die allein schon deshalb in einer Organisation, die sich „Vereinte Nationen“ und nicht „Vereinte Staaten“ nennt, eigentlich nichts zu suchen hätten.
Jene, die möglicherweise sogar trotz Minderheitenposition bereit sind, neue Regeln zu akzeptieren, hätten dann zumindest die Möglichkeiten, jene anderen zu sanktionieren oder aus dem Rahmen exklusiver Partnerschaften und Entscheidungsfindungs-Prozesse gezielt auszuschließen. Dort, wo regionale Machtansprüche dennoch von der gewaltsamen Unterdrückung anderer träumen, wäre im Zuge einer One-World-Strategie eine internationale Taskforce einzurichten, die bereit ist derartige Ansprüche auch militärisch in ihre Schranken zu weisen.
Ursache 3 – Religiös verbrämte Weltmachtillusionen
Auch wenn es von Vielen immer noch nicht gern gehört wird – eine der Hauptursachen insbesondere der aktuellen Konflikte ist der nach wie vor bestehende Anspruch auf Weltherrschaft religiös verbrämter Imperialismusvorstellungen. Konkret trifft dieses heute nur noch auf den Islam des vor rund 1.400 Jahren aktiven Arabers Mohamed zu. Der von Mohamed im siebten nachchristlichen Jahrhundert definierte Anspruch eines weltumspannenden Kalifats islamischer Prägung liefert die Nahrung nicht nur der offen terroristisch agierenden Gruppen wie Islamischer Staat, Boko Haram und AlQaida. Er ist auch Grundlage staatlich beförderter Machtfantasien beispielsweise in Staaten wie Sa’udi-Arabien ebenso wie in den Köpfen eines weltumspannenden Proletariats der Fortschrittsverlierer.
Im Rahmen einer One-World-Strategie wird es die Aufgabe ihrer Vertreter sein, vorrangig bei jenen befördernden Staatseliten darauf hinzuwirken, sich von diesem Weltbeherrschungsanspruch definitiv zu verabschieden. So dieses nicht geschieht, sind bestehende Beziehungen zu diesen Ländern einzufrieren. Waffenlieferungen beispielsweise an Sa’udi-Arabien sind so lange nicht zu verantworten, wie aus diesem Land heraus eine unterschwellige Unterstützung radikalislamischer Gruppen nicht definitiv ausgeschlossen ist. Soweit Abhängigkeiten von diesen Ländern insbesondere im Bereich der Rohstofflieferungen bestehen, ist aktiv und mit Hochdruck an der Substitution dieser Abhängigkeiten zu arbeiten. Hier könnte beispielsweise der sogenannten Energiewende der Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energieträger eine Schlüsselrolle zufallen, auch wenn die überhastete Abkehr Deutschlands von der friedlichen Nutzung der Kernenergie hier eher das Gegenteil bewirkt hat.
Da niemand erwarten kann und erwarten sollte, dass Millionen von Muslimen weltweit ihrem Glauben abschwören, sind im Zuge einer One-World-Strategie umgehend Kontakte zu den institutionalisierten Trägern dieser Glaubensphilosophie aufzunehmen mit dem Ziel, den historischen Machtanspruch des Islam in eine zukunftsfähige Religionsinterpretation einzubetten. Die entsprechenden Ansätze hierfür bestehen nicht nur an der Kairoer AlAzhar-Universität und sind durch die Vertreter des Islam selbst dahin zu entwickeln, die aus der wortgetreuen Umsetzung ihrer Glaubensgrundsätze abzuleitenden Weltherrschaftssprüche in einen historischen Kontext einzubetten, der den Islam nicht länger als Bedrohung Andersdenkender wahrnehmen lässt.
Es liegt im ureigenen Interesse des Islam als Glaubensphilosophie, für sich selbst den Frieden zu gewinnen und nicht länger in der spätantiken Vorstellung eines ewig währenden Krieges zwischen den Völkern der Umah und den nicht dieser Umah angehörenden Völkern zu verharren. Hier sind insbesondere auch die Vertreter anderer Glaubensgemeinschaften aufgefordert, auf ihre islamischen Partner ohne Bekehrungsanspruch zuzugehen und mit ihnen gemeinsam Wege zur gegenseitigen Glaubenstoleranz zu entwickeln. Sollte sich der Islam außerstande sehen, einen eigenen Weg in die Moderne zu finden und die religiöse Intoleranz bis hin zum glaubensbegründeten Terror nicht aus ihrem Glaubenskanon verdammen, wird er sich selbst als Verhinderer einer One-World-Strategie ins Abseits begeben.
Ursache 4 – Fortschrittsverlierer im eigenen Lande
Eine gern verdrängte und dennoch unübersehbare Ursache des Weltbürgerkriegs liegt nicht nur in den scheinbaren Ursprungsländern, sondern auch in Europa selbst. Die Unfähigkeit der europäischen Gesellschaften, sowohl den Kindern aus Zuwandererfamilien attraktive Lebensperspektiven aufzuzeigen als auch Kinder aus nicht funktionierenden Familienverhältnissen oder sozialer Vernachlässigung heraus zu holen, bildet eine Ursache der Radikalisierung junger Menschen. Ghettobildung in oder am Rande der Metropolen ebenso wie in der Erziehung überforderte Familienverhältnisse bilden den Nährboden für orientierungslose Fortschrittsverlierer, die den einfach verständlichen Antworten scheinreligiöser Menschenfänger hilflos ausgeliefert sind.
Mit aktuellem Blick nicht nur auf Frankreich lässt sich feststellen: Solange in den eigenen Ghettos wie in Paris die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit nicht integrierter oder aus dem Gesellschaftsprozess herausgefallener junger Menschen nicht aktiv gewandelt wird, ist jede auf den IS in Syrien abgeworfene Bombe nur der Anlass für weitere Fortschrittsverlierer im eigenen Land, sich den Ideen religionsbegründeter Weltherrschaftsfantasien als letzten Ausweg für eine eigene Zukunftsvision zuzuwenden.
Unverzichtbar ist es in diesem Zusammenhang auch, die gezielte Anwerbung dieser Fortschrittsverlierer nicht länger unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit zu dulden. Wer – gleich ob in einem vorgeblichen Gotteshaus oder auf der Straße – für die aktive Teilnahme im Weltbürgerkrieg wirbt, vertritt keine Religion, sondern betreibt Volksverhetzung. Die Toleranz der freien Gesellschaft hat dort ihre Grenzen, wo ihre Gegner zum Kampf gegen die Freiheit aufrufen.
Ursache 5 – Der Weltwirtschafts-Imperialismus
Ein Fundament des Weltbürgerkriegs sind jene ohne ökonomische Perspektive aufwachsenden Menschen weltweit. Neben expandierenden Bevölkerungszahlen trägt das, was man bösartig als Wirtschafts-Imperialismus bezeichnet, maßgeblich dazu bei, immer mehr Menschen ohne Lebensperspektive in menschenunwürdigen Zuständen leben zu lassen. Weder wird die ständig steigende Zahl jener abnehmen, die aus dieser Situation heraus ihren letzten Ausweg in der illegalen Zuwanderung in jene scheinbaren Gefilde des Wohlstands erblicken, als auch diejenige derer, die in der Gewaltanwendung ihre letzte Möglichkeit zur Gewinnung einer individuellen Existenzgrundlage erblicken. Der von Gunnar Heinsohn beschriebene „Youth Bulge“ ist – wenn auch weniger im konkreten Falle des IS – ein Faktor, der den Weltbürgerkrieg weiter befeuern wird, so diese ständige Produktion von Noch-mehr-Mensch nicht einen Mittelpunkt künftiger Überlegungen bildet. So bösartig es klingen mag: Unsere humanistische Gesellschaft gefällt sich darin, hungernde Babies zu retten – aber sie vergisst, den daraus erwachsenden Menschen eine Lebensperspektive zu geben.
Wenn heute Länder wie China nicht nur in Afrika von korrupten Herrschaftseliten riesige Ländereien langfristig pachten, um dort die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung für die Zukunft sicher zu stellen, dann sind hier bereits weitere Stationen des Weltbürgerkriegs vorprogrammiert. Denn irgendwann werden die dort geborenen Menschen nach der Nahrung verlangen, die auf ihrem Boden für China produziert wird. Sie haben dann die Möglichkeit, entweder die Chinesen mit Gewalt zu vertreiben oder – was wahrscheinlicher ist – sich von den Chinesen im Beharren auf deren Vertragsrechte und um der Sorge ihrer eigenen Bevölkerung willen niederschießen zu lassen. Vielleicht auch tun sie weder das eine noch das andere und wandern gleich aus nach Europa – falls das dann überhaupt noch attraktiv sein wird. Wie auch immer: Dieses Anpachten von Ländereien, das nicht nur China praktiziert, wird am Ende die ortsansässige Bevölkerung dem Hunger preisgeben.
Doch es ist nicht nur China, das hier zu Lasten der Ärmsten agiert. Für die führenden Industrienationen – und ihre globalen Konzerne – sind die Länder mit dem größten Bevölkerungswachstum neben Rohstofflieferanten zu Resterampen verkommen. Wir exportieren Altkleider und vernichten regionales Gewerbe. Was bei uns der Verwertung nicht lohnt, wird verschifft. Egal, ob am Ankunftsort Elektroschrott unter menschenunwürdigen und umweltzerstörenden Bedingungen auf die letzten Reste seiner Wertstoffe ausgebeutet wird.
Der Umweltdreck, der nicht nur auf diese Weise entsteht, wird mit den industriell gefangenen Schwärmen exotischer Fische, die auf den Tellern der Wohlstands-Gesellschaften landen, zurückgeschickt. Und gleichzeitig wird so weiteren Menschen an Ort und Stelle ihr Lebenserwerb genommen, welche dann ihre vielleicht letzte Chance zum spärlichen Überleben selbst nur noch in der Möglichkeit erblicken, sich in die Reihen der Restwert-Stoffverwerter einzureihen. Oder gleich dorthin zu wandern, wohin ihre entschwundene Lebensgrundlage bereits den Weg gefunden hat.
Der klassische Kapitalismus, der von Adam Smith in seiner Zeit zu Recht als Grundlage einer prosperierenden Gesellschaft definiert wurde, ist bei sieben Milliarden Erdenbürgern nicht mehr zu rechtfertigen. Es war mit Ludwig Erhard ausgerechnet ein Deutscher, der die soziale Verantwortung des Kapitals in den Mittelpunkt stellte. Sein Ansatz könnte die Basis für den Gewinn des Friedens werden, wenn er global definiert und mit entsprechendem Inhalt gefüllt wird.
Ursache 6 – Die Unwissenheit
Der Mangel an Bildung und das Verharren in der scheinbaren Unschuld der Unwissenheit sind eine entscheidende Ursache für das Entstehen des Proletariats der Fortschrittsverlierer. Lange vor den Vertretern des Fortschritts haben das jene erkannt, die das Proletariat der Fortschrittsverlierer brauchen, um darauf ihren eigenen Herrschaftsanspruch aufzubauen. Deshalb führen sie ihren Kampf gegen Schulen, die diesen Namen verdienen, ebenso wie gegen den Anspruch der Frau, Anteil an Bildung zu nehmen. Der Mordanschlag auf jene junge Pakistanerin Malala, die nichts anderes beanspruchte, als ihr eigenes Potential ausschöpfen zu können, ist symptomatisch.
Bildung und die Durchsetzung des individuellen Menschenrechts, sich ihren Erwerb von niemandem verbieten zu lassen, ist deshalb eine der wichtigsten Waffen im Weltbürgerkrieg. Wer die Köpfe gewinnt, der kann den Frieden gewinnen. Deshalb ist Bildung eines der wichtigsten Exportgüter in der One-World-Strategie. Sie kann der entscheidende Schlüssel sein, die in vielen Regionen der Erde nach wie vor herrschende Archaik der Köpfe zu überwinden, wenn es ihr gelingt, die mit der Bildung untrennbar verbundene Idee freier Selbstbestimmung dorthin zu bringen, wo sie am nötigsten ist. Und das sind – leider – nicht nur jene uns scheinbar so fernen Regionen irgendwo in Afrika oder Asien – es sind auch die Abstellkammern unser eigenen Häuser, in denen wir jene sich selbst überlassen haben, über deren Lebensperspektive wir uns bislang geweigert haben, aktiv nachzudenken.
Nur eine Utopie – und doch der Schritt in die Aktualität
All das ist fern jeder Realität? All das muss scheitern, weil es jenen, die es bewirken könnten, zu hohe eigene Opfer abverlangt? All das wird schon deshalb niemals Wirklichkeit werden, weil die Menschheit nie gelernt hat, über den eigenen Tellerrand hinaus zu denken?
Vielleicht ist es so. Und dennoch sollte uns nicht nur Clausewitz den Mut geben, auch das Unmögliche und selbst das scheinbar Unvernünftige zu denken. Denn eines sollte außer jeder Frage stehen: Eine Utopie, die nie gedacht wurde, wird niemals die Chance erhalten, Realität zu werden. Insofern haben wir nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, auch Utopien zu denken, wenn es darum geht, die Zukunft der Menschheit auf der Grundlage der für uns maßgeblichen Ansprüche eines menschlichen Miteinanders zu gestalten.
Wir sollten nie vergessen: All das, was wir als Menschenrecht und selbstverständliche Grundlage unserer eigenen Existenz betrachten, begann irgendwann als Utopie. Wäre es nicht so gewesen, so würden wir noch heute in Höhlen hausen und nicht einmal ein Lagerfeuer haben, an dem wir uns wärmen könnten.
Dennoch – Utopien verwirklichen sich nicht über Nacht. Deshalb gilt es, aus dem, was ist und dem, was sein könnte, einen Weg zu schaffen, mit dem es uns gelingen kann, der Utopie eine Chance zu geben. Wie dieses nun als dann tatsächlich konkretes und unmittelbar zu erreichendes Kriegsziel der Gegenwart aussehen kann – davon wird im vierten und letzten Teil der Überlegungen zum Weltbürgerkrieg die Rede sein.