Tichys Einblick
Szenarios der Selbstbehauptung

Paris und die Folgen – der Weltbürgerkrieg des 21. Jahrhunderts (Teil 2)

Steckten Europa und die freie Welt in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gibt? Haben die Strategen des Glaubensterrorismus schon gewonnen?

Die Regierung eines Landes hat für ihre Bürger folgende Aufgaben zu gewährleisten:

Jede über diese drei Kernaufgaben hinausgehende Zielsetzung und/oder Ausformung wie beispielsweise die Garantie eines Freien Marktes, umweltfreundliche Energieversorgung, freie Arbeitsplatzwahl und selbst freie und unabhängige Wahlen sind darauf aufbauender Luxus, der zwar den Wert und den Anspruch einer Gesellschaft ausmachen kann, jedoch dann seinen Wert verliert, wenn es zur fundamentalen Krise des Systems kommt. Ist eine Regierung außerstande, die Kernaufgaben zu gewährleisten, hat die Politik versagt und der Zusammenbruch des staatlichen Systems ist unausweichlich. Eine solche Krise zu organisieren, ist das Ziel der Gegner des jeweils betroffenen Staatswesens – und es spielt dabei erst einmal keine Rolle, ob dieser Versuch nach dem Prinzip Gerassimow durch feindliche Staaten, wie im Falle einer glaubensideologisch geprägten Terrororganisation durch äußere Gruppierungen oder wie bei jenen Ideologen der „Roten Armee Fraktion“ durch innere Gegner unternommen wird.

Gelingt es den Gegnern, auch nur eine der Kernaufgaben zu erschüttern, so ist dieses gleichbedeutend mit einem Versagen der Politikverantwortlichen. Die Terroranschläge von New York, Madrid, London und Paris, aber auch Bagdad oder Beirut, dokumentieren damit ein Politikversagen und stellen die Regierungen vor die unmittelbare Aufgabe, ein entsprechendes, künftiges Versagen mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu unterbinden. Oberste Aufgabe der zu ziehenden Konsequenzen ist daher die kompromisslose Gewährleistung der Kernaufgaben.

Der jüngste Terroranschlag von Paris steht nicht nur für ein solches Politikversagen – er sollte auch jedem ins Bewusstsein geprägt haben, dass der fundamental-sunnitische Islam einen erbarmungslosen Krieg gegen die nicht-fundamental-sunnitische Welt führt. Er hält sich dabei an keine der mühevoll entstandenen Regeln einer „zivilisierten“ Kriegsführung. Er scheut nicht davor zurück, gänzlich Unbeteiligte und sogar Glaubensbrüder, die sich in seinen Augen der Sünde der Kumpanei mit den Ungläubigen schuldig gemacht haben, kollektiv zu ermorden. Für ihn gehören der Massenmord von gefangenen Zivilisten, die Versklavung von Frauen und Kindern sowie das barbarische Zu-Tode-Foltern von Kriegsgefangenen und Schächten von Geiseln zu den Selbstverständlichkeiten seiner Kriegsführung: Vom Kulturbarbarismus dieser Gemeinschaft von Fortschrittsverlierern ganz zu schweigen.

Der Weltbürgerkrieg der Fortschrittsverlierer

Da steht sie nun, die Weltgemeinschaft freier und weniger freier Völker. Wladimir Putin, der den Krieg in die Ukraine getragen und den europäischen Friedenskonsens der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts aufgekündigt hat sowie in Syrien das Versagen der USA zur eigenen Machterweiterung nutzt, ist plötzlich ein gefragter Mann. China, das gerade einen Staatsbürger den Schächtern des IS überlassen musste, aber selbst im Ranking der Hinrichtungen Platz 1 belegt, schwört weltweite Rache. Das gedemütigte Frankreich sucht nicht nur bei seinen europäischen Freunden um aktive Militärhilfe nach – und Deutschland ziert sich einmal mehr plan- und konzeptionslos.

Gebrochene Versprechen, missachtete Gesetze, Milliarden-Verluste: Dürfen die das so?
Haften Politiker für ihre Griechenland-Politik?
Der Feind, vor dem die Weltgemeinschaft – wenn man davon sprechen kann – heute steht, ist kein singulärer Wohlstandsterrorismus nach dem europäischen Muster einer „Roten Armee Fraktion“ oder der „Brigate rosse“. Es ist der Krieg einer rückwärtsgewandten, sich mit einem religiös verpackten, politisch-ideologischen Handwerkszeug aus der Spätantike speisenden Masse Mensch, die die Errungenschaften der Moderne als Ursache ihres eigenen Versagens ausgemacht hat und deshalb unterschiedslos alles bekämpft, was aus ihrer bornierten Sicht der Moderne frönt oder wegen seiner Andersartigkeit jeden Anspruch auf Existenz verwirkt hat. Dieser Kampf lässt sich nicht regional auf jene Gebiete eingrenzen, in denen seine Protagonisten klassische Geländegewinne machen konnten.

Dieser Kampf findet auch und unmittelbar in unseren eigenen Räumen statt – er kommt auch aus den Abstellkammern unseres Hauses, in die wir jene verbannten, mit denen wir in unserer Gemeinschaft nicht so recht etwas anzufangen wussten. Diese Verbannten schufen sich Parallelwelten, in denen die Mischung aus eigenem Versagen und jenen aus dem Islam gespeisten, fundamentalistischen Weltbildvorstellungen eine unheilvolle Verbindung eingehen konnte. Der fundamentalislamische Terror, der den Weltbürgerkrieg befeuert, wurde in den bigotten Hinterzimmern sa‘udisch-wahabitischer Moscheen gezeugt und vom Unvermögen der aufgeklärten Europäer im Umgang mit ihren verlorenen Kindern gezüchtet.

Die Welt zieht in den Krieg     

Dieses Proletariat, das heute ein Teil der Welt ist, hat dieser Welt den Krieg erklärt. Der Welt wird nichts anderes bleiben, als diese Kriegserklärung anzunehmen. Und damit sind wir wieder bei Clausewitz. Denn einmal mehr steht zu befürchten, dass einige der nun zur Kriegsführung Verdammten in unkoordinierten Aktionismus verfallen, während andere – allen voran die umfänglich pazifistisierten Deutschen – sich am liebsten an allem vorbeidrücken und weiter die maßgeblich zum Entstehen des Krieges beitragende Anheimgabe ihrer europäischen Werte befördern werden. Europa und mit ihm das, was wir als freie Welt bezeichnen, steht vor der Wahl: Selbstaufgabe oder Kampf. Unterstellen wir, dass in diesem Europa noch ein Rest an Selbstbehauptungswillen steckt, dann ist es jetzt gefordert, auf Grundlage der fundamentalen Kernaufgaben des Staates seine Kriegsziele zu definieren und Strategien zu entwickeln, wie diese Ziele zu erreichen sind. Zeigen wir deshalb drei Szenarien auf, die derzeit vorstellbar scheinen.

Szenario 1 – Die Wagenburg

Europa kann das Ziel verfolgen, seine eigenen Bürger mit allen Mitteln vor dem Terror zu schützen und den Rest der Welt sich selbst zu überlassen. Jenseits der Feststellung, dass dieses in einer globalen Welt und der geographischen Lage Europas kaum vorstellbar (wenn auch von einer Mehrheit der Bürger gewünscht) ist, müsste dieses bedeuten, die Außengrenzen Europas festungs-gleich auszubauen, zu sichern und zu verteidigen. Das zu definierende Kriegsziel hieße: Terror raus aus Europa! Die Konsequenz wäre die totale Isolation.

Konkret hieße es, die Rettungsmissionen auf dem Mittelmeer sofort einzustellen, Boote mit illegal Einreisenden zurück zu treiben und gegebenenfalls ohne Rücksicht auf Opfer zu versenken. In der Folge würde der ständige Zustrom illegaler Einwanderer auf dem Seeweg zum Erliegen kommen und nach anderen Möglichkeiten suchen, das gelobte Land zu erreichen. Europa verlöre – so es diese noch hat – seine humanitäre Unschuld. Die Zusammenarbeit mit jenen Ländern und Partnern, die ebenfalls mittelbar in den Strudel des Weltbürgerkriegs geraten sind, würde gegen Null gehen. Europa überließe vor allem den Nahen Osten sowie Nord- und Zentralafrika dem Zugriff der fundamentalistischen Islamkämpfer oder dem Kriegsglück von Russen, Amerikanern und vielleicht sogar Chinesen. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wäre das kleine Europa, so es sich nicht zwischenzeitlich selbst aufgegeben hätte, von unerbittlichen Feinden umringt und aus dem selbstmörderischen Weltbürgerkrieg wäre ein mörderischer Dauerkrieg geworden. Allein deshalb kann dieses Szenario kein gangbarer Weg sein. Ohnehin: Selbst wenn es der ersten Grundprämisse der Kernaufgaben gerecht werden sollte, würde es die zweite vernichten und damit die dritte nicht mehr erfüllen können.

Szenario 2 – Der Pseudosieg

Europa kann, wie es derzeit Frankreichs Präsident Hollande versucht – die Ursachen des Terrors ausschließlich bei jenen militanten Kräften verorten, die irgendwo in der syrisch-irakischen Halbsteppe ihren territorialen Ursprung haben. Die Welt gegen den Islamischen Staat mit dem Kriegsziel, diese fundamentalistische Terrorgruppe mit Stumpf und Stiel zu vernichten.

Militärisch ist das machbar, wenn die Luftschläge der überlegenen westlichen Luftwaffe kombiniert werden mit einer gezielten Bodenoffensive europäischer und regionaler Truppen. Die heute vom IS besetzten Gebiete könnten auf diesem Wege das werden, was man gemeinhin unter „befreit“ versteht. Aber – wäre damit das Problem des islamischen Terrors beseitigt? Kaum. Einerseits ist davon auszugehen, dass jene, die sich zu den Ideen der Fundamentalisten bekennen, sich kaum so lange in das Schussfeld stellten, bis der letzte von ihnen erschossen am Boden liegt. Sie würden vielmehr – soweit das nicht ohnehin bereits geschehen ist – einsickern in die Gesellschaften sowohl am Kampfesort wie in Europa und dort ihre Ziele weiterverfolgen.

Noch problematischer allerdings wäre etwas anderes. Wer in den vergangenen Tagen erleben musste, wie der türkische Plebs beim Fußballländerspiel Türkei-Griechenland bei der Schweigeminute für die Attentatsopfer in Paris mit „Allahu akbar“-Rufen seine Solidarität mit den Attentätern zu Ausdruck brachte, der mag vielleicht eine Ahnung davon bekommen, wo im Weltbürgerkrieg die tatsächlichen Frontlinien verlaufen. Wer einen Blick in die Gesellschaften von failed states wie Pakistan wirft, der wird verstehen, dass die militärische Vernichtung der radikalislamischen Kämpfer beim islamischen Plebs weltweit eine Solidarisierung erzeugen kann, die bislang noch ungeahnte Kräfte freizusetzen in der Lage ist.

Die Hydra der religiologisch indoktrinierten Globalisierungsverlierer ist in der Lage, jedem abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen zu lassen. Jene Personen, die im Fatih-Terim-Stadion ihr Bekenntnis zum islamischen Terror in die Welt schrien, sind nur die Spitze eines Eisberges, der zwischen Fes in Marokko und Djakarta in Indonesien unter der Oberfläche lauert. Doch selbst wenn es zu dieser Solidarisierung nicht kommen sollte, so wäre dieses Szenario am Ende nichts anderes als martialische Kosmetik. Denn es wird vielleicht das Ende des IS sein – nicht aber das Ende des islamisch begründeten Terrors. Und es wird so vielleicht ein konkretes Kriegsziel erreichen– nicht aber den Frieden gewinnen können.

Szenario 3 – Der Krieg der Kulturen

Samual P. Huntingtons „Clash of Civilisations“ schien bereits zu den Akten gelegt. Aber im Kern sind die Überlegungen des 2008 verstorbenen Politikwissenschaftlers so aktuell wie eh und je dann, wenn wir „Civilisations“ als Kulturen übersetzen und Kulturen als Lebensauffassungen und nicht als regionalspezifische Gesellschaftsausprägungen begreifen. Sollte es das Kriegsziel der Europäer sein, die Ursachen des Weltbürgerkrieges zu beseitigen, dann ist auf der einen Seite ein militärischer Kampf gegen islamisch motivierte Terrorgruppen weltweit unvermeidbar. Dann gilt es nicht nur, eine „Koalition der Willigen“ zu schmieden, sondern eine Armee der Aufklärung, die überall dort auf der Welt aktiv wird, wo fundamental-islamische Bewegungen ansetzen, Andersdenkende zu terrorisieren. Dieser Krieg wird ausgefochten in Syrien und dem Irak, in Afghanistan und Pakistan, in Somalia und Kenia, in Mali und Nigeria, in Libyen und Ägypten, auf den Philippinen und in Indonesien – und überall dort, wo er im Moment noch nicht bereits ausgebrochen ist.

Dieser Krieg wird ein erbarmungsloser sein und er wird die hehren Vorstellungen globaler Menschenrechte erheblich in Mitleidenschaft ziehen. Er kann – wenn die in Szenario 2 angedeutete Solidarisierung des islamischen Proletariats mit den unterliegenden Glaubenskämpfern erfolgen sollte – Opfer in bis heute unvorstellbaren Zahlen fordern. Es wird ein Kampf werden, der um so länger dauert, je humanitärer er von Seiten der Europäer geführt werden soll. Und es wird ein Kampf werden, der unsere Welt in ihren Grundfesten verändern wird. Denn weder ist garantiert, dass an seinem Ende tatsächlich ein Gewinner feststeht, noch ist auch nur ansatzweise sicherzustellen, dass die Armee der Aufklärung nicht zu einer Armee des „Terreur“ mutiert und vergleichbar der Französischen Revolution selbst zum Instrument einer Schreckensherrschaft wird.

Keine optimale Lösung

Die Skizze der drei nahe liegenden Kriegsziel-Szenarien hat deutlich gemacht: Keine der unmittelbar denkbaren Varianten ist wirklich erstrebenswert. Keine liefert eine Garantie, dass das jeweilige Kriegsziel tatsächlich erreichbar ist. Und keine ist mit unseren eigenen Ansprüchen an Menschlichkeit und globaler Gerechtigkeit auch nur ansatzweise vereinbar. Sind wir folglich gezwungen, uns selbst aufzugeben, unsere Werte zu verleugnen, um nicht unterzugehen in einem Sog des Barbarismus? Oder steckt Europa seinen Kopf weiter in den Sand und gibt sich selbst auf?

Die Zermürbungserscheinungen sind unübersehbar. Maßgeblich befördert durch die Angst vor kultureller Überfremdung, die durch den Terror des IS eine übersteuernde Komponente erhält, werden in den Ländern Kerneuropas rechtsextreme Kräfte immer stärker. Ob jene von Moskau finanzierte Front Nationale in Frankreich oder Polens neugewählte, antirussische Kaczynski-Führung – als Vertreter eines nationalen statt europäischen Wagenburg-Szenarios haben sie das Potential, die Idee der Europäischen Union zu sprengen. Unter der Bedrohung durch als solche empfundene, kulturfremde Barbaren schließen sich ihre Reihen und reaktivieren sich kollektive Abwehrmechanismen. Die von rotgrünen Wohlstandkindern erträumte bessere Welt gleicher, im ewigen Einklang mit der Natur stehender Menschen wird im Angesicht der als real empfundenen Bedrohung zum Auslaufmodell – und mit ihrem realitätsfernen Anspruch weltumspannender Gerechtigkeit selbst zu einer Bedrohung für die Zukunft Europas.

Und noch etwas steht im Raum ohne bislang wirklich öffentlich realisiert geschweige denn beantwortet worden zu sein: Wie hält es Europa, wie hält es die Freie Welt mit jenen Mächten, die zwar nicht hinter dem archaischen Barbarentum der Glaubensterroristen stehen – die dieses aber entweder befördern oder eigene Wege bestreiten, die den Idealen Europas widersprechen, oder diese vielleicht sogar aus eigenen Interessen auszuhebeln versuchen? Bevor Europa in den Krieg zieht, muss es sich die Frage nach seinen Partner, seinen Verbündeten auf Zeit und auch nach seinen Gegnern beantworten. Und: Wie hoch darf der Preis sein, den Europa für seine Verbündeten zu zahlen bereit ist? Diese Fragen sind nicht zu beantworten, solange das Kriegsziel nicht eindeutig definiert ist. Doch sie liegen bereits jetzt sehr konkret auf dem Tisch dann, wenn sich der Blick beispielsweise auf Sa’udi-Arabien und die Türkei richtet. Auch der Blick auf Russland lässt erahnen, dass der Preis für ein gemeinsames Vorgehen gegen den Terror der Verrat an den eigenen, westeuropäischen Idealen sein könnte.

Steckt Europa, steckt die freie Welt also in einer Falle, aus der es kein Entrinnen geben wird? Haben die Strategen des Glaubensterrorismus schon gewonnen? Fast will es so scheinen. Welcher Weg dennoch zu beschreiten sein könnte, wenn Kriegsziel und Strategie in Einklang mit den Idealen Westeuropas gebracht werden sollen – darüber soll im dritten Teil zum Weltbürgerkrieg nachgedacht werden.

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