Was ist so schlimm, so unerträglich an dieser Zeit der Entsagung, die wir Fastenzeit nennen? Alles, wenn Sie mich fragen. Fragen Sie mich!
Meine Generation kennt Hunger nur aus der Literatur, Hamsuns „Hunger“ war ein fast physisches Leidenserlebnis für mich. Und dann der zerrissene und völlig verarmte glühende Katholik Léon Bloy mit seinen Tagebüchern, der zwei seiner Kinder an den Hunger verlor.
Wir sind in einer Kultur groß geworden, in der wir alles Verfügbare in uns
hineinstopfen, Nuckelkram, Nahrung, Wein, Drogen, Filme, esoterische Sinnangebote, Bücher, TV-Serien, Konsum aller Art, davon lebt unser System, wir stopfen und stopfen … und werden doch dieses merkwürdige Gefühl der Leere nicht los.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“? Nun, es war Jesus, der das gesagt hat, aber wer von uns ist Jesus, wer hat schon die göttliche Erkenntnis, die Menschenkenntnis, die Selbsterkenntnis, die Weisheit?
Jedes Jahr stelle ich mich, stellt mich der Kirchenkalender auf die Probe, wenn es ans Fasten geht. Ich begebe mich in die Buchinger Klinik hoch überm Bodensee, um zu entsagen. Die Natur bietet nichts außer diesen geheimnisvollen Nebeln über dem See, an den wenigen Föhntagen einen verblüffenden Blick auf die Alpen, ansonsten abgeerntete Stoppelfelder, kahle Bäume, auch die Natur fastet und unter der Erde Siebenschläfer, die von ihrem Fett leben, das sie während des reichen Sommers angelegt haben.
Fasten als spirituelle Erfahrung
Harvard-Wissenschaftler haben nun bewiesen, dass Fasten – also Verbrennen und Abwerfen toter Zellen und Zellneuwuchs – lebensverlängernd ist. Aber das ist es nicht, was mich hierher zieht. Es ist das innere Erleben. Das Fasten als spirituelle Erfahrung.
Alle großen Religionen enthalten Fastenzeiten, das Judentum, das Christentum, der Islam mit seinem Ramadan. Jesus ging vor seiner entscheidenden Prüfung, der Passion, in die Wüste, 40 Tage lang, um zu fasten. In der orthodoxen Kirche wird die Fastenzeit die „Blütezeit der Reue“ genannt, ja merkwürdig, die orthodoxe Liturgie jubelt über diese Entbehrungstage, die auf Ostern zulaufen.
Das liturgische Buch, das „Triodion“, ist ein Hymnenbuch des Fastens, das auf ekstatisch getönte Geheimnisse zielt: „Öffne mir die Pforten der Reue, du, der du Leben schenkst“. Die Reue gibt es nicht zum Nulltarif, echte Reue muss er eht werden, doch dann eröffnet sich eine Landschaft, die ich mir erfüllt von Vergebung und Engelschören vorstelle.
Die Enthaltsamkeit selbst ist der Gewinn. Die Ursünde bestand in einem Bruch der Enthaltsamkeit. „Adam wurde aus dem Paradies vertrieben / weil er von der Frucht gekostet hat / deshalb saß er weinend davor / und rief aus: Wehe mir …“
Das Triodion treibt die Reue geradezu in Verzückungsspitzen. Hier geht es
nicht mehr nur um das formale Entsagen von Speisen – die Reue ist die Seele des Fastens, und zwar eine, die glänzt in ihrer Schönheit: „Der Frühling des Fastens ist gekommen / die Blütezeit der Reue / nehmen wir mit Freude die Ankündigung der Fastenzeit auf! Denn wenn unser Stammvater Adam das Fasten befolgt hätte, wären wir nicht des Paradieses verlustig gegangen …“
Es kann wohl keinen inbrünstigeren Beweggrund zum Fasten geben als diesen: Die ganze Menschheit, die Welt wäre gerettet worden, hätte Adam der verbotenen Speise vom Baum entsagt. Und deshalb müssen wir es nachholen, zu unserm Heil.
In meiner Kindheit hielten wir uns wie selbstverständlich an die Fastenzeit, die gedämpft war und von einer inneren Feierlichkeit. Sie begann mit dem ernsten grauen Kreuz auf der Stirn am Aschermittwoch. Wie beeindruckend und kindernah und verständlich doch diese liturgischen Verrichtungen sind. Mein Vater aß nur leichte Suppen und verzichtete auf Zigaretten, meine Mutter ließ die eine oder andere Mahlzeit aus, wir fünf Söhne kamen ohne Schokolade und andere Süßigkeiten über die Runden – außer denen, die uns die herzensweiche Oma heimlich zusteckte.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir gelitten hätten – es war eher eine geheimnisvolle Zeit des Erwartens, wir waren neugierig. Die Natur half. Sie bereitete mit dem ersten Vogelgezwitscher, den ersten zarten Trieben an Bäumen und Sträuchern auf die hervorbrechende Üppigkeit der Natur vor.
„Lumen Christi“
Die Karwoche. In den Kirchen wurden die Kreuze und Bilder mit violetten Tüchern verhängt. Gründonnerstag mit der Erinnerung an das letzte Abendmahl. Karfreitag, der Kreuzweg in der Kirche, die Passion. Karsamstag schwebte in einer merkwürdigen Unentschlossenheit, Jesus ist tot. Dann die Ostermette, die dunkle Kirche, das „Lumen Christi“, Kerze wurde an Kerze angezündet, bis der Raum funkelte und glänzte, als sei der Goldgrund der orthodoxen Ikonen lebendig geworden.
Das Wunder des Triodion, das Wunder der Fastenzeit, besteht tatsächlich
in diesem Glanz, der aus dem Paradies scheint. Diese kommende Nacht der einzigartigen Freude, wenn die Orthodoxen in ihrer Liturgie singen: „Heute ist alles mit Licht erfüllt, Himmel und Erde und Totenwelt …“ Es ist das Strahlen aus dem Grab, das Strahlen, das den Tod besiegt, das neue Leben, das seit 2.000 Jahren denen geschenkt ist, die an Christus glauben.
Mittlerweile kann man überall in Gemeinschaft fasten, auch viele Klöster bieten es an. Mir imponiert die Geschichte des Fastenpioniers Otto Buchinger, der im Ersten Weltkrieg auf der „S.M.S. Hertha“ durchs chinesische Meer dampfte, zum Teil als Begleiter des Kaisersohns Prinz Adalbert.
Auf Besuch beim Vizekönig von Indien, wo er auf Lord Kitchener trifft, später eine erste Begegnung mit einem fastenden Brahmanen, die ihn bewegt. Er notiert in sein Tagebuch, „dick, faul, und das Hohe schwindet. Ich muss fasten.“ Buchinger ist Goethe-Bewunderer und begreift wie dieser Ausnahmemensch das Leben als Kunstwerk, das zu gestalten ist. Pflanzen, Tiere, Menschen, alle sind auf ein „Werdeziel“ ausgerichtet, das gefunden werden muss, ausgehend von einem „Urbild“. Das ist die Eschatologie der Lebensreformer jener Zeit, die Hoffnung auf eine innerweltliche Vollendung.
Eine rheumatische Erkrankung, die ihn nahezu paralysiert, bringt ihn schließlich auf den Königsweg der Gesundung durch Fasten, das er verfeinert und weiterentwickelt.
Am Anfang steht die Entleerung und Säuberung des Darms durch Bittersalz. Tee mit Honig morgens, mittags ein Saft, abends eine leichte Suppe. Sicher: Hunger stellt sich ein. Trinken hilft. Drei Liter Wasser mindestens. Dann die Spaziergänge, die hier, oberhalb des Bodensees so reizvoll sind. Und dann, nach drei oder vier Tagen, ereignet sich das kleine körperliche Wunder: Der Hunger verschwindet, fällt ab, die Sinne schärfen sich.
Ja, da ist eine Hellsichtigkeit, die man lange nicht verspürt hat. Und tatsächlich gelingt es, mit dem Rauchen aufzuhören. Du brauchst die Kippen nicht mehr. Schließlich bist du ein neuer Mensch.