Es ist Weihnachten 2015. Deutschland beteiligt sich gerade wieder an einem Krieg. Oh weh! Was muss eigentlich noch alles passieren, dass wir Menschen uns gegenseitig mehr lieben können? Wer mag auch daran zweifeln, dass viel Hass in der Welt von Verletzungen herrührt und das einzig die Liebe hier zu einer Heilung werden kann? Die Antwort auf Terror und Gewalt darf sich nicht wieder nur in neuer Gewalt erschöpfen. Das Gute lässt sich nicht erzwingen. So führte „der Krieg gegen den Terror“ der Amerikaner schließlich nur zu noch mehr Terror und damit hängt auch die Flüchtlingswelle nach Europa zusammen. Ja, die Welt braucht wahrlich mehr Liebe.
Ich will mit ihnen, werter Leser, aber eine Reise unternehmen, die uns durch mehr als das „Land der Liebe und Barmherzigkeit“ führen wird. Denn die Welt ist eben auch böse und verdreht; es gibt Männer und Frauen, die betrügen, stehlen und morden. Es gibt eine Menge Verrückte, die von der Macht angezogen werden. Es gibt Menschen, die anderen Menschen schaden oder sie gerne ausnutzen und die darin Grenzen brauchen. Wer das nicht mehr wissen will, ist gefährlich dumm. Der Anspruch, dass die Welt mehr Liebe braucht, muss also mit dem derzeitigen Zustand der Welt und den Gefahren in ihr in ein Gleichgewicht gebracht werden. Liebe und Vernunft müssen zueinander finden. Doch genau da liegt es im Argen, denn unser Land hat sich selbst verloren.
Ich möchte einige Phänomene genauer betrachten, die dabei sind, eine Kultur zu zerstören, die sich einst selbst als „Dichter und Denker“ bezeichnete. Es geschahen zwei entsetzliche Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus den Dichtern und Denkern wurden Soldaten. Im Frieden danach wurden sie zu „Soldaten“ des Materialismus und Konsumismus. Durch das Trauma der Shoa und die Gräuel im Krieg verlor das Land – auch im missglückten, weil lieblosen Aufarbeitungsversuch der 68’er Bewegung – seine Seele und damit sich selbst. Wie kann es hier zu einem Wendepunkt kommen, dass die bösen Geister einer Vergangenheit, die sich nicht wiederholen soll, ausgetrieben würden?
Solange keine Heilung in der Seele unseres Landes geschehen ist, sind diese „Geister“ noch da. Sehe ich heute z. B. den Umgang mit Frau Petry von der AfD, einer Partei, die sich zur Zeit auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt, so sehe ich diese „Geister“. Sie sind gefährlicher als gerade „die Gefahr von Rechts“ durch z. B. PEGIDA. Denn die erste Gefahr ist in der Verfolgung Andersdenkender bereits real geworden, die zweite Gefahr ist aber immer noch eher ein an die Wand gemalter Teufel. Die erste Gefahr wird, wenn die Einsicht fehlt, aber die zweite hervorbringen. Jüngst las ich, Frau Petry würde keine Wohnung in Leipzig finden, weil potentiellen Vermietern von politischen Gegnern mit Gewalt gedroht würde, falls diese an sie vermieten. Sieht man es denn nicht? Hier gerade wiederholt sich Vergangenheit in anderem Gewand. Umso deutlicher wird dadurch auch, wie sehr eine in die Tiefe der Seele gehende Aufarbeitung deutscher Vergangenheit Not tut, eine Aufarbeitung die dieses Mal einen solchen Frieden zum Ziel hätte, dass unser Land seine Seele wieder finden kann.
Der Kampf gegen Rechts mit falschen Mitteln
Das gefährlichste am Kampf gegen einen Gegner, der das Böse darstellt ist, dass man in diesem Kampf leicht selbst so werden kann wie das, was man im Gegner bekämpfen wollte. Welche Mittel sind gegen einen bösen Gegner erlaubt? Je böser der Gegner, desto gewaltiger dürfen die gegen ihn eingesetzten Mittel sein? Wo ist die Grenze zu ziehen? Wirklich erst bei einem Hiroshima, Dresden oder dem „London Blitz“? Die Schwärze färbt ab. Das zeigt sich zuerst im Kleinen: Jüngst brannten Autos oder Geschäftsräume von Kritikerinnen des Zeitgeistes. So wurde das Auto von Frau Beatrix von Storch angesteckt und es gab einen Brandanschlag auf die Geschäftsadresse von „Demo für Alle“. Das zeigte auch das mit Steuergeldern subventionierte Theaterstück „Fear“, in dem zum Mord an mit Namen benannten andersdenkenden Personen aufgerufen wird. Das zeigte sogar das in der öffentlichen Darstellung verdrehte „KZ-Zitat“ aus einer sehr unschönen Rede bei PEGIDA.
Ist Ihnen das auch aufgefallen? Da ist etwas sehr merkwürdig im Umgang mit PEGIDA, deren Anhänger ja mehrheitlich aus der Mitte der Gesellschaft kommen sollen. PEGIDA sei gefährlich, vermutlich gerade weil in der hier vorzufindenden Konstellation rechtsextremistisches Gedankengut leicht in die Mitte der Gesellschaft getragen werden könnte. Diese Vermutung ließe mich dann auch das aufwendig organisierte und staatlich gestützte Engagement gegen PEGIDA verstehen. Dennoch bekomme ich die Puzzleteile nicht zusammen: Wer diese Bewegung so offen sichtbar dann auch mit unlauteren Methoden bekämpft, wie das in den letzten Monaten zu beobachten war, der wertet sie damit doch erst auf, der macht sie damit erst zu den Freiheitskämpfern, als die sie sich sehen. Also ist der „Kampf gegen PEGIDA“, wie er bislang zu beobachten war eigentlich doch ein Kampf für PEGIDA. Dazu kommt, dass es für einen Staat, in dem es Recht, Ordnung, Freiheit und Mitbestimmung geben soll, gefährlich ist, sich mit unlauteren Methoden seiner Gegner zu erwehren. So erodiert die Ordnung von innen her. Das ist bereits heute gefährlicher, als eine PEGIDA es je von sich aus hätte sein können.
Die Mehrheit der Leute die bei den Demonstrationen in Dresden mitmachen, sind also aus der Mitte der Gesellschaft. Sie generell zu beschimpfen, bestärkt sie nur im Eindruck bei einer wichtigen und gerechten Sache mitzumachen. Und da hat eben auch die staatliche und mediale Gewalt mit einem unfairen Umgang mitgeholfen, die Führung der Bewegung in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Da verzeiht man dem Anführer ja sogar das Hitler-Bärtchen. Doch halt, dieses war ja vom Journalisten nachträglich in sein Foto gesetzt worden … Ein anderes Beispiel: bei der Geschichte mit einem kleinen Spielzeug-Galgen aus Pappe, den ein Teilnehmer unter 20.000 bei einem „Spaziergang“ dabei hatte, fällt es schwer, das als Meinungsausdruck aller dort Beteiligten zu verstehen – es ist lächerlich, dass damit überhaupt argumentiert wurde.
Ich habe mir die Mühe gemacht, ein Interview anzuschauen, in dem der Mann mit dem Galgen seine Geschichte erzählen durfte. Was ging in ihm vor? Über diese interessante Frage standen leider keine Berichte in den Zeitungen. Es gab viel Geschrei ohne Inhalt. Im Interview wirkte der Mann nicht gefährlich, sondern eher sanft. Er hatte sehr schlechte Erfahrungen mit einer deutschen Behörde gemacht. Dieser Mann fühlte sich ausgenutzt, verraten und ohnmächtig. Einen Pappgalgen durch die Gegend zu tragen ist nicht schön, es ist aber immer noch besser, als sich durch rohe Gewalt die Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aha, so war das also: dem Mann mit seiner Geschichte wollte niemand zuhören und da ging er auf eine Demonstration, um es „denen da oben“ mal zu zeigen. Gibt es wirklich nicht bessere Gründe, die man gegen PEGIDA anführen kann?
Im Internet sind abscheuliche Veröffentlichungen zu finden von Leuten, die in den Startlöchern sitzen, ihren Hass zu verbreiten, wenn Deutschland seinen gefährlichen Sonderweg weiter so wie bislang beschreitet. Ich meine damit einen für einen gesunden Menschen unvorstellbaren Hass, vor allem gegen Juden und „die Zionisten“. Das soll man beim Kampf gegen PEGIDA, der so wenig bewirkt, was er bewirken soll, nicht verpassen. Und wenn die Entwicklung in Deutschland weiter in die ungesunde Richtung läuft, dann werden sich bald Leute ganz offen mit rechtsradikalen Ideen melden, die nicht nur „brauner Bodensatz“ sind, sondern Akteure, die zielgerichtet handeln werden. Dann wird dieser Geist die Mitte der Gesellschaft erreichen und das hatten wir wirklich schon mal in Deutschland. Das ist das eigentlich gefährliche an PEGIDA, dass sie nämlich diesen Weg bauen könnten. Das liegt aber nicht in erster Linie an dieser Bewegung selbst, sondern am Umgang mit ihr und in diesem Umgang zeigt sich eben auch, was in Deutschland wirklich aus der Vergangenheit gelernt wurde: leider sehr wenig.
Ohne die Übertreibungen und Foulspiele wäre eine Auseinandersetzung mit den Ideen der PEGIDA glaubwürdiger. Eine Rede von Frau Festerling vor gar nicht langer Zeit, in der sie das Ende des deutschen Schuldkomplexes erklärte, wäre sicherlich geeignet, sich differenziert und kritisch inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Doch es gab da keinen solchen medialen Aufruhr, wie bei dem Pappbalken. „Dieses Fass aufzumachen“ traute sich die deutsche Presse nicht. Es gab durchaus auch Richtiges in der Rede von Frau Festerling, das in einer aufgeklärten Gesellschaft offen diskutiert gehörte. Da ging es zum Beispiel um den Zusammenhang zwischen der gerade in Deutschland praktizierten Entgrenzungsideologie und einer schlecht bewältigten deutschen Vergangenheit.
Ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der deutschen Vergangenheit tut not
Die Konsequenz einer fehlenden Selbstannahme ist die (Selbst)zerstörung. Ich möchte eine Korrektur vorschlagen. Sie wäre ein Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur. So fände unser Land wieder zu sich. Es bräuchte der Welt nichts mehr zu beweisen; weder im Schlechten noch im Guten, z. B. mit der neuen deutschen Willkommenskultur als ein Vorbild wieder mal für die ganze Welt. Es bräuchte die Grandiosität nicht mehr. Bleiben wir bei meiner realistischen und praktikablen Idee. Diese Idee würde den größten Schmerz in der deutschen Kultur berühren. Darüber gibt es bereits viele Mahnmale. Ich schlage als eine Lösung ein Friedensmal in den deutsch-jüdischen Beziehungen vor. Die Bedeutung ginge über die deutsch-jüdischen Beziehungen hinaus. Es geht noch mehr um das, was sich daran festmachte.
Bereits 1998, als die Holocaust-Mahnmal-Debatte stattfand, zeigte sich in dieser Debatte, dass die Art und Weise, wie in Deutschland Vergangenheit bewältigt wird, nicht in einem psychotherapeutischen Sinn gut funktioniert. Es diskutierten Politiker, Historiker und Journalisten; allerdings keine Psychotherapeuten. Thema war aber das tiefste Trauma, um das es in der deutschen Gesellschaft gehen könnte. Ein Schmerz, eine Blockade braucht die Lösung. Das wäre ein Wendepunkt für unser Land. Die Metapher „Jerusalem“, mit der ich diesen Wendepunkt bezeichne, berührte nicht nur dieses Trauma, sondern würde auch auf die tiefste Wurzel unserer Kultur hinweisen. Die Entwicklung wieder in ein gesundes Verhältnis zur eigenen Identität wird ohne „Jerusalem“ nicht möglich sein.
Dieses unbewältigte Trauma ist vielleicht die tiefste Ursache der derzeitigen zu beobachtenden Entgrenzung und Selbstaufgabe in der deutschen Kultur. Der Zustand einer Kultur definiert sich gerade auch durch ihre gesunden Grenzen. Das Fremde zu berühren ist gesund, wenn man sich des eigenen Standpunkts bewusst ist und wenn es ein gesundes Maß gibt. Ohne den eigenen Standpunkt verliert man sich. Die derzeit offenen Grenzen in Deutschland deuten auf einen ganz Europa gefährdenden Defekt in der kollektiven Seele unseres Landes hin und gerade nicht darauf, dass nun endlich die Deutschen ihre dunkle Vergangenheit abgestreift hätten. Ich meine, unser Land hat so wenig die gesunden Grenzen, wie sie vielen Deutschen auch fehlen. So spiegelt sich hier im Zustand der Außengrenzen eines Landes eigentlich der innere Zustand seiner Bewohner.
Wir bräuchten einen anderen Umgang mit der deutschen Vergangenheit, in dem gleichermaßen ein echter Schmerz und eine heilende Liebe spürbar werden dürfen. Es soll darum gehen, die Ursachen zu heilen, warum es überhaupt zu dieser großen Katastrophe in der Vergangenheit kommen konnte. Das ist gerade kein Vergessen, sondern ein neues Wahrnehmen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin zu bauen war sinnvoll und die Gestaltung ist dem Thema angemessen und gelungen. Wozu baut man aber Mahnmale, wenn das nicht in der Folge auch zu Friedensmalen führte? Es sind die Zeichen, die sich eine Kultur setzt, die sie darin gründet und leitet, die sie also bezeichnet.
Mit dem inzwischen fertiggestellten Jerusalem Friedensmal ist nun ein solches Zeichen des Friedens entstanden. Die Einweihung in Deutschland fand am 27. September 2015 mit einer Veranstaltung im Rahmen „50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel“ statt. Mit diesem Friedensmal kommen heilsame Bilder neu in unsere Kultur. Es ist also sehr viel mehr als ein Bauwerk. Wir können nur denken, was an Bildern in unseren Vorstellungen vorhanden ist. Das Friedensmal bringt neue Bilder, in denen Liebe und Freiheit schwingen, in unsere Gesellschaft. Es braucht solche neuen Bilder und Vorstellungen, um den Weg von der Auseinandersetzung mit diesem tiefen Trauma hin zur Integration sichtbar zu machen und die Blockaden im Friedensprozess dauerhaft überwinden zu können. Das Jerusalem Friedensmal zeigt also einen Weg für unser Land, – über „Jerusalem“ – wieder zu einem gesunden Verhältnis zu sich selbst zu finden.
Die langfristigen gesellschaftlichen Folgen eines solchen Impulses können weitreichend sein. Das Friedensmal symbolisiert den Schritt aus der Auseinandersetzung mit der „dunklen deutschen Vergangenheit“ in die Integration. Mit diesem Frieden – „was aus der Vergangenheit gelernt wurde” – ist die Verantwortung für ein gesellschaftliches Engagement für Frieden und Freiheit verbunden, was Zivilcourage erfordert. Dafür soll das Jerusalem Friedensmal stehen. Damit würde es zu einem positiven identitätsstiftenden Symbol für unser Land.
Der Künstler als Philosoph
Kunst als ein Ausdruck von Bewusstsein ist geeignet, in einer Situation der Erstarrung einen Impuls in eine Gesellschaft zu geben, der neue Bewegung schafft. Das beschreibt ganz wesentlich, was die Aufgabe des Künstlers in einer Gesellschaft ausmachen kann. Leider hat sich das Bild über den Künstler in der Gesellschaft gewandelt. Er wird nicht mehr ernst genommen oder er musste zum Unterhalter werden, mit viel Schein und wenig Sein. Die eigentlich wichtige Aufgabe des Künstlers eine Kultur immer wieder zu inspirieren, ist sehr im Kommerz verloren gegangen. Eine gesunde Gesellschaft wüsste um den Wert ihrer Künstler. Sie erlaubte, dass ausreichend über Werke und neue Ideen berichtet wird, so ausreichend, wie es heute vielleicht bei Stars und Sternchen im Showbusiness üblich ist. Man stellte sich vor, wir lebten in einem Land, in dem eine echte, aus dem Geistlichen geschöpfte Kunst, auf die Titelseiten der Zeitungen finden würde. Eine gesunde Gesellschaft wüsste auch ihre Künstler vor einer Staatswillkür zu schützen. Beachtet man die eigentliche und wichtige gesellschaftliche Funktion von Künstlern, sind die Konflikte oder auch die geringe Beachtung, die sie in autoritären und totalitären Staaten in der Regel auszuhalten haben, leicht erklärbar. Kunst kann die Menschen nämlich aufwecken.
„Jerusalem“ ist mehr als ein religiöses Bild
Der Name „Jerusalem“ kann als Metapher verstanden werden, die in unserer Kultur bekannt und die im Seelischen verankert ist. Es geht nicht darum, Menschen in eine bestimmte religiöse Ideologie zu drängen und das als Rettung der Kultur zu benennen. Der Name „schwingt“, er vermittelt unterschwellig ein ganzes Gedankengebäude, auf dem unsere Kultur zu einem guten Teil errichtet wurde. Der aufgeklärte Mensch weiß, dass es in diesem Sinn keinen Unterschied zwischen religiösen Bildern und den Vorstellungen der Wissenschaft gibt: beides sind Versuche, eine Realität so zu erklären, dass es für den Menschen gerade da, wo er steht, einen Sinn ergibt. Es ist nicht „die Wirklichkeit“, sondern Modell und Erklärung. Tiefer Glaube könnte darüber hinaus noch die Ideologie einer Religion, die sich in den Vorstellungen und Bildern ausdrückt, transzendieren.
Seien wir also im womöglich postreligiösen Zeitalter offener für eine bildhaft gewordene Philosophie, die sich auch in religiösen Bildern ausdrücken darf. Wir brauchen uns nicht über einen „Untergang des Abendlandes“ zu beklagen, also darüber, dass der Geist und die Seele auch in unserem Land verloren ging, wenn sich sofort unüberwindliche Barrieren bei einem religiös aufgeladenen Wort bildeten. Dieses Abendland war ein christliches. Ohne diese religiösen Vorstellungen hätte es auch nicht die entsprechende kulturelle Entwicklung gegeben. Auch die Aufklärung fand nicht in einer nihilistisch geprägten Kultur statt, sondern auf dem Wertefundament einer christlich gefestigten Kultur.
Über die gesunden Grenzen, ein Zaun als Gleichnis
Dies ist eine Geschichte darüber, wie das Jerusalem Friedensmal seinen Namen und seine Form fand. Diese Geschichte hat deshalb etwas von Weihnachten, weil sie zeigt, wie ineinander verwoben in Wirklichkeit Welt und Geist sind; welcher Zauber dem Leben innewohnt. Diese Geschichte wurde vom Leben sogar selbst geschrieben und kann als ein Gleichnis zum Thema „gesunde Grenzen“ verstanden werden. Es ist auch schon komisch, dass das Leben diese Geschichte genau so schrieb, dass sie gerade zur Situation in unserem Land passt. Das gibt zu denken. Vielleicht ist der rein materialistische Standpunkt nicht entwickelter, als es das religiöse Dogma im tiefsten Mittelalter war.
Beinahe hätte es kein Jerusalem Friedensmal gegeben. Die Kreisbehörde hatte nämlich durch eine Ausnahmegenehmigung im Jahr 2012 den Bau eines Zauns in direkter Nachbarschaft des Standorts genehmigt. Diese Maßnahme verkehrte die beabsichtigte künstlerische Aussage des Denkmals allerdings in ihr Gegenteil: Das Friedensmal stellt einen durchbrochenen Teufelskreis dar – doch der Durchbruch in die Freiheit war genau an jener Stelle geplant, wo nun neu ein Zaun entstehen würde. So hätte die künstlerische Aussage aber keinen Sinn mehr gemacht.
Statt das Projekt aufzugeben, wurde das Friedensmal schließlich anders als geplant gebaut. So konnte es der neuen Umgebung wieder gerecht werden und dem Gesamtwerk war wieder ein Sinn gegeben. Das war eben schon ein sehr merkwürdiger Zufall: wie wahrscheinlich ist es, dass man ein privat finanziertes Friedensmal genehmigt bekommt, das ganz wesentlich Freiheit und Offenheit repräsentiert und dann wenig später davor aber aber ein Zaun in der freien Landschaft genehmigt wird, der als Symbol die inhaltliche Aussage des Denkmals gleich wieder in Frage stellt? Ja, das war wirklich ein Zufall, denn bei der Behörde wurde mir gesagt, dass man das Friedensmal einfach vergessen hatte.
Man kann das nun auch als ein Gleichnis für die heutige Zeit sehen: Das Friedensmal musste so verändert werden, dass der Zaun zu einem Teil seiner originären Aussage wurde. Zunächst wurden 21 große Gedenksteine weniger errichtet als eigentlich genehmigt, um wieder den notwendigen Freiraum zu erhalten. Das könnte bedeuten, dass auch erst noch „Seelensteine“ ausgeräumt werden müssen, dass unser Land in der Lage ist, gesunde Grenzen zu definieren. Darüber hinaus wurden mit weißen Kieselsteinen durch Böschungen gebildete „Engelsflügel“ an den Seiten des Denkmals betont. Damit wurde aus dem zunächst störenden Element „Zaun“ ein visuell schützender Rahmen für das Friedensmal im Landschaftsbild. Wieder auf das Leben übertragen: „Engelsflügel“ aus Kieselsteinen sind keine starre Grenze, sondern fordern die Achtung eigener Grenzen ein, indem zuvorderst an das Gute im Menschen und seine Verantwortung appelliert wird. Die erste gesunde Grenze ist so der gute und vor allem ehrliche Umgang miteinander. So macht man keine Versprechungen, die nicht haltbar sind; weder als ein lautes Willkommen, hinter dem nicht die Mehrheit der Deutschen steht, noch als ein „wir schaffen das“, ohne konkrete Vorstellung, wie das dann danach ausschaut.
Um den Zaun auch inhaltlich in die Botschaft des Friedensmals zu integrieren, wurde zusätzlich ein einzelner Jerusalem-Stein, der für den äußeren Frieden steht, am Rande der Anlage gesetzt. Dort führt der Europäische Fernwanderweg E8 am Friedensmal vorbei. Der Jerusalem-Stein wurde direkt gegenüber des neu entstandenen Zauns errichtet und spricht inhaltlich in positiver Weise das Thema „gesunde Grenzen“ an. Das Thema, das heute mit der Flüchtlingskrise zu diskutieren ist.
Friedensmal und Zaun – es braucht in allem ein Ausgleich und ein gesundes Maß. Der Ausgleich zwischen Kopf und Herz ist zu suchen. Es darf trotz des guten Gedankens der Völkerverständigung keine Entgrenzung geben. Grenzen sind zu kontrollieren. Wer das nicht tut, ist schlicht verrückt. Die Geschichte mit dem Zaun und dem Friedensmal, die das echte Leben schrieb, zielte darauf zu zeigen, wie sehr Frieden und gesunde Grenzen miteinander zu tun haben. Frieden braucht gesunde Grenzen. Liebe braucht Vernunft. Kopf und Herz brauchen sich gegenseitig. Es soll eine Sichtweise aus einer gesunden Mitte sein. Die Alternative dazu ist radikal. Das sollten auch diejenigen wissen, welche Ansätze wie das Jerusalem Friedensmal ausgrenzen, weil es nicht in ihre Ideologie des Freiseins ohne Grenzen und Wurzeln passt. Das aber ist vor allem wohl ein Freisein von Vernunft.
Heilung tiefer Wunden
„Jerusalem“ ist mehr als eine religiöse Ideologie; es bezeichnet eine Idee des Lebens. Diese ist wie die Hoffnung, aus einem dunklen Traum aufzuwachen und sich in einer Welt wiederzufinden, in der Menschen sich nah sind und in aller Aufrichtigkeit berühren. Das beginnt in den Worten, die wir sprechen. Doch diese Nähe, in die jeder seine Schönheit einbringen mag, ist ohne gesunde Grenzen nicht möglich. Wir würden uns verlieren.
Ohne Abgrenzung ist Leben nicht möglich. Zäune und Grenzen errichten wir, um Werte und die Verschiedenartigkeit von Vorstellungen und Strukturen zu schützen. Materie selbst ist Struktur, also Begrenzung. Je durchgeistigter eine Kultur, je mehr die gesunden Grenzen und die Werte im Innern verwirklicht sind, desto mehr können tatsächlich auch die äußeren Zäune innerhalb dieser Kultur fallen. Es bleibt die natürliche Abgrenzung nach außen. Die völlige Entgrenzung ist kein kultureller Fortschritt, sondern ein Krankheitsbild. Darin wird deutlich, wie sehr eine Bewältigung von Vergangenheit Not tut, die in den Frieden führt; so wie es dem Ansatz des Jerusalem Friedensmals entspricht. So geht es auch nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen für die Vergangenheit. Sie ist immer Gleichnis für die Gegenwart. Vergangenheit will sich wiederholen, bis sie verstanden wurde; allerdings immer anders, um das alte Muster immer wieder neu zu erkennen.
Ein „himmlisches Jerusalem auf Erden“ ließe sich auch nicht durch das Einreißen von Zäunen erzwingen. In dieser Vorstellung liegt nicht Frieden und Menschlichkeit, sondern ideologische Verblendung und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem, was Zäune und Grenzen schützen. Die Folge davon sind noch mehr Streit und Krieg. Es gibt einen friedlichen Weg, Grenzen zu überwinden. Dieser beginnt bei uns selbst. Der Friedensweg ins eigene Innere führte wieder nach außen in die Verantwortung in der Welt. Menschen, die so klar und mit sich im reinen sind, öffnen die Welt.
Was ist also aus unserer deutschen Vergangenheit zu lernen, das heute zu leben ist, dass es einer lichteren Zukunft Weg gibt? Was konkret bedeutet es, Verantwortung dafür zu übernehmen? Wieder Hass, das meint auch Selbsthass, ist keine Antwort auf diese dunkle Vergangenheit. Ein kollektives Schuldgefühl ist es auch nicht. Weltoffenheit im Sinne eines Austauschs miteinander über Grenzen hinweg und eine Verantwortung zur Freiheit können aber tragfähige Antworten für die deutsche Gesellschaft heute sein. Auf dem Jerusalem-Stein gegenüber des Zauns ist zu lesen „Yerushalayim, dass wir unseren Halt nicht hinter Zäunen der Ideologie suchen“. In Deutschland wurden in der jüngeren Geschichte schlimme Erfahrungen mit der Gefangennahme in Ideologien gemacht. Freiheit bedeutet aber zu allererst, in der Lage zu sein, frei denken zu können; es zu wagen, jegliche Ideologie zu hinterfragen. Dafür braucht es den Mut, in anderen Bahnen zu denken, Mut zum Ausdruck und es braucht den freien Austausch von Meinungen.
Aus Verantwortung zur Freiheit
Das Jerusalem Friedensmal ist mit dem Leben heute verbunden: „Kann man diese Vergangenheit nicht endlich mal ruhen lassen? Es war sehr schlimm aber es ist schon lange vorbei“, war ein Kommentar auf Facebook zu diesem Projekt. Zu leben bedeutet, einen Weg zu gehen. Er reicht von der Vergangenheit in die Zukunft. Faschismus und Krieg, die viele Millionen an Toten brachten, gehören zur deutschen Geschichte. Diese Erfahrung ist zu einem Teil der kollektiven Identität der Deutschen geworden. Statt wegzuschauen geht es vielmehr darum, in einer Liebe hinzuschauen, welche die tiefen Wunden in den Beziehungen, aber auch im eigenen Selbstwertgefühl der Deutschen heilen kann. Erst dann wird sich diese Vergangenheit auch in anderem Gewand nicht wiederholen.
Ich bin gerade in Tel Aviv, sitze in einer Bar am Strand und schaue auf den Sonnenuntergang hinter Jaffa. Vielleicht lässt sich ein Artikel über das eigene Land besser schreiben, wenn man von außen auf es blicken kann. Ich habe viel mit Israelis über die derzeitigen Geschehnisse in Deutschland gesprochen. Man versteht die Deutschen nicht, versteht ihre Naivität nicht, dass sie ihre Grenzen nicht mehr kontrollieren wollen. Mir ist hier bislang kein junger Israeli begegnet, der oder die noch nicht in Deutschland war. Man empfindet die Deutschen als nett und freundlich. In Israel ist man oftmals etwas rauher. Aber man ist hier offen und ehrlich miteinander und scheut nicht die Konfrontation. Die Menschen in Israel haben sehr viel besser entwickelte Grenzen im Umgang miteinander. In Israel gibt es eine Kultur der Konfrontation. Der andere muss nicht die gleiche Meinung haben, damit er ein guter Mensch sein darf. In Deutschland wird so oft sanktioniert, wer sich nicht anpasst. Der Mut des anders Denkenden, anders Redenden und anders Handelnden wird bestraft. Ich weiß, wie viele Menschen im privaten Umfeld von mir die Flüchtlingspolitik der Regierung stark kritisieren, aber öffentlich – sogar in Reden – das Gegenteil von dem sagen, was sie wirklich denken. Es sind diese Lügen, es ist diese Heuchelei in der deutschen Gesellschaft, warum andere Länder Deutschland zu Recht misstrauen.
Das zeigt gerade keine Wehrhaftigkeit gegenüber Bewegungen, wie sie die Nationalsozialisten in der Weimarer Republik darstellten. Ist es so falsch, die Frage, „warum Hitler Deutschland passieren konnte“ auch damit zu beantworten, dass es in der deutschen Kultur die für eine Demokratie eigentlich notwendige Konfrontationsfähigkeit nicht im genügenden Maße gibt, weil zu viele Deutsche die gesunden Grenzen im Miteinander selbst nicht haben? Und so zieht man dann also lieber gemeinsam im geheuchelten Konsens Richtung Untergang, als womöglich alleine mit einer unrichtigen Meinung dazustehen, für die man sich zu schämen hätte? Die Diskussion um Zäune zeigt so viel.
Frieden beginnt im Innern, dann beginnt er im Außen seinen Raum zu nehmen. Frieden ist ohne gesunde eigene Grenzen nicht möglich. Die derzeit zu beobachtende Entgrenzungsideologie in Deutschland ist ein Symptom einer tieferen Ursache. Eine Gesellschaft kann nur dann gesunde Grenzen haben, wenn genügend der Menschen, die sie ausmachen, diese Grenzen selbst in sich haben. So aktuell ist also das Thema mit der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit immer noch. Es wird aktuell bleiben, bis die richtigen Dinge aus dieser Vergangenheit gelernt wurden. Oder auch nicht: Viel Zeit dazu bleibt nicht mehr. Der Lauf der Dinge ist, dass dekadente Kulturen vergehen und auf deren Trümmern neue Kulturen entstehen.
Vielleicht sollten die Deutschen besser Hilfe bei Freunden suchen. Wir feierten dieses Jahr „50 Jahre Beziehungen zwischen Deutschland und Israel“. Es war ein Zeichen der Freundschaft. Freunde helfen sich gegenseitig. Alleine sieht man seine eigenen blinden Flecken nicht. So wie die Deutschen den Israelis schon so manchen (unwillkommenen) Ratschlag bezüglich ihrer Palästinenserpolitik gaben, so könnten die Israelis heute die Deutschen über die möglichen Folgen aufklären, wenn man seine eigenen Grenzen nicht mehr schützt. Israel kennt sich aus bei diesem Thema.
Die derzeitige politische Situation zeigt uns auch, dass die Demokratie in Deutschland sehr viel breiter aufgestellt sein müsste. Unsere Regierung sollte sehr viel mehr Vertrauen in die Bürger haben und einen selbstkritischeren Umgang mit sich selbst pflegen. Im Jahr 2002 wurde der erste Entwurf in den Bundestag eingebracht, Elemente der direkten Demokratie einzuführen. Das Land war reif dafür. Es wurde aber von der CDU strikt abgelehnt. Heute fehlt uns dieses notwendige Korrektiv für eine immer selbstherrlicher werdende politische Klasse, die sich im hochsubventionierten Berlin ungesund weit von der Realität entfernt hat.
In gewisser Weise ist das ganze Projekt vom Friedensmal in einer Ausgleichsbewegung dazu entstanden. Denn das aus privatem bürgerschaftlichem Engagement entstandene Projekt ist tatsächlich in dem, was es ausdrückt, ein demokratischer Vorschlag, über dessen Annahme die ganze Gesellschaft entscheidet. So in dieser Form dürfte das wohl von Behördenseite noch nie gesehen worden sein. Das Jerusalem Friedensmal kann also bei einem essentiellen Thema unseres Landes tatsächlich ein notwendiges Korrektiv darstellen. Es muss nur als solches wahrgenommen werden.
Bilder: http://friedensmal.de/