Der Islamismus ist das totalitäre Projekt des 21. Jahrhunderts, und unter der Flagge der Diversität fördert der Westen diesen neuen Totalitarismus. Aber eine totalitäre Kultur ist ja auch nur eine von vielen und hat dieselben Rechte wie alle anderen, oder nicht?
Das multikulturelle Konzept ist die Übertragung des Prinzips der Individualität auf Gruppen, die ethnisch, religiös oder sexuell verschieden sind. Sie sollen alle Freiheiten genießen, aber die Freiheit anderer nicht verletzen. Unausgesprochen sollen sie sich also auf dem Boden des liberal-europäischen Gesellschaftsvertrags bewegen. Es ist nicht sicher, ob alle diese unausgesprochene Botschaft verstanden haben. Bestimmte muslimische Studenten an den Universitäten Dortmund und Essen-Duisburg vermutlich nicht. Für sie war es selbstverständlich, dass ein Raum, den alle zur spirituellen Einkehr nutzen sollten, den Muslimen gehört (Dortmund) bzw. dass Muslime selbstverständlich auch das Umfeld eines ihnen zugestandenen Raumes kontrollierten und den Ungläubigen beispielsweise zu bestimmten Zeiten das Betreten eines Fahrstuhls untersagten (Duisburg-Essen). In Anbetracht solcher Entwicklungen ist es auch nicht sicher, ob der Staat sich die grundsätzlich unparteiische Haltung, die mit dem Multikulturalismus verknüpft ist, noch länger leisten kann, ohne seine Kernbürgerschaft in Bedrängnis zu bringen.
Die Gruppe ist kein Individuum
„Anderssein“ ist nichts Neues. Es ist eine Binsenweisheit, dass kein Individuum den anderen gleicht, weder physisch noch psychisch. Jetzt ist der Akteur jedoch nicht mehr der Einzelne, sondern die Gruppe, die sogenannte „Kultur“. Und nun kann der Einzelne zwar „anders“ sein, aber niemals anders als seine Gruppe. Das ist in diesem Denkmodell nicht vorgesehen. Eine Person muss nun die Erwartungen erfüllen, die an ihre Gruppe gestellt werden. Tut sie dies nicht, läuft sie Gefahr, nicht nur von der eigenen, sondern auch von der fremden Gruppe als Abweichler betrachtet zu werden. Weiterentwicklung ist so nur in einem zugewiesenen kulturellen Rahmen möglich. Damit bringt sich die westliche Gesellschaft selbst in eine Gegenposition zum eigenen Selbstverständnis als Garantin der individuellen Autonomie. Die Leistung des modernen Menschen liegt gerade in der Überwindung der Gruppenidentität zugunsten der Individualität.
Hier gab es immer auch Rückständigkeit. In den 50erJahren traf man in Deutschland auf das Stereotyp des katholischen Mädchens vom Lande, dessen Lebenschancen als gering galten. Das Milieu förderte keine schulischen Ambitionen, keine außerschulischen geistigen oder künstlerischen Interessen und erst recht keine akademische Bildung für Mädchen. Der katholischen Arbeitertochter in der Stadt ging es nicht viel besser. Auch für Jungen waren die Zukunftsaussichten begrenzt, denn die Kirche unterstützte noch lange die Bildungsfeindlichkeit ihrer Schafe und nutzte sie aus, indem sie die intelligentesten Jungen abwarb und zu Priestern ausbildete. Mädchen blieb dieser Weg natürlich versperrt.
Später in den 70er-Jahren hatte das Thema der unterprivilegierten Arbeiterkinder, nicht nur der katholischen, in der sozialwissenschaftlichen Forschung Konjunktur. Zahlreiche Publikationen befassten sich damals mit der drängenden Frage, ob der Aufstieg nur kollektiv vonstatten gehen dürfe oder ob es erlaubt sei, dass einzelne Arbeiterkinder, auch Töchter, den Marsch durch die Bildungsorganisationen antreten sollten, ausgerüstet mit staatlichen Stipendien und der Gefahr entgegensehend, sich ihrer Klasse zu entfremden. Vornehmlich linke Wissenschaftler positionierten sich gemäß der reinen Lehre des Vorrangs kollektiver Interessen gegen den individuellen Aufstieg durch Bildung. Trotzdem konnten einige – allerdings viel zu wenige – Arbeiterkinder einen Universitätsabschluss machen, dabei oft belastet von Schuldgefühlen, ihre Herkunftsgruppe verraten zu haben.
Die Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft zerbröselte später jedoch nicht durch abtrünnige Aufsteiger, sondern durch technologische Umwälzungen im Produktionsprozess. Faktisch haben die Wissenschaftler, die eigentlich die Emanzipation der Arbeiterklasse wollten, nichts bewirkt, außer sich selbst eine Hochschullaufbahn zu erschreiben. Was das katholische Mädchen vom Lande betraf, standen diese Wissenschaftler objektiv als Verbündete an der Seite der Kirche und der bildungsfernen Eltern, auch wenn sie diese Allianz heftig abgestritten hätten.
In der Postmoderne steht das Kollektiv wieder über dem Individuum: im Gewande von Diversität
Diese historische Erfahrung ist in Vergessenheit geraten. Katholische Schulen sind heute Refugien der Bildungsbereitschaft. Die Religion der Bildungsfeindlichkeit ist jetzt der Islam. Deutschland und Europa erleben seit Jahrzehnten eine Massenimmigration von Menschen, die bereits in ihren Herkunftsländern zur Unterschicht gehörten und im Aufnahmeland bisher zu wenig Anstalten machen, ihren Status zu verbessern. Ungebildete muslimische Eltern halten, wie früher die katholischen, ihre Kinder im Milieu fest. Aus Angst vor Entfremdung und zusätzlich vor dem Einsickern westlicher Einstellungen schotten sie sich ab. Das Konzept der „Identität“ nickt dieses Verhalten ab. Das neue Kollektiv ist heute die Kultur.
Das Denken in Kollektiven stellt immer noch eine wichtige Kraft im gesellschaftlichen Diskurs dar. Es beherrscht inzwischen den politischen Mainstream. Unter der Maßgabe von „Diversität“ ist es fragmentierter denn je. Das Denken bewegt sich jetzt nicht mehr zwischen zwei Klassen, sondern führt in Schlangenlinien um unzählige kulturelle Milieus, die alle in ihrer selbstdefinierten „Identität“ ernst genommen und „respektiert“ werden wollen. Das islamische Milieu ist davon eins der größten und anspruchsvollsten.
Islam ist grundsätzlich gruppenbezogenes Denken. Der Islam hat die fortschrittlichste Fähigkeit des Menschen, nämlich den Wert aller Menschen zu erkennen, noch nicht erreicht. Er erlaubt keine „desinteressierte Intelligenz“ (Hannah Arendt), d.h. keine reflektierte Distanziertheit und freie Identitätswahl. Der Einzelne ist auf die Gruppe festgelegt. Er darf keine andere Perspektive einnehmen als die des Gruppeninteresses. Diese Einstellung wird durch Diversität legitimiert. In der Postmoderne besteht ein Trend, die Kollektivfreiheit wieder höher zu bewerten als die Freiheit des Individuums. Dies spielt dem Bestreben interessierter Muslime, dem Islam ein Sondergruppenrecht zu erstreiten, in die Hände. Dieses Interesse läuft darauf hinaus, den Islam von jeder Kritik freizuhalten und selbst definieren zu können, was als Kritik (als sog. Islamophobie) zu gelten hat. Die eigene Gruppenidentität wird sehr sensibel gepflegt, während man gegen andere durchaus robust vorgeht. Am schönsten wäre es, die Mehrheit würde einen Regierungschef aus der islamischen Minderheit wählen, weil nur dieser die Rechte der Mehrheit und anderer Minderheiten gegen die eigene Minderheit durchsetzen dürfte und könnte.
Ironischerweise steht der Begriff der Diversität, der das Credo der Postmoderne darstellt und unter dessen Regie Muslime integriert werden sollen, in diametralem Gegensatz zum islamischen Prinzip des Tauhid. Tauhid ist zunächst ein theologischer Terminus, der die Einheit Gottes bezeichnet (im Gegensatz zur Dreifaltigkeit im Christentum). Er kann aber auch ein islamistischer Kampfbegriff sein, den sich z.B. eine Terrororganisation zum Namen gegeben hat. Hier kommen wir auch der letztlichen Bedeutung des Wortes näher: Vereinheitlichung.
Die Idee der universellen Menschenrechte ist eine Säkularisierung der universellen Religion. Der Islam als der Gegen-Universalismus muss nicht erst wegen des säkularen Charakters dagegen Position beziehen, sondern schon wegen des universellen Anspruchs. Er tut dies aber nicht im Sinne von Diversität oder Relativität wie westliche Kritiker des Universalismus, sondern er erklärt stattdessen die islamischen Menschenrechte für universell.
Weil Westler an Pluralismus und neuerdings an Multikulturalismus gewöhnt sind, setzen sie auch bei anderen Kulturen eine ähnliche Orientierung voraus. Das ist manchmal ein Irrtum. Islamische Regimes kennen nur die eigene Sicht der Dinge und vertreten einen aggressiven Kulturalismus. Die herrschende Meinung des Islams relativiert sich selbst niemals als einen Glauben unter vielen und konzediert niemals, dass andere Glaubensgrundsätze auch wahr sein könnten. Dies widerspricht fundamental dem universalistischen Charakter dieser Lehre.
Vorsicht Kulturrelativismus
Moderne Menschen, die kulturrelativistisch denken, meinen, dass Religiosität und Nicht-Religiosität gleich sind. Wenn sie selbst nicht religiös sind, halten sie Religiosität bei anderen doch für unbedingt akzeptabel. Die Betonung liegt auf „unbedingt“. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass religiöse Menschen nicht immer auch relativistisch denken, vor allem nicht solche, für die der Islam an erster Stelle steht. Diese betrachten Nicht-Religiöse in der Regel nicht als gleich und auch nicht als gleichberechtigt. Die großzügige und oft auch etwas gönnerhafte Toleranz wird nicht erwidert, aber gern angenommen oder sogar eingefordert. Man weiß, welche Rechte man in einer Gesellschaft mit Religionsfreiheit hat und welche man sich herausnehmen kann. Muslime sind keine Mündel. Diesen Status haben im Islam ganz im Gegenteil die Nichtmuslime.
Multikulti zu kritisieren, ruft bei dessen Anhängern ähnliche psychische Zustände hervor wie Religionskritik bei Gläubigen: Schock, Unwohlsein, Nicht-Wahrhaben-Wollen, Aggression. Es gehört aber zum Prozess der Reife, eine Kultur zu verstehen, ohne ihr bedingungslos anzugehören oder sie bedingungslos zu akzeptieren. Die Möglichkeit zur Distanzierung muss immer gegeben sein. So wie sich heute Westler von der westlichen Kultur abgrenzen können, müssen sich auch Muslime von der muslimischen Kultur abgrenzen dürfen.
Intelligenz oder ein scharfer Intellekt können zum Problem werden, wenn die Gruppe mehr als Mittelmäßigkeit nicht zulässt. Das Ausscheren aus einer Gesinnungsgemeinschaft mit vernünftigen Argumenten ist der Supergau. Der Islam fürchtet sich davor zu Tode, deshalb verhängt er die Todesstrafe. Wieder stellt sich die Frage: Ist es dem Individuum erlaubt, die Gruppe zu verlassen, oder muss es auf jeden Fall und um jeden Preis loyal bleiben? Die grundsätzliche Antwort aus westlich-liberaler Sicht lautet: Das Individuum hat Vorrang vor der Gruppe. Es ist völlig legitim, sich aus beengenden Bindungen zu lösen und seinen eigenen Weg zu gehen. Dies ist eine Leistung, der Anerkennung gebührt.
Diversität allerdings fördert nicht das Individuum, sondern den Tribalismus. Im Extremfall ist Diversität Neo-Rassismus. Alter Inhalt in neuer Verpackung. Die neue Verpackung ist die „Kultur“, die allumfassend verstanden wird, da sie auch Moral und Recht einschließt. Wenn eine muslimische Frau, die ihren Mann anzeigt, weil er sie schlägt, von einer deutschen Richterin auf die islamische Kultur verwiesen wird, in der dies doch üblich sei, macht Diversität rechtlos.
Die Annahme, dass jede Ethnie (früher: Volk) eine eigene Moral hätte, ist völkisches Denken. Kultur muss von Moral und Recht getrennt werden. Unterschiedliche Essgewohnheiten sind nicht gleichwertig mit unterschiedlichen Rechts- und Moralvorstellungen. Ebenso dürfen bloße Konventionen nicht religiös überhöht werden. Der Handschlag eines Mannes mit einer Frau gehört in den Bereich der Konventionen.
Den Islam in die westliche Welt hinein zu holen, muss bedeuten, an ihn dieselben Standards der Kritik und der Beobachtung anzulegen wie an die eigenen Religionen und Ideologien. Der Kulturrelativismus ist dann passé. Soll eine Kultur Teil eines Ganzen, also integriert werden, so muss sie, auch wenn sie anders ist, nach heterogenen Maßstäben kritisierbar sein. Sie wird ein Teil des Eigenen, des wissenschaftlich-rationalen Komplexes und steht dann unter dem Gebot des permanenten Zweifels und der Infragestellung. Wer den kulturellen Unterschied betont, muss sich auch mit diesen Unterschieden befassen.
Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.