Der Freiheitsindex Deutschland des John Stuart Mill Instituts hat noch vor der Bundestagswahl ermittelt, dass sich die populistisch aufgeladene Stimmung in der Bevölkerung nach Finanzkrise, europäischer Schuldenkrise und Migrationskrise wieder etwas normalisiert hat. Davon hatte vor allem die AfD profitiert. Die gesellschaftliche Wertschätzung der Freiheit ist in Deutschland deutlich gestiegen und das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie wieder stabiler geworden.
Doch die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Akteure der politi-schen Klasse ist groß. Eine deutliche Mehrheit wünscht sich, dass Politiker den Volkswillen unmittelbar umsetzen.
Vertrauen in die Politiker verloren
Diese Zweifel an der Bereitschaft der Politiker, den Wählern zu dienen und die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, sind nicht nur an den linken und rechten Rändern der Gesellschaft ausgeprägt. Misstrauen und Skepsis gegenüber dem politischen Führungspersonal reichen weit hinein in die bürgerliche Mitte. 43 Prozent der Bürger unterstellen, Politiker dienten nicht dem Allgemeinwohl, sondern verfolgten eigene, Partei-, Wirtschafts- oder Lobbygruppen-Interessen.
Der Argwohn gegenüber den Volksvertretern ist so groß, dass nur 25 Prozent der Bürger glauben, die Abgeordneten wüssten über die Sorgen der Bevölkerung und das, was sie bewegt, Bescheid. Dieser beunruhigende Befund ist nicht einfach wegzuschieben mit dem Argument, es handele sich um populistische Neigungen der Bürger.
Denn die Kluft zwischen Bevölkerung und politischer Klasse ist tatsächlich groß. Und das mangelnde Vertrauen der Bürger in die Leistungseliten von Politik, Wirtschaft und Medien beobachten wir auch in den europäischen Nachbarländern und den USA.
In Frankreich wurde die alte politische Klasse gerade abgewählt – ein Modell für andere Länder?
Langjährige großkoalitionäre Konsenspolitik hierzulande und die Vermeidung von Konflikten behindern offensichtlich nicht nur einen lebendigen, sichtbaren, politischen Willensbildungsprozess über alternative Wege. Eine derartige Politik schürt geradezu das Misstrauen in die politischen Akteure. Interessante Debatten, in denen der Bundestag tatsächlich zur Bühne lebendiger politischer Auseinandersetzung wird, finden nur statt, wenn der Fraktionszwang aufgehoben ist. Große Koalitionen untergraben auf Dauer die Demokratie und den politischen Wettbewerb und bedienen die Politikverdrossenheit.
In Frankreich wurde die alte politische Klasse gerade abgewählt. Die Bürger verlangten nach neuen politischen Akteuren und schickten die alten in die Wüste. Gewonnen haben die Kandidaten eines unkonventionellen und intellektuellen Präsidenten, die zur Hälfte Politprofis und zur anderen Hälfte eigenwillige, herausragende Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft sind. Auf diese Weise kann man also erfolgreich dem europaweiten Misstrauen in das alte politische Führungspersonal begegnen.
Auch in seinem Kabinett versammelt Emmanuel Macron eine Vielzahl kluger Köpfe und Quereinsteiger, denen eine liberale, offene Gesellschaft am Herzen liegt und die etwas Neues wagen. Beherzt und schwungvoll geht diese Equipe an die bitter notwendigen Reformvorhaben, um das Land wieder besser aufzustellen.
Mut zu neuen Gesichtern
Ein Experiment, von dem wir Deutschen lernen sollten. Mit dem Mut zu neuen Gesichtern und Gebräuchen, die die Politik wieder attraktiv machen, für die Politiker ebenso wie für die Bürger. Anregung vom Nachbarn ist da gar nicht schlecht. Auch wenn Deutschland wesentlich besser dasteht, würden dem Land Reformen für mehr Freiheit, Wohlstand und Chancengerechtigkeit guttun.
Wir brauchen zum Beispiel endlich eine effektive Bildungspolitik, die wieder die Humboldtsche Bildung zur Persönlichkeit gegenüber misslungenen Bologna-Reformen stark macht, zentralisiert, wo nötig, und Lehrer in die Schulen holt.
Wir brauchen steuerliche Entlastungen der Bürger zugunsten ihrer Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung. Mit einem flexiblen Renteneintrittsalter könnten wir für alle mehr Handlungsspielräume eröffnen und auf wechselnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedarf besser reagieren.
Den weltweiten Flüchtlingsbewegungen müssen wir mit einem Einwanderungsgesetz und der klaren Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten, Asylbewerbern und temporären Bürgerkriegsflüchtlingen begegnen. Eine Intensivierung der Zusammenarbeit der nationalen, europäischen und internationalen Sicherheitsdienste ist nötig, um der anhaltenden Terrorgefahr und dem Krieg gegen unseren westlichen Lebensstil die Stirn zu bieten.
Vielfalt gegen den Einheitsstaat
Europa muss sich angesichts der unberechenbaren Politik in Washington und des Brexit neu zusammenfinden, auf geopolitischer, vor allem auf sicherheitspolitischer Ebene nach außen und innen, seine Grenzen sichern und seine Verteidigungsausgaben deutlich steigern.
Der europäische Einigungsprozess, begleitet von Uniformierung, Bürokratisierung und Regulierungswahn, hat große Skepsis erzeugt. Die neue Situation zwingt uns zu mehr Zusammenhalt und politischer Koordination.
Doch weitere Integrationsschritte können nur gelingen, wenn sie demokratisch legitimiert sind und einen Bund souveräner Staaten stärken – und die Bürger an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Statt im zu weilen blinden Galopp die Integration zu vertiefen, sind eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und eine Rückbesinnung auf nationale Eigenverantwortlichkeiten nötig. Um der Freiheit und um Europas willen müssen wir die Mannigfaltigkeit der nationalen Kulturen, die „Vielfalt der Wege“ (John Stuart Mill), gegen einen hinter dem Rücken der Bürger entstehenden Einheitsstaat stark machen!
Gegen Politikverdrossenheit hilft nur die Stärkung demokratischer Institutionen: an vorderster Stelle die Durchsetzung des Rechtsstaats und eine Aufwertung der nationalen Parlamente gegenüber einem zentralistischen Europa. Sie sollen wieder tatsächliche Foren der politischen Auseinandersetzung und Selbstverständigung werden, um der Gefahr zu begegnen, dass Politik in Fachausschüssen und großkoalitio nären Mauscheleien unsichtbar wird.
Wichtig bleibt die politische und gesellschaftliche Selbstverständigung der Gesellschaft darüber, was uns zu sammenhält, was nicht verhandelbar ist und wie wir den neuen Herausforderungen begegnen können – ohne Denkverbote. Im Gehäuse einer wehrhaften Demokratie, die die Freiheit ihrer Bürger gegenüber den Feinden der Freiheit schützt.
Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Freie Autorin („Die Welt“, „FAZ“, „SZ“, „taz“, „Frankfurter Rundschau“), Verfasserin vieler Rundfunkbeiträge. Sie gründete und leitet das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung.
Dieser Beitrag ist in Tichys Einblick 11/2017 erschienen.