Jeder Jahreswechsel lädt uns ein, kurz innezuhalten, um über das Phänomen Zeit und Vergänglichkeit nachzudenken. Im 13. Buch seiner „Confessiones“ bemühte sich der hl. Augustinus diesem überaus schwierigen Thema beizukommen. Die Definition der Zeit als Masse der Bewegung von Gegenständen im Raum, die uns Aristoteles gegeben hat, ist sicher nützlich für die Physik. Insofern wir leibliche Wesen sind, trifft diese Beschreibung auch auf den menschlichen Körper zu. Aber wir sind auch ein verleiblichter Geist mit einer denkenden Seele und einen relativ freien Willen. Insofern betrifft uns die Zeit auch innerlich in dem Erleben des Vergehenden, in der Erfahrung des Reifens und Verblühens des Lebendigen und in der theoretischen Reflexion über die Kontingenz alles endlich Seienden.
Metaphysisch gedeutet haben die alten griechischen Philosophen das Sein in der Zeit mit der Idee einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, die auch Nietzsche in seinem antichristlichen Ressentiment wieder ins Spiel gebracht hat. Dem steht die jüdisch-christliche Auffassung von der Schöpfung der Welt entgegen, wobei Zeit und Raum nur Koeffizienten des durch das Wort (den Logos) Gottes Gewordenen bilden. Da Gott Ursprung und Ziel des auf ihn hin geschaffenen Menschen ist, werden Raum und Zeit nicht mehr als der erbarmungslose Rhythmus des Werdens und Vergehens oder des blinden Naturgesetzes von Stirb und Werde gefürchtet, sondern als vergebene Möglichkeiten der Entfaltung und Vollendung der menschlichen Person in der Liebe zu Gott und zum Nächsten und zur Annahme seiner selbst als Sohn und Tochter Gottes in Jesus Christus, seinem Sohn, der die Mitte der Zeit darstellt oder der der Zeit ihr Zentrum gegeben hat in seiner Person.
Man spricht darum auch von einer linearen Geschichtsauffassung im Christentum, die anstelle des zyklischen Weltbildes im Mythos und der antiken Kosmos-Philosophie getreten ist. Noch im modernen Fortschrittsdenken ist in säkularisierter Weise der Gedanke der sittlichen Perfektibiltät übriggeblieben, verbunden mit der Hoffnung durch neueste Technik, Medizin und Kommunikationsmedien ideale Lebensbedingungen herstellen zu können. Aber in postmoderner Zeit ist auch die Ernüchterung nach dem Scheitern der ideologischen Narrative von einem materialistischen Paradies auf Erden eingetreten. Es hat sich ein neuer Nihilismus etabliert, der Menschen in eine totale Verzweiflung stürzt und sie im Hass auf alles Gute und Schöne erstarren lässt.
Für den christlichen Glauben steht die Überzeugung, dass in Christus die Fülle der Zeit verwirklicht ist und dass darum die Neuheit, die mit ihm in die Welt gekommen ist, durch nichts und niemanden mehr überboten werden kann, wie schon im 2. Jahrhundert n. Chr. der bedeutende Theologe Irenäus von Lyon gegen die Gnostiker aller Zeiten feststellte. Wer an Gottes Heilswillen gegenüber allen Menschen glaubt, ist darum innerlich gelassen. Er braucht sich nicht selbst neu zu erfinden oder sich von der Schalmeien der selbsternannten Erlöser der Menschheit betören zu lassen.
Der Beginn eines neuen Jahres am ersten Januar lässt uns nicht an den doppelgesichtigen Janus aus der römischen Göttermythologie denken, sondern an ianua, die Tür, durch die wir eintreten in den Raum und die Zeit des Heils. Christus nennt sich selbst die Tür zum neuen Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Wir brauchen nicht die unberechenbaren Launen des Schicksals fatalistisch oder titanisch zu beschwören. Die Zeit ist nicht der Götze Chronos, der seine eigenen Kinder frisst, in dem also die vergehende Zeit uns aufbraucht. Unsere Zeit steht biblisch gesprochen in den Händen Gottes, unseres Schöpfers, der in Christus will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (vgl. 1Timotheus 2,4).
Am Anfang des Neuen Jahres sollen unseren guten Wünsche füreinander eigentlich Gebete sein um genügend Gottvertrauen und um die Bereitschaft, im Tun und Leiden innerlich zu wachsen und zu reifen, wenn auch der äußere Mensch mit fortschreitendem Alter aufgezehrt wird bis zum Tod. Aber nichts von dem, was wir positiv geleistet haben, all das Gute, das wir getan haben, wird nicht vom Zahn der Zeit zermalmt oder in einer leeren Unendlichkeit dem ewigen Vergessen überlassen. Für uns Christen bedeutet der Tod nicht das Ende, sondern der Anfang des Lebens ohne Ende, der Liebe ohne Verlust, des Wiedersehens mit allen, die uns nahestanden und das Sehen Gottes von Angesicht zu Angesicht und damit die Vollendung unserer Person in Seiner Ewigkeit.
So wünsche ich als Geistlicher und Seelsorger allen, die diese Betrachtung mitvollziehen, zu Beginn des Jahres des Heils 2023 Gottvertrauen und jenseits falscher Selbstzweifel volle Freude über das eigene Dasein.