In ihrer Großerzählung «Die Postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie» sowie in zahlreichen Interviews verspricht Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Berliner Humboldt-Universität und Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), einen «normsetzenden Verweis auf eine gesellschaftspolitisch anzustrebende Entwicklung» sowie eine «über das Migrantische hinausweisende Utopie der Gleichheit, die außerhalb der Herkunft» verhandelt werde.
Ziel des neuen Gesellschaftsnarrativs sei die Schaffung «eines gemeinsamen Raums der Diversität jenseits von Abstammung», sowie eine «politisch umsetzbare Vision einer wirklich pluralen Demokratie». Eine «postmigrantische Allianz» müsse für gleiche Positionen für alle in der Gesellschaft kämpfen. Die Illusion, man könne die Kämpfe um Repräsentation von Geschlecht und Herkunft von den Klassenkämpfen trennen, sei der «Trugschluss des Populismus».
«Integration für alle»
Die kritische Einstellung der autochthonen Bevölkerung zur muslimischen Minderheit gründe auf einem «normativen Paradoxon», das aus dem Widerspruch zwischen der wachsenden emotionalen Ablehnung der durch Zuwanderung ausgelösten sozialen Veränderungen und der moralisch gebotenen Akzeptanz migrantischer Selbstentfaltung erwachse.
Deutschland müsse auf sein Versprechen verpflichtet werden, ein Einwanderungsland zu sein. Ziel sei eine migrationsoffene nationale Identität, die sich «mittelfristig in ein kollektives Gedächtnis einspeist», wobei sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber einer «sich pluralisierenden und heterogenisierenden Gesellschaft» vor allem in den Islam- und Muslimbildern ausdrücke.
Wer die «gelebte deutsche Pluralität» nicht akzeptiere und seine Vorstellungen von Sicherheit und Stabilität an homogene Strukturen binde, leide vermutlich unter «Pluralitätsabwehr» und «Ambiguitätsintoleranz». Um den Leuten die revisionistische Sehnsucht nach Eindeutigkeiten auszutreiben, schlägt Foroutan allen Ernstes ein «Reeducation-Programm» vor, wie es die Alliierten nach 1945 den mehrheitlich antisemitischen Deutschen angedeihen ließen.
Mittels moralisch-normativer Leitbilder müssten die künstlichen Trennlinien zwischen Migranten und Nichtmigranten eingerissen, die Migrationspolitik im Rahmen einer linken Gesellschaftsperspektive neu definiert, Konflikte im Umgang mit Religionen, (institutionellem) Rassismus, Gender, sexueller Selbstbestimmung, besonders aber mit Schicht und Klasse, eliminiert werden. Migration sei zur sozialen Frage des 21. Jahrhunderts geworden.
Weil die Gesellschaft nicht an der Migration scheitere, sondern am Problem sozialer Gleichheit, sei die Systemfrage virulenter als jemals zuvor. Es gehe in der pluralen Demokratie nicht um Integrationspolitik für Migranten, sondern um teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle. Notwendig sei ein Integrationsvertrag für alle, der nicht Herkunft, sondern soziale Ungleichheit adressiere.
Anomie
Im «Postmigrantismus» wird erkennbar die Ideologie einer «inklusiven Gesellschaft» wiederbelebt, in der jede exkludierende Gegenüberstellung von «Wir» und «Ihr» überwunden, alle sozial konstruierten Unterschiede zwischen Menschen und ihren Überzeugungen eingeebnet sind. Über das Konzept Integration laufen Aktivitäten zum Totalumbau der liberalen Gesellschaft.
Nun führen moderne Gesellschaften gegen Diskriminierung und Unterdrückung von Minderheiten in der Regel das Prinzip «Solidarität» ins Feld. Durch Zuwanderung werden die Strukturen einer integrierten Zivilgesellschaft, in denen sich spezifische Formen wechselseitiger Anerkennung und Solidarität ausbilden, jedoch stark belastet.
Sicher ist hingegen, dass dauerhafte (Selbst-)Distanzierung und Segregation den sozialen Zusammenhalt – und die dafür notwendigen Ressourcen Vertrauen und verbindendes Sozialkapital – erodieren lassen und die Wiederbelebung kultureller Traditionen fördern. Gemäss empirischer Studien lassen sich Flüchtlinge überwiegend in sozialen Brennpunkten nieder, wenn es nicht gelingt, sie sozial gerecht zu verteilen. Und wer wegen geringer Qualifikationen strukturell marginal bleibt, neigt zum Rückzug in die eigene kulturelle Identität.
Während Hochqualifizierte, die ihr mitgebrachtes kulturelles Kapital auf dem Arbeitsmarkt der Einwanderungsländer nicht verwerten können und in Tätigkeiten unter ihrem Qualifikationsniveau verharren, oft anomische Spannungen zwischen Erwartungen und Wirklichkeit aufweisen, die sich in «fundamentalistischen Komplexitätsreduktionen» bzw. Strafaktionen im Aufnahmeland entladen.
Strukturelle Ignoranz
Als Gegenmittel empfiehlt die Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen, Serap Güler (CDU), eine Integrationspolitik, die in Symbole zur «Identifikation mit dem Deutschsein» und Erzählungen von der «Aufsteigerrepublik» investiert. Analog zum «American Way of Life» oder zu «Stars and Stripes» lasse sich das Zugehörigkeitsgefühl von Einwanderern auch in Deutschland über solche nationalen Symbole steigern.
Zu befürchten steht indes, daß eine forcierte Stimulierung patriotischer Gefühle angesichts der wachsenden Statuskluft zwischen den Gruppen die Entstehung neuer Formen von «Gegenidentifikation», Selbstsegregation und Verschanzung in der eigenen kollektiven Identität begünstigt – gerade in Deutschland, wo im Vergleich der OECD-Einwanderungsländer die größten Statusunterschiede zwischen Einheimischen und Migranten bestehen.
Diese Gefahr wird ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass die deutschen Leitmedien das virulente Thema Migration mehrheitlich wie ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik behandeln. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung zum Medienverhalten in der Flüchtlingskrise kam zum Schluss, dass die meinungsführenden Medien sich immer weiter von der konkreten Erfahrungsebene der Bürgergesellschaft entfernt haben.
Die Studie konstatiert überdies eine Gleichschaltung der Presse durch Bildung eines thematischen Kontextes, der eine bestimmte politische Einstellung zum Common Sense erhebt – etwa die «offene Gesellschaft» oder die «europäische Solidarität». Die journalistische Vermittlung des Flüchtlingsthemas ertöne in auffälligem Gleichklang zwischen Bundespolitikern, Leitmedien, Lokalpresse und Merkels Migrationspolitik. Die Willkommenskultur sei von allen herbeigeredet und gegen Kritik immunisiert worden.
Fazit
Eine Integrationspolitik muss scheitern, die moralische Mängel und Psychopathologien der Aufnahmegesellschaft für migrationsbezogene Probleme verantwortlich macht, während die Verstetigung struktureller Segregation und kultureller Separation in Teufelskreise sozialer Exklusion führt, in denen die wirkliche Gesellschaft sich immer weiter von der Utopie einer pluralen Demokratie entfernt. Das ist das eigentliche Paradoxon der «Einwanderungsgesellschaft».
Thomas A. Becker, ehemaliger Forschungsleiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, Berater und Autor.