Genf, Palais des Nations, Gebäude der Vereinten Nationen: 30. Oktober 2018. Der Ausschuss für Menschenrechte tagt. Auf der Agenda steht „Kommentar 36“. Die unabhängigen, von 18 Ländern nominierten Experten, die den Rat bilden, haben das Dokument über mehrere Jahre verfasst, Meinungen aus der Zivilgesellschaft und von politischer Seite eingeholt und sind schließlich zum Abschluss gekommen. Eine Abstimmung über das finale Schriftstück gibt es keine.
Der UN-Menschenrechtsausschuss ist damit beauftragt, im Konsens Analysen und Kommentare zu den internationalen Menschenrechtsverträgen zu publizieren. Die Ergebnisse sind nicht bindend, aber in der Regel übernehmen die meisten Mitgliedsländer der Vereinten Nationen, also so gut wie alle Staaten dieser Welt, die Empfehlungen des Ausschusses. Oft werden sie von internationalen und nationalen Höchstgerichten als Grundlage für entscheidende Urteile zitiert. Ihr Einfluss ist weitreichend, obwohl sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden.
„Wir wissen, dass einige Experten des Ausschusses gegen diesen Kommentar 36 sind. Aber er wurde durchgepeitscht. Ein Mitglied trat deshalb sogar zurück“, erklärt ein Anwalt, der für eine Nichtregierungsorganisation die Arbeit des Ausschusses in Genf beobachtet, und lieber nicht öffentlich mit Namen genannt werden möchte. Es werde mit harten Bandagen gespielt, denn es geht um viel. Aufgabe des Ausschusses ist es nämlich, die Menschenrechte und die damit verbundenen internationalen Verträge laufend auf ihre Effektivität zu überprüfen. Kommentar 36 fokussiert auf das fundamentalste aller Rechte: das unumstößliche Recht jedes Menschen auf Leben.
Menschenrechte Gegenstand erbitterter ideologischer Kämpfe
Seit ihrer Ratifizierung im Jahr 1948 war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Gegenstand erbitterter ideologischer Kämpfe. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hatten vor Augen geführt, dass ein allgemeines Verständnis von moralisch Gut oder Böse, ein Schutz der menschlichen Würde, für einen Fortbestand der Menschheit nötig ist. Dieser Konsens musste jenseits religiöser und ideologischer Überzeugungen gefunden werden, sollte er doch für alle Gesellschaften, Religionen und Länder gelten. Während gerade seitens christlicher Kirchen Kritik an dem Dokument geübt wurde, entwickelten sich die Grundrechte zu einer wichtigen Basis, vor allem auch christliche Werte und Minderheiten in einer weitgehend säkularisierten westlichen Welt zu verteidigen.
Im Kommentar 36, der am 30. Oktober angenommen wurde, bestärkt der Menschenrechtsausschuss die Bedeutung dieses Rechtes. Während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aber das Leben in jedem Stadium, also auch vor der Geburt schützt, entschieden sich die 18 Experten nun, dieses Recht zu relativieren. Den jahrzehntelang wiederholten Parolen der Abtreibungsindustrie folgend, verfasste der Ausschuss ein langes Statement zum Recht des ungeborenen Lebens und argumentierte, dass Staaten nicht dazu gezwungen werden könnten, das Recht auf Leben von Ungeborenen anzuerkennen. Im Gegenteil, das Recht auf Leben Ungeborener gelte nur, insofern es nicht das Recht von Frauen auf Abtreibung beschränkte.
Die Menschenrechte kennen kein „Recht“ auf Abtreibung. Durch diesen Kommentar wird versucht, solch ein Recht künstlich zu etablieren. „Die meisten Staaten interpretieren das Recht auf Leben als ein Recht, das allen Menschen zusteht, vor und nach der Geburt“, sagt Kelsey Zorzi, Menschenrechtsanwältin, die für ADF International an der UNO in New York arbeitet.
Erklärung von Kairo als Beispiel für Umdeutung der Menschenrechte
Aber das Recht auf Leben ist nicht das einzige Fallbeispiel, wo versucht wird, Menschenrechte einzuschränken oder umzudeuten. Ein weiteres prominentes Exempel ist die Erklärung von Kairo, die eine Art Ergänzung der Menschenrechtserklärung seitens der sogenannten Islamischen Konferenz darstellt. 45 der 57 Außenminister der Mitgliedsländer unterschrieben dieses Dokument im August 1990. Grundsätzlich erkennen damit die islamischen Länder die Menschenrechte an, aber nur, insofern sie mit der „Scharia“, dem islamischen Gesetz, übereinstimmen. Beispielsweise liest man dann im Artikel zwei: „Das Leben ist ein Geschenk Gottes, und das Recht auf Leben wird jedem Menschen garantiert. Es ist die Pflicht des Einzelnen, der Gesellschaft und der Staaten, dieses Recht vor Verletzung zu schützen, und es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt.“ Damit steht die Scharia über den Menschenrechten und führt deren Universalitätsanspruch ad absurdum.
Saudi Arabien, ein weiteres Land, das maßgeblich den Menschenrechtsrat beeinflusst, geriet ebenfalls in die weltweite mediale Aufmerksamkeit, weil von oberster Regierungsstelle die brutale Ermordung eines Journalisten in der saudischen Botschaft in der Türkei angeordnet wurde. Ein bewusster Verstoß gegen eine Reihe von Menschenrechten. Konsequenzen gab es dennoch kaum. Zu wichtig ist der Handel und das wirtschaftliche Einvernehmen mit der Öldynastie.
Selbiges gilt für Indien. Während die Übergriffe auf religiöse Minderheiten wie etwa Christen und Muslime durch fanatische Hindu-Fundamentalisten zunehmen, wird die problematische Rolle der regierenden BJP-Fraktion kaum thematisiert. Allen voran ist es die Europäische Union, die mit Premierminister Modi lieber über Handelsabkommen als Menschenrechte spricht. Auch Indien hat das Menschenrecht auf Religionsfreiheit in seiner Verfassung verankert. Dennoch entscheiden sich jedes Jahr neue Bundesstaaten, sogenannte Anti-Konversionsgesetze einzuführen. Darin wird der Übertritt vom Hinduismus zu einer anderen Religion stark reglementiert. Dem Hinduismus beizutreten ist für gewöhnlich aber kein Problem.
Auch das Recht der Eltern als Erzieher ihrer Kinder ist hart umkämpft
Eng verknüpft mit Religion und den damit verbundenen Moralvorstellungen ist ein weiteres Feld, das an den Vereinten Nationen hart umkämpft ist: die Erziehung. Während die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ganz klar die Eltern als die ersten und wichtigsten Erzieher ihrer Kinder sieht, gibt es ständige Versuche, dieses Recht aufzuweichen. Besonders dann, wenn es um den Bereich der Sexualität geht. 2010 stellte der UN-Sonderberichterstatter für Erziehung ein neues Aufklärungsprogramm vor, das in allen Ländern ausgerollt werden soll: Befriedigung und Genuss der Sexualität sollten eines der Ziele für den Aufklärungsunterricht sein, Schuldgefühle aufgrund erotischer Gedanken, die Sexualität nur auf die Fortpflanzung reduzierten, müssten abgeschafft werden.
Am 10. Dezember beging die Welt das siebzigste Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie hat internationales Recht tatsächlich entscheidend beeinflusst und viel Gutes bewirkt. Noch immer stehen judäo-christliche Grundwerte als Fundament für die entscheidenden Rechte, die Leben, Familie und Glauben schützen. Aber sie sind ein zerbrechliches Gut. Und viele versuchen, diese Rechte für sich zu vereinnahmen. Vielleicht ist das Jubiläum deshalb viel mehr als ein Grund zu feiern, vor allem eine Mahnung an uns alle, unsere verbrieften Grundrechte nicht als selbstverständlich abzutun.
Andreas Thonhauser
Der Autor leitet die Kommunikationsabteilung der Menschenrechtsorganisation ADF International in Wien. Sein Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken für die freundliche Genehmigung.
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